[readmodes show=“full,short,easy,jump,podcast,note“ default=“full“]
[rm_short]
Warten auf Therapie: Warum die Psychotherapie-Reform von 2017 das Versorgungsproblem nicht gelöst hat
1. Die Suche, die niemand sieht
Wer in Deutschland einen Psychotherapieplatz sucht, betritt ein System, das von außen funktional aussieht und von innen oft an Kafka erinnert. Die Zahlen klingen beruhigend: Über 34.000 Psychotherapeut:innen mit Kassenzulassung, Versorgungsgrade von über 100 Prozent in vielen Regionen, Terminservicestellen, die in 99 Prozent der Fälle ihre Fristen einhalten. Die Realität sieht anders aus. Eine fiktive, aber typische Patientin – nennen wir sie Frau M. – ruft dreiundzwanzig Praxen an, bevor sie einen Termin für eine Sprechstunde bekommt. Sechs Wochen wartet sie auf diesen Termin. Nach fünfzig Minuten Gespräch erfährt sie, dass sie eine Depression hat und eine Therapie braucht – und dass die Therapeutin keinen Platz hat. Frau M. geht mit einem Formular in der Hand und dem Auftrag, von vorne anzufangen. Diese Erfahrung ist kein Einzelfall. Studien der Bundespsychotherapeutenkammer zeigen, dass gut die Hälfte aller Patient:innen nach der Sprechstunde selbst weitersuchen muss. Die Reform von 2017 hat den Eingang neu organisiert, aber den Raum dahinter nicht vergrößert.
2. Die Reform: Zugang ohne Kapazität
Die Psychotherapie-Richtlinienreform von 2017 führte drei neue Instrumente ein: die psychotherapeutische Sprechstunde als verpflichtenden Erstkontakt, die Akutbehandlung für Krisenintervention und die Terminservicestellen zur Vermittlung. Der erklärte Zweck war, den Zugang zur Psychotherapie zu verbessern und Wartezeiten zu reduzieren. Das Problem: Alle drei Instrumente sind Zugangsinstrumente, keine Kapazitätsinstrumente. Sie verteilen vorhandene Ressourcen um, aber sie schaffen keine neuen Therapieplätze. Die Sprechstundenpflicht bindet sogar Behandlungszeit: Die Bundespsychotherapeutenkammer berichtete 2018, dass ein Drittel der Therapeut:innen seit der Reform im Schnitt 2,6 Therapiestunden pro Woche weniger anbietet, weil die Zeit nun in Sprechstunden fließt. Der BARMER Arztreport 2020 zeigt die paradoxe Konsequenz: Patient:innen erreichen zwar schneller einen Erstkontakt (im Schnitt nach 4,5 Tagen), aber der Beginn der eigentlichen Therapie verschob sich von Tag 83 vor der Reform auf Tag 111 danach. Der Flaschenhals hat sich nicht geweitet – er hat sich nur verlagert.
3. Das Messproblem: Welche Wartezeit zählt?
Ein Grund für die Diskrepanz zwischen beruhigenden Statistiken und frustrierender Praxisrealität liegt in der Frage, was überhaupt als „Wartezeit“ gemessen wird. Die Bundespsychotherapeutenkammer erhebt per Befragung die Zeit von der ersten Anfrage bis zum Therapiebeginn und kommt auf durchschnittlich knapp 20 Wochen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen messen anhand von Abrechnungsdaten die Zeit von der Sprechstunde bis zur Therapie – die Suchphase davor erscheint in diesen Daten nicht. Der Ersatzkassenverband wiederum analysiert nur die Intervalle zwischen den einzelnen Behandlungsmodulen und kommt auf Werte von 12 bis 15 Tagen, was die Bundespsychotherapeutenkammer als „Salamitaktik“ kritisiert hat. Das Problem ist nicht, dass jemand lügt – alle Zahlen sind methodisch korrekt erhoben. Das Problem ist, dass verschiedene Akteure verschiedene Fragen beantworten. Wer nur Teilstrecken misst, kann moderate Werte ausweisen, während die Gesamtstrecke für Patient:innen Monate beträgt. Hinzu kommt eine unsichtbare Population: Menschen, die die Suche abbrechen, bevor sie im System ankommen, tauchen in keiner Statistik auf.
4. Die Bilanz: Wer wartet wie lange?
Die empirischen Befunde aus verschiedenen Quellen konvergieren bei aller methodischen Unterschiedlichkeit auf einen Kernbefund: Die durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz liegt bei etwa 140 Tagen oder knapp 20 Wochen. Diese Zahl ist seit der Reform nicht gesunken, sondern eher gestiegen. Die PT-REFORM-Studie zeigt einen Anstieg der medianen Wartezeit von 15 auf 19 Wochen. Regional variieren die Zahlen erheblich: In Berlin warten Patient:innen im Schnitt 13 Wochen, im Ruhrgebiet fast 30 Wochen. Innerhalb Bayerns schwanken die Werte zwischen 82 Tagen in München und über 130 Tagen in Oberfranken. Besonders problematisch ist die Situation für Patient:innen mit komplexen Störungsbildern. Obwohl die Reform ausdrücklich „akut und schwer erkrankte Patientengruppen“ besser erreichen sollte, zeigt die ES-RiP-Evaluation, dass die „Zugangsbarrieren kaum reduziert“ wurden. In einem System knapper Plätze entsteht ein impliziter Selektionsdruck, der diejenigen benachteiligt, die am meisten Hilfe brauchen.
5. Reformperspektiven: Was sich ändern müsste
Als niedergelassener Psychotherapeut erlebe ich diese Versorgungslücke täglich. Die Schlussfolgerungen, die sich aus den verfügbaren Daten ergeben, sind frustrierend klar. Erstens braucht es Transparenz über den richtigen Endpunkt: Nicht Sprechstundentermine oder Vermittlungsquoten sollten berichtet werden, sondern die Zeit von der ersten Anfrage bis zum Therapiebeginn – als Gesamtstrecke, nicht in Teilabschnitten. Zweitens muss Kapazitätsplanung auf Vollzeitäquivalente und tatsächlich verfügbare Therapiestunden umgestellt werden, statt auf Kopfzahlen und Sitze, die wenig über reale Behandlungskapazität aussagen. Drittens muss das System lernen, mit Komplexität umzugehen: Wenn schwere Fälle systematisch mehr Zeit brauchen, muss das strukturell und vergütungspolitisch abgebildet werden, sonst wandern die Schwerstkranken an den Rand des Systems. Die Reform von 2017 war kein Fehler, aber sie hat die entscheidende Frage nicht beantwortet: Wann beginnt meine Behandlung? Solange Statistiken Erstkontakte messen statt Therapiebeginne, werden sie beruhigen können, während Patient:innen warten. Eine ehrliche Versorgungspolitik müsste messen, was zählt, Kapazität schaffen statt nur Zugänge, und sicherstellen, dass Menschen Hilfe bekommen – nicht irgendwann, sondern dann, wenn sie sie brauchen.
[/rm_short]
[rm_easy]
Warten auf Therapie: Warum es so schwer ist, einen Therapie-Platz zu finden
1. Die schwierige Suche
Viele Menschen in Deutschland suchen einen Therapie-Platz. Sie brauchen Hilfe für ihre Seele. Aber einen Platz zu finden ist sehr schwer.
Ein Beispiel: Eine Frau ruft bei 23 Praxen an. Erst dann bekommt sie einen Termin für ein erstes Gespräch. Sie wartet sechs Wochen auf diesen Termin. Im Gespräch sagt die Therapeutin: Sie haben eine Depression. Sie brauchen eine Therapie. Aber ich habe keinen Platz für Sie.
Die Frau muss wieder von vorne anfangen. Das passiert vielen Menschen. Mehr als die Hälfte aller Patienten muss nach dem ersten Gespräch weiter suchen.
2. Die Reform hat nicht genug verändert
Im Jahr 2017 gab es eine Reform. Die Politik wollte die Situation verbessern. Es gibt jetzt neue Regeln. Zum Beispiel: Jeder Patient bekommt zuerst ein kurzes Gespräch. Das heißt Sprech-Stunde. Und es gibt Stellen, die Termine vermitteln.
Aber diese neuen Regeln schaffen keine neuen Therapie-Plätze. Sie verteilen nur die vorhandenen Plätze anders. Die Therapeuten haben jetzt weniger Zeit für Therapien. Denn sie müssen auch die Sprech-Stunden machen. Das Ergebnis: Die Menschen kommen schneller zum ersten Gespräch. Aber sie warten länger auf die eigentliche Therapie.
3. Verschiedene Zahlen, verschiedene Wahrheiten
Es gibt verschiedene Berichte über die Warte-Zeiten. Manche sagen: Die Warte-Zeit ist nur 12 Tage. Andere sagen: Die Warte-Zeit ist 20 Wochen.
Beide Zahlen stimmen. Aber sie messen verschiedene Dinge. Die kurze Zeit misst nur einen kleinen Teil des Weges. Die lange Zeit misst den ganzen Weg. Vom ersten Anruf bis zum Start der Therapie.
Für die Patienten zählt der ganze Weg. Und der dauert im Durchschnitt etwa 5 Monate.
4. Manche Menschen warten noch länger
Die Warte-Zeit ist nicht überall gleich. In manchen Städten wartet man 13 Wochen. In anderen Gegenden wartet man fast 30 Wochen. Auf dem Land ist es oft schwieriger als in der Stadt.
Menschen mit schweren Erkrankungen haben es besonders schwer. Sie brauchen mehr Hilfe. Aber sie finden oft schwerer einen Platz. Das ist ein großes Problem. Die Menschen, die am meisten Hilfe brauchen, bekommen sie am schwersten.
5. Was sich ändern muss
Drei Dinge müssen sich ändern:
Erstens: Wir müssen die richtige Warte-Zeit messen. Nicht nur Teile davon. Sondern die ganze Zeit vom ersten Anruf bis zum Therapie-Start.
Zweitens: Wir brauchen mehr Therapie-Plätze. Nicht nur mehr Therapeuten auf dem Papier. Sondern mehr Zeit für echte Therapien.
Drittens: Menschen mit schweren Erkrankungen brauchen bessere Hilfe. Das System muss für sie besser funktionieren.
Die Reform von 2017 war ein Anfang. Aber sie hat das Problem nicht gelöst. Viele Menschen warten immer noch zu lange auf Hilfe.
Wichtig: Geben Sie nicht auf!
Die Suche ist schwer. Aber die meisten Menschen finden am Ende einen Platz. Bleiben Sie dran.
Diese Stellen können helfen:
- Krisen-Dienst Bayern: 0800 655 3000 (kostenlos, rund um die Uhr)
- Telefon-Seelsorge: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (kostenlos, rund um die Uhr)
- Bei Lebens-Gefahr: Rufen Sie 112 an
Fragen Sie auch bei Ausbildungs-Instituten nach. Dort gibt es manchmal schneller Plätze. Und fragen Sie Ihren Haus-Arzt um Hilfe bei der Suche.
[/rm_easy]
[/readmodes]
Einleitung: Die Suche
Wer eine Psychotherapie sucht, sucht meist nicht aus einer Position der Stärke. Die Entscheidung, sich Hilfe zu holen, fällt selten am Anfang einer Krise, wenn die Ressourcen noch da wären. Sie fällt später – wenn der Schlaf seit Wochen nicht mehr kommt, wenn der Gang zur Arbeit zur Überwindung wird, wenn das Aufstehen selbst schon ein Kraftakt ist. Und dann soll man telefonieren. Fremde Menschen anrufen, auf Anrufbeantworter sprechen, den eigenen Namen hinterlassen und sagen, worum es geht. Für jemanden, der gerade mit Antriebslosigkeit, Scham oder dem Gefühl kämpft, ohnehin nicht durchzukommen, ist das keine Kleinigkeit. Es ist eine Zumutung, die das System stillschweigend voraussetzt.
Nehmen wir eine Frau, Mitte dreißig, nennen wir sie Frau M. Seit Wochen liegt sie nachts wach, tagsüber fehlt die Energie, bei der Arbeit häufen sich Fehler. Irgendwann sitzt sie beim Hausarzt, der ihr zuhört, ein paar Fragen stellt und schließlich sagt: Das klingt nach einer depressiven Episode, Sie sollten sich um eine Psychotherapie kümmern. Er erklärt ihr, dass sie dafür keine Überweisung braucht, dass sie direkt bei Psychotherapeut:innen anfragen kann. Er nennt ihr die Anlaufstellen: die Therapeutensuche der Psychotherapeutenkammer, die Arztsuche der Kassenärztlichen Vereinigung, Portale wie therapie.de. Vielleicht drückt er ihr einen Ausdruck in die Hand oder verweist auf einen Wegweiser im Netz, der die verschiedenen Wege erklärt (vgl. praxis-lampersberger.de/psychotherapeutinnen-suche). Der Hausarzt ist informiert, er weiß, dass die Terminservicestelle allein das Problem nicht löst. Er schickt sie nicht ins Leere. Aber er schickt sie in eine Suche, deren Ausmaß sie noch nicht kennt.
Frau M. setzt sich abends an den Laptop, öffnet eines der Portale, tippt ihre Postleitzahl ein, wählt „Kassenzulassung“ – und bekommt eine Liste. Zwanzig, dreißig Namen, das sieht nach Auswahl aus. Sie beginnt zu telefonieren. Die erste Praxis: Anrufbeantworter, man möge Name und Nummer hinterlassen, Rückruf innerhalb von zwei Wochen. Sie spricht drauf, obwohl sie ihre eigene Stimme kaum erträgt gerade. Die zweite Praxis: Warteliste geschlossen, keine Aufnahme möglich. Die dritte: Eine freundliche Stimme, ja, ein Termin für eine psychotherapeutische Sprechstunde wäre in sechs Wochen möglich – aber nur zur Abklärung, ein Therapieplatz sei derzeit nicht frei. Frau M. nimmt den Termin. Sie wartet sechs Wochen. Im Erstgespräch bestätigt die Therapeutin die Verdachtsdiagnose und empfiehlt eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Dann fällt der Satz, den viele Betroffene kennen: „Bei mir ist leider kein Platz frei. Ich setze Sie auf die Warteliste, aber versuchen Sie es parallel bei Kolleginnen.“ Frau M. geht nach Hause mit einem Formular in der Tasche – dem PTV-11, der dokumentiert, dass sie eine Behandlung braucht – und steht wieder am Anfang. Nach der zwanzigsten Praxis, der vierten geschlossenen Warteliste und dem dritten freundlichen Nein legt sie das Telefon beiseite. Nicht, weil es ihr besser geht. Sondern weil sie nicht mehr kann.
Diese Geschichte ist fiktiv, aber sie ist nicht erfunden. Sie ist ein Komposit aus Praxisberichten, aus dem, was Psychotherapeut:innen täglich erleben, und aus dem, was empirische Studien seit Jahren dokumentieren: Gut die Hälfte der Patient:innen, denen in der Sprechstunde eine Richtlinientherapie empfohlen wird, muss sich anschließend selbst eine weiterbehandelnde Praxis suchen (Bundespsychotherapeutenkammer [BPtK], 2018). Die durchschnittliche Wartezeit bis zum Beginn einer Psychotherapie liegt laut Abrechnungsdaten bei über 140 Tagen (BPtK, 2022). Und die Hoffnung, die Reform von 2017 hätte diesen Engpass beseitigt, hat sich empirisch nicht bestätigt: In mehreren Studien zeigt sich keine Verkürzung der Wartezeit bis zum Behandlungsbeginn, teils sogar eine Verlängerung (Singer et al., 2022; Singer et al., 2023).
Das Irritierende daran ist, dass sich dieselbe Versorgungslandschaft, die Frau M. als Labyrinth erlebt, auch ganz anders erzählen lässt. In dieser anderen Erzählung gibt es über 34.000 niedergelassene Psychotherapeut:innen in Deutschland (Kassenärztliche Bundesvereinigung [KBV], 2024). Die Versorgungsgrade liegen in vielen Planungsbereichen über 100 Prozent – statistisch also Überversorgung. Die Terminservicestellen vermitteln jährlich Millionen von Kontakten und halten in 99 Prozent der Fälle die gesetzlichen Fristen ein (KBV, 2023). Und manche Analysen berichten von „moderaten Wartezeiten“ zwischen den einzelnen Behandlungsbausteinen, mit Medianwerten von 12 bis 15 Tagen (Verband der Ersatzkassen [vdek], 2023). Beide Erzählungen lassen sich belegen. Beide arbeiten mit Zahlen, mit Studien, mit offiziellen Quellen. Und doch beschreiben sie offenbar verschiedene Wirklichkeiten. Die Frage, die dieser Essay stellt, ist deshalb nicht: Wer hat recht? Sondern: Was wird eigentlich gemessen – und was nicht?
Die Antwort führt in das Zentrum eines gesundheitspolitischen Missverständnisses. „Versorgung“ ist in der deutschen Debatte kein einheitlicher Begriff. Für die Bedarfsplanung bedeutet Versorgung: Es gibt genügend Kassensitze, die Verhältniszahlen stimmen, Erstkontakte finden statt. Für Patient:innen bedeutet Versorgung etwas anderes: dass sie in angemessener Zeit eine Behandlung beginnen können, die ihnen hilft. Zwischen diesen beiden Definitionen klafft eine Lücke – und in dieser Lücke entsteht das Paradox, das diesen Essay trägt. Die Strukturreform der ambulanten Psychotherapie von 2017 hat den Zugang neu organisiert: psychotherapeutische Sprechstunde als verpflichtender Erstkontakt, Akutbehandlung für Krisen, verbesserte Erreichbarkeitsregeln. Das waren echte Fortschritte. Aber diese Fortschritte betreffen vor allem die Eingangstür – nicht die Kapazität dahinter. Die Reform kann frühere Kontakte ermöglichen, ohne dass daraus frühere Therapien folgen. Und genau das passiert: Der Erstkontakt wird schneller, der Therapiebeginn bleibt knapp. Der Engpass verschiebt sich vom Eingang in den Flur.
Die These, die hier entfaltet wird, lässt sich in einem Satz formulieren: Die Reform von 2017 hat die Sichtbarkeit von Versorgung erhöht, ohne die Substanz von Versorgung im gleichen Maß zu erweitern. Dadurch können Statistiken beruhigen, während Patient:innen warten. Das ist keine Polemik gegen die Reform. Es ist der Versuch, eine Diskrepanz zu verstehen, die sich nicht durch guten Willen auflösen lässt, sondern nur durch präzise Analyse dessen, was gemessen wird – und was im Messrahmen verschwindet.
Dieser Essay nimmt diese Diskrepanz auseinander. Er erklärt zunächst, wie die Reform den Zugang zur Psychotherapie architektonisch neu geordnet hat und warum Zugang nicht dasselbe ist wie Kapazität (Kapitel 2). Er zeigt dann, warum „Wartezeit“ in Deutschland kein einheitlicher Messwert ist und wie unterschiedliche Institutionen mit denselben Daten zu gegensätzlichen Schlussfolgerungen kommen können (Kapitel 3). Im Zentrum steht die empirische Bilanz: Was sagen die Studien tatsächlich über den Weg vom Erstkontakt zur Behandlung, wer wartet wie lange, und wer bleibt auf der Strecke? (Kapitel 4). Am Ende stehen Reformperspektiven, die aus dieser Analyse folgen (Kapitel 5). Der Anspruch ist dabei doppelt: verständlich für Leser:innen, die das System nicht von innen kennen – und präzise genug, um die Debatte nicht mit Schlagworten zu führen, sondern mit Argumenten.
Die Reform und ihre Architektur: Zugang ist nicht Kapazität
Um zu verstehen, warum Versorgungsstatistiken und Versorgungserleben so weit auseinanderklaffen können, muss man zunächst verstehen, was die Strukturreform von 2017 eigentlich verändert hat – und was sie unverändert gelassen hat. Denn die Reform war kein Kapazitätsausbau. Sie war eine Neuordnung des Eingangs. Sie hat den Weg in die ambulante Psychotherapie als standardisierten Pfad organisiert, mit definierten Stationen und Zeitfenstern. Aber sie hat die Zahl der Therapieplätze dahinter nicht im gleichen Maß erweitert. Genau in dieser Asymmetrie liegt der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Lage.
Vor der Reform war der Zugang zur ambulanten Psychotherapie weitgehend unstrukturiert. Patient:innen riefen Praxen an, landeten auf Wartelisten, bekamen irgendwann einen Termin für ein Erstgespräch, danach folgten probatorische Sitzungen, dann der Antrag bei der Krankenkasse, dann die Therapie. Der Prozess war intransparent, die Wartezeiten lang und schwer zu messen, weil es keinen definierten Startpunkt gab. Die Reform sollte das ändern. Sie führte die psychotherapeutische Sprechstunde als verpflichtenden Erstkontakt ein, schuf die Akutbehandlung als Instrument für Krisensituationen, standardisierte die probatorischen Sitzungen und stärkte die Terminservicestellen als Vermittlungsinstanz. Das Ziel war explizit formuliert: Patient:innen sollten „schneller“ in Kontakt mit psychotherapeutischer Expertise kommen, und dieser Kontakt sollte „besser steuern“ – also passgenauer klären, ob und welche Form von Behandlung notwendig ist (Gemeinsamer Bundesausschuss [G-BA], 2016).
Die psychotherapeutische Sprechstunde ist dabei das Herzstück der neuen Architektur. Sie ist keine Therapie, sondern ein diagnostisches und beratendes Format: In bis zu sechs Sitzungen à 25 Minuten soll geklärt werden, ob eine behandlungsbedürftige psychische Störung vorliegt, welches Verfahren geeignet wäre und welche weiteren Schritte angezeigt sind – sei es eine Richtlinientherapie, eine Akutbehandlung, eine Überweisung an andere Stellen oder auch die Feststellung, dass keine Behandlung nötig ist. Die Psychotherapie-Richtlinie macht den Status der Sprechstunde unmissverständlich klar: Sie ist keine Richtlinienpsychotherapie und wird nicht auf die Therapiekontingente angerechnet (G-BA, 2024). Sie erzeugt Sichtbarkeit, Diagnose, Einordnung – aber sie garantiert keinen Behandlungsplatz. Gleichzeitig sind Vertragspsychotherapeut:innen verpflichtet, Sprechstundenzeiten vorzuhalten: bei vollem Versorgungsauftrag in der Regel mindestens 100 Minuten pro Woche, bei hälftigem Versorgungsauftrag mindestens 50 Minuten; regionale Abweichungen sind möglich (G-BA, 2024). Die Sprechstunde ist damit nicht nur ein Angebot, sondern ein strukturell vorgehaltener Zeitblock, der in die Wochenplanung jeder Praxis eingebaut werden muss – unabhängig davon, ob dahinter Therapieplätze verfügbar sind.
Neben der Sprechstunde wurde die Akutbehandlung eingeführt, ein zeitlich begrenztes Format für Patient:innen in Krisensituationen. Sie umfasst bis zu 24 Sitzungen à 25 Minuten und soll akute Symptome stabilisieren, ohne den vollen Aufwand eines Richtlinienverfahrens. Auch hier gilt: Die Akutbehandlung ist keine Richtlinientherapie. Sie kann helfen, eine Krise zu überbrücken, aber sie ersetzt keine längerfristige Behandlung. Für Patient:innen, die nach einer Akutbehandlung weiterhin Therapie benötigen, beginnt die Suche danach oft von vorn. Die BPtK berichtete bereits ein Jahr nach der Reform, dass zwei von drei Psychotherapeut:innen die Weitervermittlung von Patient:innen nach Akutbehandlung als schwierig erleben (Bundespsychotherapeutenkammer [BPtK], 2018). Das Instrument funktioniert als Krisenintervention, aber es löst das Kapazitätsproblem nicht – es verschiebt es.
Die dritte Säule der Reform sind die Terminservicestellen (TSS) der Kassenärztlichen Vereinigungen. Sie sollen innerhalb gesetzlicher Fristen Termine vermitteln: für eine psychotherapeutische Sprechstunde innerhalb von vier Wochen, für Akutbehandlung bei entsprechender Dringlichkeit innerhalb von zwei Wochen. Die TSS hat ihre Vermittlungsleistung in den letzten Jahren erheblich ausgebaut. Im Evaluationsbericht für 2023 werden rund 2,21 Millionen Vermittlungsanfragen genannt, davon 31 Prozent im Bereich Psychotherapie; die Frist wurde in 99 Prozent der Fälle eingehalten (KBV, 2023). Diese Zahlen klingen nach einem funktionierenden System. Aber sie messen, was die TSS leisten kann: Termine vermitteln. Sie messen nicht, was danach passiert. Ein Termin für eine Sprechstunde ist kein Therapieplatz. Die TSS verteilt den Zugang zu einem knappen Gut – sie vermehrt das Gut nicht. Wenn die Termine knapp sind, kann Verteilung nur die Sichtbarkeit des Mangels verändern, nicht den Mangel selbst.
An dieser Stelle wird das architektonische Problem der Reform greifbar. Die neuen Instrumente – Sprechstunde, Akutbehandlung, TSS – sind allesamt Zugangsinstrumente. Sie organisieren den Eingang. Sie strukturieren, wer wann wo ankommt. Aber sie schaffen keine zusätzliche Behandlungszeit. Und hier liegt die stille Voraussetzung, die die Reform macht, ohne sie auszusprechen: Sie funktioniert nur dann als Versorgungsverbesserung, wenn hinter dem Eingang genügend Kapazität für kontinuierliche Therapie vorhanden ist. Ist diese Kapazität nicht da, entsteht ein paradoxer Effekt: Das System kann mehr Erstkontakte produzieren, mehr Menschen diagnostizieren, mehr Empfehlungen aussprechen – und dennoch nicht mehr Menschen behandeln. Der Engpass verschiebt sich nach hinten, vom unsichtbaren Vorfeld in den sichtbaren Prozess.
Empirisch wurde dieser Effekt früh sichtbar. Der BARMER Arztreport 2020 analysierte Routinedaten und stellte fest, dass die Reform zwar frühere, intensivere Erstkontakte ermöglichte, der Beginn der eigentlichen Richtlinientherapie sich aber nach hinten verschob: Die erste Richtlinientherapieeinheit wurde nach Erstkontakt im Jahr 2017 im Mittel erst am Tag 111 abgerechnet – gegenüber Tag 83 im Jahr 2015 (Grobe et al., 2020). Die Sprechstunde lag im Mittel sehr früh in der Behandlungsepisode (Tag 4,5), aber das half nichts, wenn danach keine Therapie folgte. Die Logik ist schlicht: Wenn der Erstkontakt früher stattfindet, die Therapiekapazität aber gleich bleibt, dehnt sich die Strecke dazwischen. Man kann Zugangserfolge ausweisen, während der Behandlungsbeginn stagniert oder sich sogar verzögert.
Hinzu kommt ein Effekt auf der Angebotsseite, der in der öffentlichen Debatte selten vorkommt: Die neuen Pflichtbausteine kosten Zeit – und diese Zeit fehlt an anderer Stelle. In der BPtK-Befragung von 2018 gab ein Drittel der Psychotherapeut:innen an, seit der Reform im Schnitt 2,6 Behandlungsstunden pro Woche weniger anzubieten, weil Arbeitszeit in Sprechstunde und Akutbehandlung gebunden ist (BPtK, 2018). Das ist kein Vorwurf an die Sprechstunde als Instrument – sie erfüllt eine sinnvolle diagnostische und beratende Funktion. Es ist ein Systemeffekt: Wenn zusätzliche Aufgaben eingeführt werden, ohne dass die Gesamtressource wächst, entsteht ein Nullsummenspiel. Die Reform verteilt Zeit um, sie erzeugt nicht mehr davon. Für Patient:innen wie Frau M. bedeutet das: Sie bekommt schneller ein Erstgespräch, vielleicht sogar eine Akutbehandlung – aber der Weg zur eigentlichen Therapie bleibt so lang wie zuvor, oder länger.
Die BPtK fasste diese Ambivalenz bereits 2018 in einem bemerkenswerten Doppelbefund zusammen: Einerseits werde die Sprechstunde als zentrale Anlauf- und Koordinationsstelle angenommen, andererseits seien die Wartezeiten bis zur Behandlung weiterhin „erheblich zu lang“, insbesondere außerhalb von Großstädten (BPtK, 2018). Das ist kein Widerspruch, sondern das Ergebnis einer Reform, die den Eingang reorganisiert hat, ohne den Flur dahinter zu verbreitern. Die Sprechstunde macht das System transparenter, sie macht es nicht größer. Und genau deshalb kann ein System zugleich „funktionieren“ – gemessen an Erstkontakten, Vermittlungsquoten, Fristeneinhaltung – und „versagen“ – gemessen an der Frage, wie viele Menschen in angemessener Zeit eine kontinuierliche Behandlung beginnen.
Für das Verständnis der folgenden Kapitel ist diese Unterscheidung fundamental: Zugang ist nicht Kapazität. Steuerung ist nicht Versorgung. Und ein Erstgespräch ist kein Therapieplatz. Die Reform hat die erste Stufe des Versorgungspfads standardisiert und beschleunigt. Aber die entscheidende Frage – wann beginnt die eigentliche Behandlung? – beantwortet sie nicht. Im nächsten Kapitel wird deshalb zu klären sein, wie diese Frage überhaupt gemessen wird, warum unterschiedliche Akteure zu so unterschiedlichen Antworten kommen und welche Definitionen von „Wartezeit“ in der deutschen Debatte konkurrieren.
Das Messproblem: Warum „Wartezeit“ kein einheitlicher Begriff ist
Wer in der deutschen Versorgungsdebatte über Wartezeiten spricht, spricht selten über dasselbe. Das ist kein rhetorischer Trick und kein Zeichen böser Absicht – es ist ein methodisches Grundproblem, das die gesamte Diskussion durchzieht. Es existiert in Deutschland keine einheitliche, kontinuierlich veröffentlichte Wartezeitstatistik, die den gesamten Pfad von der ersten Kontaktaufnahme bis zum Beginn einer Richtlinientherapie bundesweit abbildet (Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, 2022). Stattdessen gibt es verschiedene Datenquellen, verschiedene Erhebungsmethoden und – entscheidend – verschiedene Definitionen dessen, was überhaupt als „Wartezeit“ zählt. Je nachdem, welche Definition man wählt, entsteht ein beruhigendes oder ein alarmierendes Bild. Beide können methodisch korrekt sein. Beide können sich auf valide Daten stützen. Und dennoch beschreiben sie verschiedene Ausschnitte derselben Realität.
Das Problem beginnt mit einer einfachen Frage: Wo fängt die Wartezeit an? Für Patient:innen beginnt sie in der Regel nicht mit einem dokumentierten Datum, sondern mit einem Akt der Selbstüberwindung – dem ersten Anruf, der ersten E-Mail, dem ersten Versuch, überhaupt irgendwo durchzukommen. Diese Such- und Kontaktphase kann Tage dauern oder Wochen, sie kann von Absagen unterbrochen sein, von geschlossenen Wartelisten, von Anrufbeantwortern, die nie zurückrufen. In Abrechnungsdaten ist diese Phase fast unsichtbar, weil Abrechnungsdaten erst dann greifen, wenn eine Leistung stattgefunden hat. Wer zwanzig Praxen anruft, bevor er irgendwo einen Termin bekommt, hinterlässt in den Routinedaten keine Spur – nur der eine erfolgreiche Kontakt wird sichtbar. Das bedeutet: Jede Statistik, die auf Abrechnungsdaten basiert, misst die Wartezeit erst ab dem Moment, in dem jemand bereits „im System“ ist. Die vorgelagerte Suchphase, die für viele Betroffene die eigentlich zermürbende Erfahrung darstellt, bleibt im Dunkeln.
Diese Einschränkung ist kein Geheimnis – sie wird von den erhebenden Institutionen selbst benannt. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns etwa hat in einer Analyse von GKV-Abrechnungsdaten den Zeitraum zwischen erster psychotherapeutischer Sprechstunde und Beginn der Psychotherapie untersucht und für Patient:innen, die 2021 eine Therapie begannen, einen Median von 97 Tagen (13,9 Wochen) ermittelt, mit erheblichen regionalen Unterschieden – 82 Tage in München, teils über 130 Tage in Oberfranken und der Oberpfalz (Kassenärztliche Vereinigung Bayerns [KVB], 2023). Im selben Bericht wird explizit darauf hingewiesen, dass die Wartezeit bis zur ersten Sprechstunde in diesen Daten nicht erfasst ist (KVB, 2023). Die Statistik ist also ehrlich über ihre Grenzen – aber in der öffentlichen Kommunikation geht dieser Zusatz oft unter. Was bleibt, ist eine Zahl, die den Eindruck erweckt, man wisse, wie lange Patient:innen warten. Tatsächlich weiß man nur, wie lange diejenigen warten, die es bereits bis zur Sprechstunde geschafft haben.
Noch komplizierter wird es, wenn man die verschiedenen institutionellen Perspektiven nebeneinanderlegt. Denn nicht nur der Startpunkt variiert – auch die Definition dessen, was als „Wartezeit“ zählt und was als „Versorgung“, unterscheidet sich je nach Akteur. Mindestens drei Messlogiken konkurrieren in der deutschen Debatte, und jede von ihnen beantwortet eine andere Frage.
Die erste Logik arbeitet mit Befragungsdaten und misst den gesamten Zeitraum von der ersten Anfrage bis zum Therapiebeginn. Die BPtK-Wartezeitenstudie 2018 basiert auf einer großen Befragung von Psychotherapeut:innen, die Wartezeiten aus ihrer Praxisbeobachtung berichten. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen zwei Strecken: Die durchschnittliche Wartezeit auf einen ersten Termin in der Sprechstunde lag bei 5,7 Wochen; die durchschnittliche Wartezeit auf den Beginn einer Richtlinienpsychotherapie lag bei 19,9 Wochen, mit regionalen Unterschieden von 13,4 Wochen in Berlin bis über 29 Wochen im Ruhrgebiet (Bundespsychotherapeutenkammer [BPtK], 2018). Diese Doppelzahl macht das Reformproblem in einem Satz sichtbar: Der Erstkontakt ist nicht das Ende des Wartens, sondern oft der Beginn eines zweiten Wartens – diesmal innerhalb des Systems. Die Stärke dieser Perspektive liegt darin, dass sie den patientenrelevanten Endpunkt in den Blick nimmt: Wann beginnt die tatsächliche Behandlung? Ihre Schwäche liegt in der Methodik – Befragungen sind anfällig für Erinnerungsverzerrungen und bilden Praxiswahrnehmungen ab, nicht dokumentierte Einzelfälle.
Die zweite Logik arbeitet mit Abrechnungsdaten und misst definierte Teilstrecken innerhalb des Versorgungspfads. Die bereits zitierte KVB-Analyse ist ein Beispiel dafür: Sie erfasst den Zeitraum zwischen erster Sprechstunde und Therapiebeginn, also die Phase innerhalb des formalisierten Systems. Ein interessanter Zusatzbefund dieser Analyse: Innerhalb der knapp 14 Wochen Wartezeit hatten Patient:innen im Mittel sechs Kontakte – weitere Sprechstunden und probatorische Sitzungen, die der Diagnostik und Passungsprüfung dienen, aber noch keine Richtlinientherapie darstellen (KVB, 2023). Dieser Befund verweist auf eine Deutungsambivalenz, die für die gesamte Debatte zentral ist: Ein Teil der „Wartezeit“ ist prozessuale Vorphase, in der durchaus etwas passiert – aber aus Patient:innensicht bleibt es oft ein Warten, weil diese Kontakte nicht in eine verlässliche Behandlung übergehen. Ob man diese Phase als „bereits Versorgung“ oder als „noch Warten“ wertet, ist keine empirische, sondern eine normative Frage.
Die dritte Logik geht noch einen Schritt weiter und zerlegt die Wartezeit in Teilstrecken zwischen den einzelnen Modulen – mit der expliziten Annahme, dass Zeiten, in denen Sprechstunde oder Probatorik stattfinden, keine Wartezeit seien. Der Verband der Ersatzkassen (vdek) hat auf dieser Basis 1,2 Millionen Abrechnungsdatensätze analysiert und kommt zu auffallend kurzen Medianwerten: 12 Tage zwischen letzter Sprechstunde und erster probatorischer Sitzung, 15 Tage zwischen letzter Probatorik und erster Richtlinientherapie (vdek, 2023; Malinke, 2023). In der Darstellung wird zugleich darauf hingewiesen, dass ein kleinerer Anteil deutlich längere Wartezeiten aufweist – aber der Fokus liegt auf dem Median, also auf der besser versorgten Hälfte. Die BPtK hat diese Methodik scharf kritisiert und von „Salamitaktik“ gesprochen: Wenn man nur Teilabschnitte messe, Wartezeiten über 12 Monate unterschlage und sich auf die Medianwerte der am besten Versorgten konzentriere, verschleiere man den realen Handlungsbedarf (BPtK, 2023).
Diese drei Perspektiven sind nicht einfach „richtig“ oder „falsch“. Sie beantworten unterschiedliche Fragen: Wie schnell komme ich zu irgendeinem psychotherapeutischen Kontakt? Wie lange dauert es bis zur kontinuierlichen Richtlinientherapie? Wie viel Leerlauf liegt zwischen den einzelnen Versorgungsschritten? Je nachdem, welche Frage man stellt, erscheint das System in einem anderen Licht. Und genau hier liegt das politische Brisanzpotential: Wer ausschließlich die Teilstrecken zwischen Modulen betrachtet, kann plausibel von „moderaten Wartezeiten“ sprechen – und dabei übersehen, dass der eigentliche Engpass der Übergang in dauerhafte Therapieplätze bleibt. Wer ausschließlich den Gesamtzeitraum von Kontaktaufnahme bis Therapiebeginn betrachtet, sieht das Nadelöhr scharf – riskiert aber, die diagnostische und stabilisierende Funktion von Sprechstunde und Probatorik zu unterschätzen.
Ein weiterer blinder Fleck betrifft die Frage, wer überhaupt in den Statistiken auftaucht. Alle genannten Datenquellen basieren auf Personen, die irgendwann einen dokumentierten Kontakt hatten – sei es eine Sprechstunde, eine Probatorik oder eine begonnene Therapie. Wer aufgibt, bevor ein solcher Kontakt zustande kommt, wer nach Monaten der Suche resigniert, wer zwischen Wartelisten „verpufft“, erscheint in diesen Daten nicht. In der ES-RiP-Evaluation der Strukturreform gaben etwa 8 Prozent der Patient:innen mit Psychotherapiewunsch an, keinen Zugang zu einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten gefunden zu haben (Kruse et al., 2024). Das ist eine Zahl, die in Versorgungsstatistiken selten prominent auftaucht – aber sozialmedizinisch von erheblicher Bedeutung ist. Sie markiert jene Gruppe, bei der Unterversorgung nicht mehr als Wartezeit erscheint, sondern als Nicht-Versorgung.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht: Welche Zahl stimmt? Sondern: Welche Definition beschreibt die Versorgungsrealität, die wir politisch lösen wollen? Wenn das Ziel ist, dass Menschen mit psychischem Leiden in angemessener Zeit eine bedarfsgerechte Behandlung beginnen können, dann ist der patientenrelevante Endpunkt nicht der Erstkontakt, nicht die Sprechstunde, nicht die Probatorik – sondern der Beginn einer Therapie, die trägt. Genau diese Strecke aber ist in den beruhigenden Statistiken oft nicht enthalten, oder sie wird in Teilabschnitte zerlegt, die den Blick auf das Ganze verstellen. Im folgenden Kapitel wird deshalb die empirische Bilanz gezogen: Was sagen die Studien, wenn man sie nicht selektiv, sondern im Zusammenhang liest – und welches Bild der Versorgungslage entsteht daraus?
Die empirische Bilanz: Wer wartet wie lange – und wer bleibt auf der Strecke?
Die methodischen Fragen des vorigen Kapitels sind nicht akademischer Selbstzweck. Sie entscheiden darüber, welches Bild der Versorgungslage in der Öffentlichkeit entsteht – und welche politischen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Wenn man die empirische Evidenz nicht selektiv, sondern im Zusammenhang liest, ergibt sich ein Befund, der weder zur Entwarnung noch zur Panik einlädt, aber einen klaren Handlungsbedarf markiert: Die Reform von 2017 hat den Erstkontakt strukturiert und in Teilen beschleunigt, aber sie hat die Wartezeit bis zum Beginn einer Richtlinientherapie nicht verkürzt – in manchen Studien hat sie sich sogar verlängert. Der Engpass hat sich verschoben, nicht aufgelöst. Und er trifft bestimmte Patient:innengruppen härter als andere.
Die Grundbefunde: 140 Tage, 20 Wochen, keine Verkürzung
Die robusteste Zahl, die sich durch verschiedene Datenquellen zieht, ist eine Wartezeit von etwa vier bis fünf Monaten zwischen Erstkontakt und Therapiebeginn. Die BPtK berichtete 2022 auf Basis von KBV-Abrechnungsdaten, dass gesetzlich Versicherte, die im ersten Quartal 2019 ein Erstgespräch in der Sprechstunde hatten und bei denen eine Behandlung empfohlen wurde, im Durchschnitt 142,4 Tage auf den Therapiebeginn warteten (BPtK, 2022). Diese Zahl ist kein Ausreißer, sondern bestätigt frühere Befunde: Bereits in der BPtK-Wartezeitenstudie 2018, die auf Befragungen von Psychotherapeut:innen basierte, lag die durchschnittliche Wartezeit auf den Beginn einer Richtlinienpsychotherapie bei 19,9 Wochen – also knapp fünf Monaten (Bundespsychotherapeutenkammer [BPtK], 2018). Die Größenordnung ist über verschiedene Erhebungsmethoden hinweg stabil.
Besonders aufschlussreich sind Studien, die Daten vor und nach der Reform vergleichen. Singer et al. (2022) analysierten dokumentierte Praxisdaten aus mehreren Bundesländern und fanden keine Hinweise auf eine Reduktion der Wartezeit bis zum Erstgespräch – sie lag sowohl vor als auch nach der Reform bei durchschnittlich etwa drei Wochen. Die entscheidende Veränderung betraf die nachfolgende Strecke: Die Zeit zwischen Anmeldung und Behandlungsbeginn erhöhte sich von durchschnittlich 18 auf 20 Wochen (Singer et al., 2022). Der Befund ist in seiner Logik entscheidend, weil er das Narrativ der „verbesserten Zugänge“ differenziert: Der Erstkontakt wurde nicht schneller, aber auch nicht langsamer – dafür wurde die Strecke danach länger. Die Reform hat an der entscheidenden Stelle nicht geholfen.
Der Ergebnisbericht des Innovationsfondsprojekts PT-REFORM bestätigt und erweitert diesen Befund. In der Auswertung dokumentierter Praxisdaten blieb die Wartezeit zwischen Erstkontakt und Erstgespräch im Median bei zwei Wochen; eine Verkürzung zeigte sich nicht. Für den Zeitraum zwischen Erstkontakt und Behandlungsbeginn fand sich hingegen eine signifikante Verlängerung: Der Median stieg von 15 Wochen vor der Reform auf 19 Wochen nach der Reform. Differenziert nach Versorgungsform war der Effekt noch deutlicher: Die Wartezeit bis zum Beginn einer Richtlinientherapie stieg von Median 15 auf Median 21 Wochen (Singer et al., 2023). Das ist kein Randphänomen, sondern ein zentraler Befund. Wenn eine Reform explizit antritt, um Wartezeiten zu verkürzen, und die Wartezeit bis zur eigentlichen Behandlung danach länger ist als vorher, dann ist das Ausbleiben der Wirkung nicht Randbefund, sondern Hinweis auf eine strukturelle Fehlpassung zwischen Steuerungsinstrumenten und realer Kapazität.
Die Verschiebung nach hinten: Mehr Kontakte, aber nicht mehr Therapie
Ein Teil der Erklärung liegt in einem Mechanismus, den der BARMER Arztreport 2020 auf Basis von Routinedaten herausgearbeitet hat: Die Reform ermöglicht frühere, intensivere Erstkontakte – aber sie verschiebt den Beginn der eigentlichen Richtlinientherapie nach hinten. In der Auswertung lag die psychotherapeutische Sprechstunde nach Einführung (ab April 2017 abrechenbar) im Mittel am Tag 4,5 der Behandlungsepisode – also sehr früh. Die erste Richtlinientherapieeinheit wurde nach Erstkontakt im Jahr 2017 jedoch erst am Tag 111 abgerechnet, gegenüber Tag 83 im Jahr 2015 (Grobe et al., 2020). Der Befund illustriert die Paradoxie der Reform in Zahlen: Der Erstkontakt kommt früher, die Therapie später. Die Strecke dazwischen dehnt sich. In der Sprache der Versorgungsstatistik kann das als Erfolg erscheinen – mehr Menschen haben schneller einen Kontakt. In der Sprache der Versorgungsrealität ist es ein Problem, weil Kontakt nicht Behandlung ist.
Die KVB-Analyse für Bayern fügt diesem Bild einen weiteren Aspekt hinzu, der für die Interpretation zentral ist: Innerhalb der Wartezeit zwischen Sprechstunde und Therapiebeginn finden durchaus Kontakte statt. Im Mittel hatten Patient:innen in diesem Zeitraum sechs Termine – weitere Sprechstunden und probatorische Sitzungen, die der Diagnostik, Indikationsstellung und Passungsprüfung dienen (KVB, 2023). Diese Kontakte sind klinisch nicht sinnlos, sie können stabilisieren, orientieren, erste therapeutische Impulse setzen. Aber sie sind strukturell keine Richtlinientherapie. Sie sind eine Überbrückungsarchitektur, die entsteht, weil Therapieplätze knapp sind. Aus Patient:innensicht kann das wie ein Warten in Behandlung wirken – man ist irgendwie „dran“, aber nicht „drin“. Die Phase kann klinisch sinnvoll sein, wenn sie kurz ist; sie wird problematisch, wenn sie über Monate gestreckt werden muss, weil kein Platz entsteht.
Was passiert nach der Sprechstunde? Die Lücke zwischen Empfehlung und Behandlung
Die Sprechstunde erfüllt ihre diagnostische und beratende Funktion – aber was danach passiert, ist häufig unklar. Die BPtK berichtete 2018, dass 51,9 Prozent der Patient:innen, denen eine Richtlinientherapie empfohlen wurde, anschließend selbst eine weiterbehandelnde Praxis suchen müssen (BPtK, 2018). Die Sprechstunde produziert also systematisch Fälle, die formal „versorgt“ sind – ein Kontakt hat stattgefunden, eine Diagnose wurde gestellt, eine Empfehlung ausgesprochen – aber materiell unversorgt bleiben, weil kein Therapieplatz folgt. Psychotherapeut:innen berichten über erheblichen Zeitaufwand für die Weitervermittlung: Im Schnitt 40 Minuten pro Woche zusätzlich seit der Reform, um Patient:innen nach einer Sprechstunde weiterzuhelfen – und diese Weitervermittlung wird häufig als „schwierig“ beschrieben (BPtK, 2018).
Die PT-REFORM-Studie liefert auch Zahlen dazu, was aus den Anfragenden wird. Von 793 Anfragenden nach der Reform erhielten 259 eine Richtlinientherapie und 101 eine Akutbehandlung; bei 432 – also mehr als der Hälfte – kam keine Behandlung zustande (Singer et al., 2023). Die Gründe sind heterogen: „Keine Indikation“ steht mit 27 Prozent weit oben, was klinisch legitim sein kann – nicht jeder, der eine Psychotherapie sucht, braucht eine Richtlinientherapie. Aber ein anderer Befund ist versorgungspolitisch alarmierend: Der Anteil, bei dem fehlende Kapazität in der Praxis als Grund dokumentiert wurde, stieg von 2 Prozent vor der Reform auf 12 Prozent nach der Reform (Singer et al., 2023). Die Reform hat den Prozess strukturierter gemacht, aber sie hat auch den Engpass sichtbarer und häufiger als Kapazitätsgrenze benennbar gemacht. Aus Patient:innensicht ist das Ergebnis oft gleich: ein Erstgespräch ja, ein Therapieplatz nein.
Die Postleitzahl-Lotterie: Regionale Ungleichheit
Die bisherigen Zahlen sind Durchschnittswerte, und Durchschnittswerte können regionale Disparitäten verdecken, die für die Versorgungsgerechtigkeit entscheidend sind. Die BPtK-Studie 2018 dokumentierte erhebliche Unterschiede nach Bundesländern: Bei der Wartezeit auf Richtlinientherapie reichte das Spektrum von 13,4 Wochen in Berlin bis über 23 Wochen in mehreren Flächenländern; im Ruhrgebiet wurden Wartezeiten von mehr als sieben Monaten berichtet (BPtK, 2018). Die KVB-Analyse zeigt ähnliche Muster innerhalb eines Bundeslandes: München liegt bei 82 Tagen, während Oberfranken und Teile der Oberpfalz bei teilweise über 130 Tagen liegen (KVB, 2023). Die Differenz zwischen Metropole und ländlichem Raum ist strukturell, nicht zufällig. Wer in einer unterversorgten Region lebt, für den sind Durchschnittswerte eine statistische Abstraktion ohne Bezug zur eigenen Realität.
Dieses Muster ist politisch besonders brisant, weil die Bedarfsplanung mit aggregierten Versorgungsgraden operiert, die lokale Engpässe nicht abbilden. Ein Planungsbereich kann rechnerisch „überversorgt“ sein – mit einem Versorgungsgrad über 110 Prozent, der zu Zulassungssperren führt – während Menschen in Teilregionen dennoch monatelang suchen. Der Begriff „Versorgungsgrad“ suggeriert eine Deckung von Bedarf durch Angebot, aber er misst nur das Verhältnis von Kassensitzen zu Einwohnerzahlen nach einer Formel, die historisch gewachsen und mehrfach kritisiert worden ist. Er sagt nichts darüber, wie viele Stunden Therapie tatsächlich verfügbar sind, wie diese Stunden regional verteilt sind und welche Patient:innengruppen sie erreichen.
Wer bleibt auf der Strecke? Komplexität als Ausschlusskriterium
Die vielleicht härteste Pointe der Versorgungslage ist sozialethischer Natur: Je komplexer und schwerer das Störungsbild, desto wahrscheinlicher wird der Zugang faktisch schwieriger – trotz formal gleicher Ansprüche. Das ist nicht zwingend das Ergebnis individueller Selektion durch Therapeut:innen, sondern das Ergebnis eines Systems, das Komplexität schlecht abbildet. In einem Setting knapper Plätze entsteht ein impliziter Druck zur Fallpassung: Patient:innen, die verlässlich kommen, wenig Krisenintervention brauchen, wenig Koordination mit Ärzt:innen, Behörden oder Angehörigen erfordern und in die Stunde „passen“, sind für Einzelpraxen organisatorisch leichter zu tragen. Patient:innen mit Komorbidität, Chronifizierung, psychosozialer Instabilität, Trauma-Folgestörungen, Suchtproblematik oder Persönlichkeitspathologie brauchen mehr – mehr Zeit, mehr Koordination, mehr Krisenmanagement, mehr Flexibilität. Genau diese Mehrbedarfe aber sind in der Regelversorgung nicht systematisch abgebildet.
Die ES-RiP-Evaluation der Strukturreform liefert hier einen ernüchternden Befund: Die Zeitspanne zwischen Erstkontakt und Richtlinienpsychotherapie nahm in beiden Gruppen – komplex und nicht-komplex erkrankte Patient:innen – zu, von rund 80 Tagen vor der Reform auf etwa 110 bis 115 Tage danach (Kruse et al., 2024). Die Reform hat also auch für die schwerer Erkrankten keine Verbesserung gebracht. Noch pointierter formuliert es die Schlussfolgerung der Studie: Die Reform sollte „akut und schwer erkrankte Patientengruppen“ besser erreichen, aber die „Zugangsbarrieren“ wurden „kaum reduziert“ (Kruse et al., 2024). Das ist ein Befund, der in der politischen Kommunikation selten prominent vorkommt – vielleicht weil er die Grundannahme der Reform in Frage stellt, dass bessere Steuerung automatisch bessere Versorgung für die Bedürftigsten bedeutet.
Hinzu kommt die bereits erwähnte Dunkelziffer: 8 Prozent der Patient:innen mit Psychotherapiewunsch gaben in der ES-RiP-Evaluation an, keinen Zugang zu einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten gefunden zu haben (Kruse et al., 2024). Diese Gruppe erscheint in Wartezeit-Statistiken nicht – weil sie nie einen dokumentierten Kontakt hatte. Sie wartet nicht auf einen Platz, sie ist aus dem System gefallen. Für eine Versorgungsbewertung ist diese Kategorie mindestens so relevant wie die Wartezeiten der erfolgreich Versorgten. Wer nur die misst, die am Ende ankommen, übersieht systematisch jene, die auf dem Weg aufgeben.
Zufriedenheit und Erwartungen: Ein ambivalenter Befund
Ein letzter Befund verdient Erwähnung, weil er die Interpretation kompliziert: In der ES-RiP-Evaluation bewertete der „weit überwiegende Teil“ derjenigen, die eine regelmäßige Psychotherapie begonnen hatten, die Wartezeit als angemessen (Kruse et al., 2024). Das klingt nach Entwarnung, ist aber interpretationsbedürftig. Zufriedenheit kann bedeuten, dass die Versorgung tatsächlich angemessen war. Sie kann aber auch bedeuten, dass Erwartungen bereits so stark abgesenkt sind, dass selbst Monate als „normal“ gelten. Und sie kann bedeuten, dass nur diejenigen in der Befragung bleiben, die den Prozess erfolgreich durchlaufen haben – eine Positivselektion, die die Unzufriedenheit der Nicht-Versorgten ausblendet. Methodisch ist Zufriedenheit jedenfalls kein Äquivalent für Versorgungsgüte. Sie misst subjektives Erleben vor dem Hintergrund subjektiver Erwartungen, nicht objektive Bedarfsdeckung.
Zwischenfazit: Die Bilanz der Reform
Wenn man die empirischen Befunde zusammennimmt, ergibt sich ein Bild, das weder die Entwarnung der Planungsinstitutionen noch die Alarmrufe der Berufsverbände vollständig bestätigt – aber deutlich näher am zweiten liegt als am ersten. Die Reform hat den Erstkontakt standardisiert und die Sprechstunde als niedrigschwelligen Einstieg etabliert. Sie hat Kriseninterventionen durch Akutbehandlung ermöglicht. Sie hat die Terminservicestellen gestärkt. Aber sie hat die Wartezeit bis zur Richtlinientherapie nicht verkürzt – in mehreren Studien hat sie sich verlängert. Sie hat die regionale Ungleichheit nicht beseitigt. Sie hat den Zugang für schwer erkrankte Patient:innen nicht erleichtert. Und sie hat dazu geführt, dass Kapazitätsengpässe häufiger als solche benannt werden – was Transparenz schafft, aber keine Plätze. Die Sprechstunde macht Not sichtbar; sie löst sie nicht auf. Das System kann „funktionieren“ – gemessen an Erstkontakten, Fristeneinhaltung, Vermittlungsquoten – und dennoch „versagen“ – gemessen an der Frage, wie viele Menschen in angemessener Zeit eine kontinuierliche Behandlung beginnen, die ihrem Bedarf entspricht.
Reformperspektiven: Was sich ändern müsste, damit Therapie auch beginnt
An dieser Stelle muss ich kurz aus der analytischen Distanz heraustreten und kenntlich machen, von wo aus ich schreibe. Ich bin niedergelassener psychologischer Psychotherapeut mit Kassenzulassung, ich arbeite tiefenpsychologisch fundiert und analytisch, und ich erlebe die Versorgungslage, die ich hier beschreibe, täglich in meiner Praxis – nicht als abstraktes Problem, sondern als konkrete Frustration. Ich höre die Anrufbeantworter-Nachrichten von Menschen, die seit Wochen suchen. Ich bin verpflichtet, Sprechstunden zu führen, nach denen ich Patient:innen sagen muss, dass ich keinen Platz habe. Ich sehe, wie die Lücke zwischen dem, was gebraucht wird, und dem, was das System liefert, Menschen zermürbt – und ich sehe, wie die öffentliche Debatte diese Lücke mit beruhigenden Kennzahlen überdeckt.
Ich sitze in keinen Gremien. Ich bin nicht Teil der Institutionen, die Versorgungsplanung verantworten oder Reformen aushandeln. Was ich für diesen Essay getan habe, ist simpler und zugleich aufschlussreicher, als es klingt: Ich habe die Mittel der künstlichen Intelligenz genutzt – Deep Research, systematische Literaturrecherche, Quellenanalyse –, um die verfügbaren Daten und Studien zusammenzutragen, zu ordnen und zu durchdenken. Ich habe mit der KI diskutiert, Möglichkeiten durchdekliniert, Argumente geprüft, Gegenargumente formuliert. Das Ergebnis ist dieser Text, dessen Schlussfolgerungen mir – bei aller gebotenen Vorsicht – erschreckend klar erscheinen. Nicht weil sie besonders originell wären, sondern weil sie sich aus der Evidenz fast zwingend ergeben, sobald man die richtigen Fragen stellt.
Und genau das ist der Punkt, der mich irritiert: Wenn schon ein Dialog zwischen einem frustrierten Praktiker und einer KI zu solchen Schlussfolgerungen führt – Schlussfolgerungen, die sich auf öffentlich zugängliche Daten, peer-reviewte Studien und offizielle Evaluationsberichte stützen –, dann sollte die reale gesundheitspolitische Debatte mindestens diesen Standard erreichen. Das tut sie bisher nicht. Die Kritik an der vdek-Analyse, die die BPtK als „Salamitaktik“ bezeichnet hat (BPtK, 2023), ist ein Beispiel dafür, wie weit die Positionen auseinanderliegen – und wie wenig die Debatte auf einen gemeinsamen Bezugsrahmen konvergiert. Stattdessen werden Teilwahrheiten gegeneinander in Stellung gebracht, Definitionen strategisch gewählt, und am Ende kann jede Seite behaupten, die Zahlen sprächen für sie.
Was ich im Folgenden vorschlage, ist nicht utopisch. Es sind keine Maximalforderungen, die an der politischen Realität abprallen müssen. Es sind drei Perspektiven, die sich aus der Analyse ergeben und die – so meine Einschätzung – politisch durchsetzbar wären, wenn der Wille da ist. Sie betreffen die Messung von Versorgung, die Planung von Kapazität und den Umgang mit komplexen Störungsbildern. Keine dieser Perspektiven löst das Problem allein. Aber zusammen würden sie einen Unterschied machen – einen Unterschied zwischen einem System, das Statistiken produziert, und einem System, das Versorgung leistet.
Transparenz: Den richtigen Endpunkt messen
Die gegenwärtige Versorgungskommunikation operiert mit Kennzahlen, die den Blick auf das Wesentliche verstellen. Versorgungsgrade, Sitzzahlen, Vermittlungsquoten, Fristeneinhaltungen – all das sind legitime Indikatoren für bestimmte Fragen, aber keine Antwort auf die Frage, die Patient:innen stellen: Wann beginnt meine Behandlung? Die Debatte leidet darunter, dass verschiedene Akteure verschiedene Definitionen von „Wartezeit“ verwenden und dadurch gegensätzliche Bilder entstehen, die sich beide auf valide Daten stützen können. Das ist kein Zeichen von Manipulation, aber ein Zeichen dafür, dass das Monitoring-System nicht auf die richtigen Outcomes ausgerichtet ist.
Eine echte Transparenz würde erfordern, dass Wartezeiten als Prozesskette berichtet werden, nicht als Einzelwerte. Drei Strecken müssten standardisiert erfasst und veröffentlicht werden: die Zeit von der ersten dokumentierbaren Kontaktaufnahme bis zur Sprechstunde, die Zeit von der Sprechstunde bis zum Beginn einer Richtlinientherapie, und – als patientenrelevanter Gesamtindikator – die Zeit von der ersten Anfrage bis zum Therapiebeginn. Nur wenn alle drei Strecken sichtbar sind, lässt sich erkennen, wo der Engpass tatsächlich liegt und ob Reformen an der richtigen Stelle wirken. Die bloße Auskunft, dass „Termine vermittelt“ werden oder dass „zwischen den Modulen“ nur wenige Tage liegen, sagt über die Versorgungsrealität wenig aus, solange die Gesamtstrecke unsichtbar bleibt.
Darüber hinaus braucht es eine Kennzahl für den Übergang von der Sprechstunde in die Behandlung. Wenn gut die Hälfte der Patient:innen nach der Sprechstunde selbst weitersuchen muss (BPtK, 2018) und wenn bei mehr als der Hälfte der Anfragenden keine Behandlung zustande kommt (Singer et al., 2023), dann ist dieser Übergang der kritische Punkt des Versorgungspfads. Eine Quote, die misst, wie viele Patient:innen mit Behandlungsempfehlung innerhalb einer definierten Frist tatsächlich eine Richtlinientherapie beginnen – stratifiziert nach Region, Diagnosegruppe und Schweregrad –, wäre informativer als jede Vermittlungsstatistik der Terminservicestellen. Sie würde sichtbar machen, was derzeit im Dunkeln liegt: nicht nur, wer ins System kommt, sondern wer im System auch ankommt.
Schließlich muss regionale Transparenz kleinräumiger werden. Die Unterschiede zwischen Metropole und ländlichem Raum, zwischen prosperierenden und strukturschwachen Regionen sind zu groß, um sie in Länderdurchschnitten verschwinden zu lassen. Die KVB-Analyse hat gezeigt, dass innerhalb Bayerns die Wartezeiten zwischen 82 Tagen in München und über 130 Tagen in Oberfranken variieren (KVB, 2023). Solche Differenzen sind versorgungspolitisch hochrelevant, verschwinden aber in aggregierten Darstellungen. Eine Bedarfsplanung, die mit Durchschnittsregionen operiert, während die Probleme in den Randlagen eskalieren, verfehlt ihren Zweck.
Kapazität: Vollzeitäquivalente statt Kopfzahlen
Die zweite Reformperspektive betrifft die Grundlage der Planung selbst. In der öffentlichen Debatte werden häufig Kopfzahlen genannt: 34.000 Psychotherapeut:innen, steigende Zulassungen, mehr Sitze. Diese Zahlen klingen nach Wachstum und suggerieren, dass das Angebot zunimmt. Aber Kopfzahlen sagen wenig über die tatsächlich verfügbare Behandlungskapazität aus. Die entscheidende Größe ist nicht, wie viele Personen eine Zulassung haben, sondern wie viele Stunden Therapie pro Woche tatsächlich angeboten werden – und wie diese Stunden regional verteilt sind. Die Unterscheidung zwischen vollen und halben Versorgungsaufträgen macht das deutlich: Eine steigende Zahl an Zulassungen kann mit einer sehr unterschiedlichen Menge an realer Behandlungskapazität einhergehen, je nachdem, wie die Arbeitszeiten verteilt sind (Deutsche PsychotherapeutenVereinigung [DPtV], 2021; KBV, 2024).
Die politische Konsequenz wäre, Planung und Kommunikation von Kopfzahlen auf Vollzeitäquivalente umzustellen – und noch besser: auf tatsächlich verfügbare Therapiestunden. Das ist methodisch aufwendiger, aber versorgungspolitisch ehrlicher. Es würde sichtbar machen, dass „mehr Sitze“ nicht automatisch „mehr Versorgung“ bedeuten, und es würde die Frage aufwerfen, welche Anreize gesetzt werden müssen, damit in unterversorgten Regionen tatsächlich Behandlungskapazität entsteht. Die gegenwärtige Bedarfsplanung, die mit Verhältniszahlen und Zulassungssperren operiert, kann rechnerische Überversorgung ausweisen, während Patient:innen real unterversorgt bleiben. Das ist kein böser Wille, aber es ist ein Kategorienfehler, der politische Konsequenzen hat.
Hinzu kommt ein Aspekt, der selten in der öffentlichen Debatte vorkommt: Steuerungsinstrumente kosten Zeit, und diese Zeit fehlt für Behandlung. Die BPtK berichtete 2018, dass ein Drittel der Psychotherapeut:innen seit der Reform im Schnitt 2,6 Behandlungsstunden pro Woche weniger anbietet, weil Arbeitszeit in Sprechstunde und Akutbehandlung gebunden ist (BPtK, 2018). Wenn zusätzliche Pflichtaufgaben eingeführt werden, ohne dass die Gesamtressource wächst, entsteht ein Nullsummenspiel. Die Reform verteilt Zeit um, sie erzeugt nicht mehr davon. Eine ernsthafte Kapazitätspolitik müsste diesen Zusammenhang anerkennen und entweder die Gesamtkapazität erhöhen oder die Frage stellen, welche Steuerungsaufgaben verzichtbar sind. Bürokratieabbau ist in diesem Kontext keine Komfortforderung, sondern Versorgungspolitik: Jede Stunde, die nicht in Verwaltung und Dokumentation fließt, kann in Behandlung fließen.
Ein weiterer Hebel liegt in der Praxisstruktur selbst. KBV-Daten zeigen, dass ambulante Psychotherapeut:innen überwiegend in Einzelpraxen arbeiten und kooperative Strukturen wie Berufsausübungsgemeinschaften oder Medizinische Versorgungszentren vergleichsweise selten sind (KBV, 2024). Das hat Versorgungsfolgen: Einzelpraxen können kaum arbeitsteilig triagieren, sie können Verwaltungsaufgaben weniger delegieren, und sie können Krisen- und Komplexfälle schlechter im Team abfedern. Kooperative Modelle könnten administrative Last teilen, Vertretung sichern, Sprechstundenarbeit teamförmig organisieren und die Aufnahme schwerer Fälle stabilisieren. In anderen Fachgebieten ist diese Entwicklung weiter fortgeschritten; in der Psychotherapie fehlt häufig noch die strukturelle Förderung, die Teamarbeit nicht nur erlaubt, sondern attraktiv macht.
Komplexität: Schwere Störungsbilder als Versorgungsauftrag
Die dritte Perspektive betrifft eine Frage der Versorgungsgerechtigkeit, die in der politischen Debatte oft untergeht: Wer bekommt die knappen Plätze? Die empirischen Befunde legen nahe, dass komplexe und schwere Störungsbilder im gegenwärtigen System systematisch benachteiligt sind – nicht weil Therapeut:innen sie ablehnen würden, sondern weil die Rahmenbedingungen ihre Behandlung erschweren. Patient:innen mit Komorbidität, Chronifizierung, psychosozialer Instabilität, Trauma-Folgestörungen, Suchtproblematik oder Persönlichkeitspathologie brauchen mehr: mehr Zeit pro Sitzung, mehr Koordination mit anderen Stellen, mehr Krisenmanagement, mehr Flexibilität im Setting. Genau diese Mehrbedarfe aber sind in der Regelversorgung nicht systematisch abgebildet. In einem System knapper Plätze entsteht ein impliziter Druck zur Fallpassung, der diejenigen begünstigt, die weniger aufwendig sind – und diejenigen benachteiligt, die am meisten brauchen.
Die ES-RiP-Evaluation hat diesen Befund empirisch untermauert: Die Reform sollte „akut und schwer erkrankte Patientengruppen“ besser erreichen, aber die „Zugangsbarrieren“ wurden „kaum reduziert“ (Kruse et al., 2024). Das ist ein versorgungsethisches Problem, weil es die Grundannahme des Sozialversicherungssystems unterläuft, dass Zugang sich nach Bedarf richten soll, nicht nach Komplexität. Wenn gerade die Schwerstkranken die größten Schwierigkeiten haben, Behandlung zu finden, dann funktioniert das System nicht nach seinen eigenen Maßstäben.
Die Konsequenz wäre, Komplexität vergütungs- und strukturpolitisch abzubilden. Wenn schwere Fälle systematisch mehr Zeit brauchen, muss das entweder über geeignete Leistungspositionen oder über Teamstrukturen abgebildet werden. Andernfalls werden sie zur betriebswirtschaftlichen Belastungsprobe für Einzelpraxen – und wandern an den Rand des Systems oder in die stationäre Versorgung, wo sie teurer und oft weniger bedarfsgerecht behandelt werden. Gestufte Versorgungsmodelle, die niedrigschwellige Interventionen, Gruppenangebote und koordinierte Akutpfade mit intensiver Einzeltherapie für Schwerkranke kombinieren, könnten hier ein Weg sein – nicht um Psychotherapie zu ersetzen, sondern um die Zeit bis zum Therapiebeginn versorgungswirksam zu machen und die Regelversorgung zu entlasten.
Schließlich braucht die Versorgung schwerer Fälle explizite regionale Ketten – nicht nur Sitze. Für komplexe Störungsbilder reicht das Bild der freien Einzelpraxis nicht. Es braucht Versorgungsnetze mit klaren Übergängen: Hausärzt:innen, psychiatrische Versorgung, Krisendienste, Institutsambulanzen, Soziotherapie, psychiatrische Pflege, psychosoziale Dienste – und ambulante Psychotherapie als Teil dieser Kette, nicht als isolierte Instanz. Solange diese Ketten regional unterschiedlich ausgebaut sind, werden strukturschwache Regionen systematisch benachteiligt, auch wenn Planungszahlen formal „ausreichend“ wirken.
Schluss: Von der Statistik zur Versorgung
Die Reform von 2017 war kein Fehler. Sie hat reale Probleme adressiert und reale Verbesserungen gebracht – mehr Struktur, mehr Transparenz im Erstkontakt, mehr Optionen für Krisenintervention. Aber sie hat die Grundfrage nicht beantwortet, die für Patient:innen entscheidend ist: Wann beginnt meine Behandlung? Die Statistiken, die seither produziert werden, können beruhigen, weil sie den Erstkontakt messen, nicht den Therapiebeginn. Sie können moderate Wartezeiten ausweisen, weil sie Teilstrecken betrachten, nicht den ganzen Weg. Sie können Versorgungsgrade über 100 Prozent zeigen, weil sie Sitze zählen, nicht Therapiestunden. Solange das so bleibt, wird die Diskrepanz zwischen Reformrhetorik und Praxisrealität bestehen bleiben. Die Versorgungsstatistik wird beruhigen. Und Patient:innen wie Frau M. werden weiter telefonieren, weiter auf Anrufbeantworter sprechen, weiter warten – bis sie nicht mehr können.
Eine ehrliche Versorgungspolitik müsste diese Diskrepanz anerkennen, statt sie mit Kennzahlen zu überdecken. Sie müsste messen, was zählt. Sie müsste Kapazität schaffen, nicht nur Zugänge. Und sie müsste die Frage beantworten, die das System derzeit nicht beantwortet: Wie stellen wir sicher, dass Menschen, die Hilfe brauchen, diese Hilfe auch bekommen – nicht irgendwann, sondern dann, wenn sie sie brauchen?
Literaturverzeichnis
Bundespsychotherapeutenkammer. (2018, 11. April). Ein Jahr nach der Reform der Psychotherapie-Richtlinie: Wartezeiten 2018. https://api.bptk.de/uploads/20180411_bptk_studie_wartezeiten_2018_c0ab16b390.pdf
Bundespsychotherapeutenkammer. (2022, 9. Dezember). Psychisch Kranke warten 142 Tage auf eine psychotherapeutische Behandlung [Pressemitteilung]. https://api.bptk.de/uploads/20221209_PM_BPtK_Wartezeiten_142_Tage_5f3a10f6c8.pdf
Bundespsychotherapeutenkammer. (2023, 14. Juni). Salamitaktik bei Analyse der Wartezeiten verschleiert realen Umfang[Pressemitteilung]. https://www.bptk.de/salamitaktik-bei-analyse-der-wartezeiten-verschleiert-realen-umfang/
Deutsche PsychotherapeutenVereinigung. (2021). Report Psychotherapie 2021 (2. Aufl.). https://www.dptv.de/fileadmin/Redaktion/Bilder_und_Dokumente/Wissensdatenbank_oeffentlich/DPtV_Report_Psychotherapie/DPtV_Report_Psychotherapie_2021_2A.pdf
Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. (2022). Wartezeiten auf eine Psychotherapie: Studien und Umfragen(WD 9 – 3000 – 059/22). https://www.bundestag.de/resource/blob/916578/53724d526490deea69f736b1fda83e76/WD-9-059-22-pdf-data.pdf
Gemeinsamer Bundesausschuss. (2016, 24. November). Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Psychotherapie-Richtlinie: Strukturreform der ambulanten Psychotherapie. https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4137/2016-06-16_PT-RL_Strukturreform_TrG.pdf
Gemeinsamer Bundesausschuss. (2024, 19. Juni). Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinie). https://www.g-ba.de/downloads/62-492-3464/PT-RL_2024-03-21_iK-2024-06-19.pdf
Grobe, T. G., Steinmann, S., & Szecsenyi, J. (2020). Psychotherapie – veränderter Zugang, verbesserte Versorgung? BARMER Arztreport 2020 (Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Bd. 21). BARMER. https://www.barmer.de/resource/blob/1026240/4f989562e2da4b0fbc785f15ff011ebe/barmer-arztreport-2020-band-21-bifg-data.pdf
Kassenärztliche Bundesvereinigung. (2023). Tätigkeit der Terminservicestellen: Evaluationsbericht 2023 (gemäß § 75 Abs. 1a SGB V). https://www.kbv.de/html/terminservicestellen.php
Kassenärztliche Bundesvereinigung. (2024, 31. Dezember). Statistische Informationen aus dem Bundesarztregister: Bundesgebiet insgesamt. https://www.kbv.de/media/sp/2024-12-31-BAR-Statistik.pdf
Kassenärztliche Vereinigung Bayerns. (2023, 10. Februar). Wartezeit von der ersten Sprechstunde bis zum Beginn einer Psychotherapie beträgt in Bayern 97 Tage [Presseinformation]. https://www.kvb.de/fileadmin/kvb/Ueber-uns/Pressearbeit/Presseinformationen/2023/KVB-PI-230210-Wartezeiten-Psychotherapie.pdf
Kruse, J., Kampling, H., Bouami, S. F., Grobe, T. G., Hartmann, M., Jedamzik, J., Marschall, U., Szecsenyi, J., Werner, S., Wild, B., Zara, S., Heuft, G., & Friederich, H.-C. (2024). Outpatient psychotherapy in Germany—An evaluation of the structural reform. Deutsches Ärzteblatt International, 121, 315–322. https://doi.org/10.3238/arztebl.m2024.0039
Malinke, S. (2023, 10. August). Moderate Wartezeit auf Psychotherapie. ersatzkasse magazin, 4/2023. https://www.vdek.com/magazin/ausgaben/2023-04/analyse-wartezeiten-psychotherapie.html
Singer, S., Maier, L., Paserat, A., Lang, K., Wirp, B., Kobes, J., Porsch, U., Mittag, M., Toenges, G., & Engesser, D. (2022). Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz vor und nach der Psychotherapiestrukturreform. Psychotherapeut, 67(3), 176–184. https://doi.org/10.1007/s00278-021-00551-0
Singer, S., Maier, L., Engesser, D., & Büttner, M. (2023). Evaluation der Psychotherapie-Strukturreform (PT-REFORM): Ergebnisbericht (Förderkennzeichen 01VSF19003). Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss. https://innovationsfonds.g-ba.de/downloads/beschluss-dokumente/452/2023-10-16_PT-REFORM_Ergebnisbericht.pdf
Verband der Ersatzkassen. (2023, 14. Juni). Wartezeiten auf Psychotherapie: vdek-Analyse bestätigt moderate Wartezeiten – zur weiteren Verbesserung Terminservicestellen und Therapeutinnen/Therapeuten stärker einbinden [Pressemitteilung]. https://www.vdek.com/presse/pressemitteilungen/2023/wartezeiten-psychotherapie.html
Fiktive Debatte
/topic/ Nachspiel: Zwei Perspektiven auf dieselbe Lücke
/scene/ Das folgende Gespräch ist fiktiv. Es verdichtet, was in psychotherapeutischen Sprechstunden täglich geschieht – und was dabei ungesagt bleibt, weil es den Rahmen sprengen würde. Die Szenen spielen vor, während und nach einem Erstgespräch in einer psychotherapeutischen Praxis in einer deutschen Großstadt.
/note/ Ein Wartezimmer, irgendwo in München-Schwabing, dritter Stock, Altbau. Zwei Stühle an der Wand, ein kleiner Tisch mit Zeitschriften, die schon länger hier liegen. Durch das Fenster fällt das graue Licht eines Novembernachmittags. Frau M. sitzt auf einem der Stühle. Sie ist zu früh da, fast eine halbe Stunde. Lieber warten als hetzen, hat sie sich gesagt. Jetzt sitzt sie hier und das Warten fühlt sich schlimmer an als Hetzen.
/note/ Ihr Blick wandert durch den Raum. An der Wand hängt ein gerahmter Kunstdruck, abstrakt, Blautöne, vielleicht soll das Ruhe ausstrahlen. Auf dem Tisch liegt eine Ausgabe des Stern von vor drei Monaten, daneben ein Flyer über Achtsamkeit. Sie nimmt nichts davon in die Hand. Ihre Finger spielen mit dem Reißverschluss ihrer Jacke. Auf, zu. Auf, zu.
/note/ Sie denkt an den Weg hierher. An die Monate davor. Es hat im Spätsommer angefangen, oder vielleicht schon früher, sie kann es nicht mehr genau sagen. Zuerst war es nur der Schlaf, der nicht mehr kam. Dann die Müdigkeit tagsüber, die bleierne. Dann die Arbeit, die plötzlich unmöglich schien, obwohl sie dieselbe war wie immer. Irgendwann hat sie angefangen zu weinen, ohne Anlass, einfach so, in der U-Bahn, auf dem Klo im Büro, abends in der Küche. Sie hat sich geschämt dafür. Sie hat niemandem davon erzählt.
/note/ Im Oktober ist sie zum Hausarzt gegangen. Sie hat lange gebraucht, um sich das einzugestehen, dass sie Hilfe braucht. Der Hausarzt war gut. Er hat zugehört, hat Fragen gestellt, hat nicht so getan, als wäre das nichts. Er hat das Wort Depression benutzt, und sie hat gespürt, wie etwas in ihr sich gleichzeitig zusammengezogen und gelöst hat. Also doch. Also nicht nur Einbildung. Er hat ihr erklärt, was sie tun kann. Medikamente wären eine Option, hat er gesagt, aber er würde erst mal Psychotherapie empfehlen. Er hat ihr gezeigt, wo man sucht. Die Seite der Psychotherapeutenkammer, die Arztsuche der KV, verschiedene Portale. Er hat ihr einen Ausdruck mitgegeben mit Tipps für die Suche. Sie hat das Blatt noch, es liegt zu Hause in einer Schublade, zerknittert vom vielen Anfassen.
/note/ Was dann kam, hat sie nicht erwartet. Sie hatte gedacht, man ruft an, man bekommt einen Termin, man beginnt eine Therapie. So hatte sie sich das vorgestellt. Stattdessen hat sie Listen angelegt. Hat abends am Küchentisch gesessen, den Laptop vor sich, und Namen in eine Excel-Tabelle eingetragen. Praxis, Telefonnummer, Anrufversuch, Ergebnis. Sie ist systematisch vorgegangen, weil Systematik das Einzige war, was sie noch konnte. Zeile um Zeile. Anruf um Anruf.
/note/ Die meisten Praxen hatten Anrufbeantworter. Sie hat gelernt, wie man auf einen Anrufbeantworter spricht, wenn man um Hilfe bittet. Name, Telefonnummer, kurzer Satz, worum es geht. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Nicht zu verzweifelt klingen. Sie hat sich selbst dabei zugehört und sich fremd gefühlt. Bei manchen Praxen kam ein Rückruf, bei den meisten nicht. Die Rückrufe waren immer freundlich. Und sie endeten immer gleich.
/note/ Der erste Rückruf kam an einem Dienstagabend. Frau M. saß gerade beim Essen, als ihr Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer. Sie hat sofort abgenommen.
Therapeutin Meier (Stimme am Telefon): Guten Tag, hier ist Meier, Sie hatten auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Ich rufe zurück wegen Ihrer Anfrage.
Frau M. (Patientin): Ja, danke, dass Sie sich melden. Ich suche einen Therapieplatz, mein Hausarzt hat gesagt, ich soll mich –
Therapeutin Meier (Stimme am Telefon): Ich muss Sie leider gleich unterbrechen. Ich habe momentan keine freien Plätze. Ich führe auch keine Warteliste mehr, die ist einfach zu lang geworden. Ich kann Ihnen nur empfehlen, es bei Kolleginnen und Kollegen zu versuchen. Es tut mir leid. Alles Gute für Sie.
/note/ Das Gespräch hat keine dreißig Sekunden gedauert. Frau M. hat sich bedankt, hat aufgelegt, hat auf ihren Teller gestarrt. Das Essen war kalt geworden. Sie hat es weggeworfen und die nächste Nummer aus ihrer Liste herausgesucht. Es würde ja nicht überall so sein, hat sie sich gesagt.
/note/ Es war fast überall so. Bei einer Praxis in Pasing hat sie es bis zu einem längeren Telefonat geschafft. Die Therapeutin klang gehetzt, im Hintergrund war ein Drucker zu hören.
Frau M. (Patientin): Haben Sie denn gerade Kapazitäten für eine Therapie?
Therapeutin in Pasing (Stimme am Telefon): Das kann ich Ihnen so pauschal nicht sagen. Ich biete erst mal Sprechstunden an, da schauen wir dann, ob eine Behandlung überhaupt indiziert ist. Einen Sprechstundentermin könnte ich Ihnen anbieten, allerdings erst im Januar.
Frau M. (Patientin): Und wenn die Sprechstunde ergibt, dass ich eine Therapie brauche?
Therapeutin in Pasing (Stimme am Telefon): Dann sehen wir weiter. Es kann sein, dass ich dann einen Platz habe, es kann aber auch sein, dass Sie sich dann noch mal umschauen müssen. Das weiß ich jetzt noch nicht, das hängt davon ab, ob bis dahin jemand seine Therapie beendet.
/note/ Frau M. hat den Termin nicht genommen. Sie wollte nicht noch mal zwei Monate warten für ein Gespräch, das vielleicht wieder nirgendwohin führt. Im Nachhinein fragt sie sich, ob das ein Fehler war. Vielleicht hätte sie jeden Termin nehmen sollen, jeden einzelnen, egal wie weit weg, egal wie unsicher. Aber sie war müde. So müde. Und die Hoffnung ist ein begrenzter Rohstoff, wenn man sie immer wieder in Anrufbeantworter spricht.
/note/ Die Praxis Reimer war die dreiundzwanzigste, die sie angerufen hat. Sie weiß das, weil sie es notiert hat. Dreiundzwanzig Praxen, acht Rückrufe, null Therapieplätze. Bei Praxis Reimer hat sie auf den Anrufbeantworter gesprochen wie bei allen anderen auch. Zwei Wochen später kam ein Rückruf. Eine ruhige Stimme, sachlich, aber nicht unfreundlich. Es gäbe einen Termin für eine Sprechstunde, in sechs Wochen. Ob ihr das passe.
/note/ Ihr ist alles recht gewesen. Sechs Wochen. Sie hat sich das Datum in den Kalender eingetragen und einen Kreis drumherum gemalt. Dann hat sie weitergemacht, irgendwie. Weiter gearbeitet, weiter geschlafen oder nicht geschlafen, weiter geweint, wenn es kam. Sie hat niemandem von dem Termin erzählt. Es fühlte sich an wie etwas, das sie beschützen musste. Eine kleine Hoffnung, zu fragil, um sie auszusprechen.
/note/ Jetzt sitzt sie hier. Der Kreis im Kalender ist heute. Die Tür zum Behandlungszimmer öffnet sich. Eine Frau tritt heraus, Anfang fünfzig, graue Strähnen im dunklen Haar, wache Augen hinter einer randlosen Brille. Sie trägt einen dunkelblauen Pullover, nichts Klinisches. Sie lächelt kurz und sagt Frau M.s Namen, freundlich, als Frage. Frau M. steht auf. Ihre Beine fühlen sich unsicher an.
/note/ Das Behandlungszimmer ist klein, aber nicht eng. Zwei Sessel stehen einander gegenüber, ein Schreibtisch an der Seite, Bücherregale an den Wänden, ein Fenster zum Hinterhof. Auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel Formulare, daneben eine Schachtel mit Taschentüchern. Frau Reimer deutet auf einen der Sessel. Frau M. setzt sich. Der Sessel ist weicher, als sie erwartet hat. Sie weiß nicht, wohin mit ihren Händen.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Sie haben den Weg hierher gefunden.
/note/ Ein einfacher Satz. Frau Reimer sagt ihn ohne bestimmte Betonung, lässt ihn im Raum stehen. Sie will sehen, was Frau M. daraus macht, wohin sie geht mit diesem kleinen Anfang.
Frau M. (Patientin): Ja. Sechs Wochen habe ich gewartet. Aber das war noch das Kürzeste, was mir jemand angeboten hat.
/note/ Frau Reimer nickt, sagt nichts. Sie lässt die Stille arbeiten. Frau M. schaut kurz auf ihre Hände, dann wieder hoch.
Frau M. (Patientin): Ich habe dreiundzwanzig Praxen angerufen. Bevor ich hier gelandet bin. Dreiundzwanzig. Ich habe es aufgeschrieben, in einer Tabelle, wie bei der Arbeit. Ich dachte, wenn ich systematisch bin, dann klappt es. Aber es hat nicht geklappt. Überall dasselbe. Kein Platz. Warteliste geschlossen. Versuchen Sie es woanders.
/note/ Sie spricht schneller jetzt, als hätte sich etwas gelöst. Frau Reimer hört zu, registriert die Mischung aus Erschöpfung und Wut in der Stimme. Sie registriert auch etwas anderes: die Art, wie Frau M. davon erzählt, systematisch zu sein. Wie bei der Arbeit. Als wäre das der einzige Modus, in dem sie noch funktionieren kann.
Frau M. (Patientin): Irgendwann habe ich aufgehört. Nicht weil es mir besser ging. Sondern weil ich nicht mehr konnte. Ich habe das Gefühl gehabt, ich bitte um etwas, das es nicht gibt. Oder das nicht für mich ist.
/note/ Frau Reimer hört den letzten Satz genau. Nicht für mich. Sie könnte jetzt etwas sagen über die Versorgungslage, über die Knappheit, über die Realität. Aber sie tut es nicht. Stattdessen fragt sie:
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Nicht für Sie?
Frau M. (Patientin): Ich weiß nicht. Es hat sich so angefühlt. Als wäre das, was ich brauche, zu viel. Oder als würde ich es nicht verdienen. Ich weiß, dass das nicht logisch ist. Aber so hat es sich angefühlt. Dass ich immer wieder frage und immer wieder höre: Nein, nicht jetzt, nicht hier, nicht für dich.
/note/ Frau Reimer schweigt einen Moment. Sie denkt an das, was sie als Analytikerin gelernt hat: dass die äußere Realität und die innere Realität sich manchmal auf schmerzhafte Weise überlagern. Dass jemand, der als Kind erfahren hat, dass seine Bedürfnisse keinen Platz haben, diese Erfahrung im Erwachsenenleben wiederfinden wird – manchmal dort, wo sie wirklich ist, manchmal dort, wo er sie projiziert, und manchmal an Orten, wo beides zusammenfällt und nicht mehr zu trennen ist. Dreiundzwanzig Absagen sind real. Aber was sie in Frau M. auslösen, ist mehr als die Summe von dreiundzwanzig Telefonaten.
/note/ Gleichzeitig spürt sie etwas anderes: einen Ärger, der ihr selbst gehört. Weil sie weiß, dass sie am Ende dieses Gesprächs dasselbe sagen wird wie die anderen dreiundzwanzig. Dass sie Frau M. gegenübersitzt, ihr zuhört, vielleicht etwas versteht, das die anderen nicht verstanden haben – und sie trotzdem wegschicken muss. Dass die Realität, die Frau M. als Zurückweisung erlebt, tatsächlich eine Zurückweisung ist, strukturell, systemisch, nicht persönlich gemeint und doch persönlich treffend. Aber jetzt geht es nicht um ihren Ärger. Jetzt geht es um die Frau, die vor ihr sitzt.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Erzählen Sie mir mehr davon. Von dem Gefühl, dass das, was Sie brauchen, zu viel ist.
/note/ Frau M. holt Luft. Sie hat sich so viel vorgenommen zu sagen, hat Stichpunkte im Kopf, eine halbe Chronologie ihres Zusammenbruchs. Aber jetzt, wo jemand fragt – und nicht nach Fakten fragt, sondern nach dem Gefühl –, fällt ihr als Erstes nur ein Bild ein: Sie selbst, morgens um halb sieben, am Rand ihres Bettes sitzend, unfähig aufzustehen. Nicht weil etwas Bestimmtes sie hindert. Sondern weil alles zu viel wiegt.
Frau M. (Patientin): Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist nicht eine Sache. Es ist alles. Ich bin so müde. Die ganze Zeit. Und ich schaffe die einfachsten Dinge nicht mehr. Morgens aufstehen. Zur Arbeit gehen. Mit Leuten reden. Ich funktioniere noch, irgendwie, aber es fühlt sich an, als würde ich das nur spielen. Als wäre ich gar nicht wirklich da.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Wie lange geht das schon?
Frau M. (Patientin): Seit dem Sommer, vielleicht. Es hat mit dem Schlaf angefangen. Ich konnte nicht mehr einschlafen, oder ich bin mitten in der Nacht aufgewacht und lag dann wach bis zum Wecker. Und dann kam die Müdigkeit tagsüber, und dann habe ich angefangen zu weinen. Einfach so. Ohne Grund. Oder mit zu vielen Gründen, ich weiß es nicht.
/note/ Frau Reimer hört zu, ohne zu unterbrechen. Frau M. redet weiter, stockend manchmal, dann wieder in Schüben, als würde etwas aus ihr herauswollen, das zu lange eingesperrt war. Sie erzählt von der Arbeit, vom Druck, von den Kollegen, die nichts merken, oder vielleicht doch etwas merken, aber nichts sagen. Sie erzählt von der Einsamkeit, die sich anfühlt wie ein Zimmer ohne Türen. Sie erzählt von den Gedanken, die sich im Kreis drehen, immer dieselben Vorwürfe, immer dasselbe Gefühl von Versagen.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Sie haben vorhin gesagt, dass es sich angefühlt hat, als wäre das, was Sie brauchen, nicht für Sie. Kennen Sie dieses Gefühl von früher?
/note/ Frau M. schweigt einen Moment. Die Frage trifft etwas.
Frau M. (Patientin): Meine Mutter war auch depressiv. Ist sie wahrscheinlich immer noch, aber darüber redet man nicht bei uns. Sie war immer irgendwie weg, auch wenn sie da war. Und mein Vater hat so getan, als wäre alles normal. Ich habe gelernt, keine Umstände zu machen. Nicht zu viel zu brauchen. Nicht aufzufallen.
/same/ Ich habe mich immer um alles selbst gekümmert. Gute Noten, Studium, Job. Alles hat funktioniert. Bis jetzt.
/note/ Frau Reimer nickt. Sie sieht ein Muster, das sie kennt: die frühe Parentifizierung, das Unsichtbarmachen eigener Bedürfnisse, der hohe Funktionsanspruch als Kompensation. Und dann, irgendwann, der Zusammenbruch. Es ist fast lehrbuchhaft, und gerade deshalb weiß sie, wie ernst es ist.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ich muss Sie noch etwas Wichtiges fragen. Haben Sie manchmal Gedanken daran, sich etwas anzutun? Oder Gedanken, dass es besser wäre, nicht mehr da zu sein?
/note/ Frau M. schweigt. Die Frage hängt im Raum.
Frau M. (Patientin): Nicht so, dass ich einen Plan hätte. Aber manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn ich einfach verschwinden könnte. Nicht sterben unbedingt. Nur weg sein. Nicht mehr existieren müssen.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Haben Sie solche Gedanken gerade auch? Heute, jetzt?
Frau M. (Patientin): Nein. Heute nicht. Heute bin ich eher hoffnungsvoll, glaube ich. Dass hier vielleicht etwas anfängt.
/note/ Frau Reimer spürt, wie sich etwas in ihr zusammenzieht. Dass hier vielleicht etwas anfängt. Die Hoffnung in diesem Satz, die zerbrechliche Hoffnung, die schon so oft enttäuscht wurde. Und sie wird sie gleich wieder enttäuschen müssen. Sie denkt daran, was sie vorhin gedacht hat – dass die äußere Realität und die innere Realität sich überlagern. Frau M. hat ihr Leben lang gelernt, dass ihre Bedürfnisse keinen Platz haben. Und jetzt sitzt sie hier, und ihre Bedürfnisse haben tatsächlich keinen Platz. Es ist keine Projektion. Es ist die Wahrheit. Das System bestätigt, was Frau M. über sich selbst glaubt. Und Frau Reimer ist Teil dieses Systems.
/note/ Sie lässt eine Pause entstehen. Dann lehnt sie sich leicht zurück.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ich habe jetzt ein Bild davon, wie es Ihnen geht und was Sie belastet. Und ich möchte Ihnen ehrlich sagen, was ich sehe: Sie haben eine depressive Symptomatik, die behandelt werden sollte. Das ist nichts, was man einfach aussitzt oder was von alleine weggeht. Sie brauchen Unterstützung, und zwar eine regelmäßige, verlässliche Begleitung. Meine Empfehlung wäre eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.
/note/ Frau M. spürt, wie sich etwas in ihr löst. Eine Bestätigung, ein Ja, eine Erlaubnis fast. Dass das, was sie fühlt, real ist. Dass es einen Namen hat. Dass es etwas gibt, das helfen kann.
Frau M. (Patientin): Und das können wir dann hier machen?
/note/ Die Frage hängt in der Luft. Frau Reimer antwortet nicht sofort. Ihr Blick geht kurz zum Fenster, dann zurück zu Frau M. Sie denkt daran, dass sie gleich etwas tun wird, das sie hasst. Dass sie Teil eines Mechanismus ist, der Menschen wie Frau M. sagt: Ja, du bist krank, ja, du brauchst Hilfe, und nein, ich kann sie dir nicht geben. Dass sie damit genau das tut, was Frau M.s Familie ihr ganzes Leben lang getan hat: ihre Bedürfnisse sehen und ihnen trotzdem keinen Platz geben. Der einzige Unterschied ist, dass sie weiß, was sie tut.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Das ist der Punkt, an dem ich Ihnen etwas sagen muss, das ich nicht gerne sage.
/note/ Frau M.s Magen zieht sich zusammen. Sie weiß es, bevor die Worte kommen. Sie kennt diesen Tonfall. Sie hat ihn schon gehört, am Telefon, bei all den anderen.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ich habe keinen freien Therapieplatz. Meine Praxis ist voll. Ich habe fünfunddreißig Patienten, die ich regelmäßig sehe, und eine Warteliste. Wenn jemand eine Therapie beendet, rufe ich die Warteliste ab, aber das kann Monate dauern. Es tut mir leid.
/note/ Die Worte treffen Frau M. Sie hat es erwartet, und es tut trotzdem weh. Vielleicht sogar mehr als bei den anderen, weil sie hier für einen Moment geglaubt hat, dass es anders sein könnte. Dass jemand sie versteht. Ihr Blick geht zu Boden.
Frau M. (Patientin): Aber Sie haben doch gesagt, ich brauche eine Therapie.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ja. Das habe ich gesagt, und das stimmt auch. Sie brauchen eine Therapie. Aber ich kann sie Ihnen nicht anbieten. Nicht weil ich nicht wollte. Sondern weil ich nicht kann.
/note/ Frau M. schweigt. Frau Reimer sieht, wie sich ihr Gesicht verschließt. Etwas zieht sich zurück, macht dicht. Die Hoffnung, die eben noch da war, ist weg.
Frau M. (Patientin): Warum bieten Sie dann überhaupt Sprechstunden an, wenn Sie danach sowieso keinen Platz haben?
/note/ Die Frage ist scharf, und Frau Reimer spürt, dass sie verdient ist. Sie könnte defensiv reagieren, erklären, rechtfertigen. Aber das wäre nicht ehrlich.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Das ist eine berechtigte Frage. Ich bin verpflichtet, Sprechstunden anzubieten. Das gehört zu meinem Versorgungsauftrag seit der Reform 2017. Ich muss eine bestimmte Anzahl von Sprechstundenminuten pro Woche vorhalten, unabhängig davon, ob ich danach Therapieplätze habe. Die Idee war, dass Menschen wie Sie schneller eine Einschätzung bekommen, ob sie Behandlung brauchen. Aber die Idee hat nicht berücksichtigt, dass die Plätze dahinter knapp sind.
/same/ Das heißt: Ich sehe Menschen, stelle fest, dass sie Hilfe brauchen, fülle das Formular aus – und muss sie dann wegschicken. Nicht weil sie nicht krank genug wären. Sondern weil der Platz nicht existiert.
Frau M. (Patientin): Das ist absurd.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ja. Das ist es.
/note/ Eine Stille entsteht. Frau M. schaut auf ihre Hände. Frau Reimer lässt die Stille. Sie weiß, dass gerade etwas passiert – dass die Wut, die Frau M. spürt, vielleicht das Erste seit Langem ist, das sich lebendig anfühlt. Dass es wichtig ist, diese Wut nicht wegzutherapieren, nicht zu beschwichtigen.
Frau M. (Patientin): Ich habe dreiundzwanzig Praxen angerufen. Und jetzt sitze ich hier, und Sie sagen mir, dass ich krank bin und nichts dafür kann, und dann schicken Sie mich wieder weg. Genau wie die anderen.
/note/ Frau Reimer nickt. Sie widerspricht nicht.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ich höre, wie wütend Sie das macht. Und ich verstehe das. Sie haben so viel Kraft investiert, um hierher zu kommen. Und jetzt sagt Ihnen das System wieder: Nicht für dich. Das ist nicht fair.
Frau M. (Patientin): Das System. Immer ist es das System. Aber Sie sind Teil davon.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ja. Das bin ich.
/note/ Wieder Stille. Frau Reimer hält den Blickkontakt. Sie verteidigt sich nicht, erklärt nicht, relativiert nicht. Sie bleibt einfach da, hält aus, was Frau M. ihr entgegenwirft.
Frau M. (Patientin): Und was soll ich jetzt machen?
/note/ Die Wut ist etwas abgeebbt. Darunter kommt die Erschöpfung zum Vorschein, die Ratlosigkeit.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ich werde Ihnen das PTV-11-Formular mitgeben. Darauf steht die Diagnose und die Empfehlung. Damit können Sie sich bei anderen Praxen bewerben.
/same/ Ich würde Ihnen empfehlen, sich bei den Ausbildungsinstituten zu melden. Dort arbeiten Therapeuten in Ausbildung, unter Supervision, die Qualität ist gut, und manchmal gibt es dort schneller Plätze. Ich habe eine Liste, die kann ich Ihnen mitgeben.
/same/ Und wenn Sie in den nächsten Wochen merken, dass es Ihnen deutlich schlechter geht, dass die Gedanken, über die wir gesprochen haben, stärker werden, dann gehen Sie zum Krisendienst. Versprechen Sie mir das?
/note/ Frau M. nickt. Sie fühlt sich leer. Die Wut ist weg, die Hoffnung auch. Übrig bleibt das Formular und die Liste und der Auftrag, von vorne anzufangen.
Frau M. (Patientin): Kann ich wenigstens auf Ihre Warteliste?
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ja. Das kann ich tun. Aber ich muss ehrlich sein: Sie wären die zehnte. Bei meiner Arbeitsweise – ich arbeite tiefenpsychologisch, das heißt manche Therapien dauern länger – kann das sehr lange dauern. Ich möchte nicht, dass Sie nur auf mich warten.
/note/ Das Gespräch ist fast vorbei. Frau Reimer erklärt noch das Formular, wo Frau M. unterschreiben muss, was die Codes bedeuten. Sie gibt ihr die Liste mit den Instituten, sauber ausgedruckt, nicht das erste Mal, dass sie diese Liste aushändigt. Dann stehen sie auf. Frau Reimer begleitet sie zur Tür.
Frau Reimer (Psychotherapeutin): Ich wünschte, ich könnte Ihnen heute mehr anbieten als ein Formular und eine Liste. Ich sehe, dass Sie Hilfe brauchen. Ich sehe auch, dass das, was gerade passiert, alte Wunden berührt. Dass es sich anfühlt, wie es sich vielleicht schon oft angefühlt hat: dass Ihre Bedürfnisse keinen Platz haben. Das ist nicht wahr – aber ich verstehe, dass es sich so anfühlt. Und ich verstehe, dass ich gerade Teil davon bin.
/note/ Frau M. schaut sie an. Etwas flackert in ihrem Gesicht, eine kurze Irritation vielleicht, oder ein Erkennen.
Frau M. (Patientin): Danke. Glaube ich.
/note/ Sie geht, die Treppe hinunter, auf die Straße. Es ist kälter geworden draußen. Sie bleibt einen Moment stehen, das Formular in der Tasche, die Liste in der Hand. Sie weiß nicht, ob sie die Kraft hat, wieder anzufangen.
/note/ Frau Reimer schließt die Tür und bleibt einen Moment stehen. Es ist kurz nach halb sechs, draußen dämmert es bereits. In zwanzig Minuten kommt der nächste Patient, ein Mann, den sie seit eineinhalb Jahren sieht, zuverlässig jeden Donnerstag. Dazwischen muss sie dokumentieren, das PTV-11 abspeichern, kurz durchatmen.
/note/ Sie geht zurück zu ihrem Sessel und setzt sich. Nicht an den Schreibtisch, noch nicht. Sie braucht einen Moment. Das Gespräch eben war anders als die anderen Sprechstunden diese Woche. Frau M. hat etwas ausgesprochen, das die meisten nicht aussprechen. Sie hat die Absurdität benannt, und sie hat sie – Frau Reimer – damit konfrontiert. Sie sind Teil davon. Ja. Das ist sie.
/note/ Sie denkt an das, was sie während des Gesprächs gedacht hat. An die Überlagerung von innerer und äußerer Realität. Frau M. hat ein Lebensthema, das sich wie ein roter Faden durch ihre Geschichte zieht: Meine Bedürfnisse haben keinen Platz. Ich darf nicht zu viel brauchen. Wenn ich bitte, bekomme ich ein Nein. Das ist innere Realität, geprägt durch eine Kindheit mit einer depressiven Mutter und einem abwesenden Vater, durch frühe Selbstgenügsamkeit als Überlebensstrategie.
/note/ Und dann kommt Frau M. als erwachsene Frau in ein Versorgungssystem, das ihr sagt: Deine Bedürfnisse haben keinen Platz. Du darfst nicht zu viel brauchen. Wenn du bittest, bekommst du ein Nein. Das ist äußere Realität, strukturell, systemisch, nicht persönlich gemeint. Aber das macht es nicht besser. Im Gegenteil: Es bestätigt das innere Drehbuch. Es verstärkt, was ohnehin schon da ist. Die Pathologie und das System finden zueinander und schließen sich kurz.
/note/ Als Analytikerin ist sie darauf trainiert, zwischen innerer und äußerer Realität zu unterscheiden. Nicht alles, was sich wie Zurückweisung anfühlt, ist Zurückweisung. Manchmal projizieren wir unsere frühen Erfahrungen auf Situationen, die eigentlich neutral sind. Manchmal sehen wir Ablehnung, wo nur Indifferenz ist. Das zu erkennen, das aufzudröseln, das ist therapeutische Arbeit. Aber was macht man, wenn die äußere Realität tatsächlich so ist, wie die innere Realität es erwartet? Wenn das System die Pathologie bestätigt?
/note/ Sie hat keine Antwort darauf. Sie weiß nur, dass es sie wütend macht. Nicht auf Frau M., nicht auf sich selbst – auf das System, das sie zwingt, diese Gespräche zu führen. Die Sprechstunde war gedacht als Verbesserung. Mehr Transparenz, schnellerer Zugang, bessere Steuerung. Aber Steuerung ist nicht Versorgung. Die Sprechstunde macht sichtbar, wer Hilfe braucht. Sie macht nicht möglich, dass diese Hilfe auch kommt.
/note/ Sie steht auf und setzt sich an den Schreibtisch, öffnet die Patientendatei, beginnt zu tippen. Frau M., Jahrgang 1991, Erstkontakt im Rahmen der psychotherapeutischen Sprechstunde. Vorstellungsgrund: depressive Symptomatik seit mehreren Monaten, Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug. Anamnestisch Hinweise auf depressive Erkrankung der Mutter, emotionale Vernachlässigung in der Kindheit, frühe Überanpassung als Bewältigungsmuster. Diagnostisch einzuordnen als depressive Episode, gegenwärtig mittelgradig (F32.1), differentialdiagnostisch rezidivierende depressive Störung (F33.1). Behandlungsempfehlung: tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, ambulant. Dringlichkeit: gegeben. Kapazität in der eigenen Praxis: nicht vorhanden.
/note/ Kapazität in der eigenen Praxis: nicht vorhanden. Sie liest den Satz noch einmal. Das ist die Zusammenfassung ihrer beruflichen Situation in fünf Worten. Sie hat einen halben Kassensitz. Fünfunddreißig Patienten sieht sie regelmäßig, manche wöchentlich, manche alle zwei Wochen. Die Sprechstundenpflicht nimmt zusätzlich Zeit, mindestens fünfzig Minuten pro Woche, bei ihr meist mehr, weil sie Menschen nicht nach zehn Minuten wegschickt. Diese Zeit fehlt für laufende Therapien. Oder für Pausen. Oder für die Dokumentation, die sie jetzt gerade macht, um halb sechs, bevor der nächste Patient kommt.
/note/ Sie denkt an die Statistiken, die sie manchmal liest. Moderate Wartezeiten. Zwölf Tage von der Sprechstunde zur Probatorik. Fünfzehn Tage von der Probatorik zur Therapie. Sie fragt sich, in welchem Paralleluniversum diese Zahlen erhoben wurden. In ihrer Praxis warten Menschen Monate. In den Praxen ihrer Kolleginnen auch. Die Wartelisten sind überall voll. Aber die Statistik sagt: moderat. Weil sie nur misst, was sie messen will. Weil sie Teilstrecken betrachtet und die Gesamtstrecke ausblendet. Weil sie zählt, wer ankommt, aber nicht, wer unterwegs verloren geht.
/note/ Sie hat auch an das gedacht, was sie Frau M. am Ende gesagt hat. Dass sie Teil des Systems ist. Dass sie versteht, dass das, was gerade passiert, alte Wunden berührt. Es war ein Versuch, etwas zu benennen, das über die konkrete Situation hinausgeht – ein analytischer Impuls, vielleicht unangebracht in einer Sprechstunde, vielleicht das Einzige, was sie geben konnte. Sie weiß nicht, ob es angekommen ist. Sie weiß nur, dass Frau M. sich bedankt hat und dass es dabei etwas Zögerliches gab. Danke. Glaube ich.
/note/ Dreimal pro Woche sitzt sie Menschen gegenüber, die am Ende sind. Dreimal pro Woche muss sie sagen, was sie nicht sagen will: Ich kann Ihnen nicht helfen. Nicht nicht will. Nicht kann. Man gewöhnt sich nicht daran. Man entwickelt Routinen, Formulierungen, die weicher klingen. Aber das Gefühl bleibt. Dass da ein Mensch sitzt, der Hilfe braucht. Und dass man diese Hilfe nicht geben kann.
/note/ Sie speichert die Dokumentation, druckt das Formular aus, legt es in die Ablage. In fünf Minuten kommt Herr K. Bei ihm macht die Arbeit Sinn. Bei ihm sieht sie, wozu das alles gut ist. Aber Herr K. hatte Glück. Er hat angerufen, als gerade jemand aufgehört hat. So funktioniert das System: Einer geht, einer kommt.
/note/ Frau M. wird vielleicht irgendwann auch jemanden finden. Vielleicht in drei Monaten, vielleicht in sechs. Vielleicht gibt sie vorher auf. Die Statistik wird es nicht erfassen. Die Statistik erfasst nur, wer am Ende ankommt.
/note/ Es klingelt. Herr K. ist pünktlich wie immer. Frau Reimer steht auf, streicht sich kurz über das Gesicht, atmet einmal durch. Dann öffnet sie die Tür.
/end/
/topic/ Nachwort: Für alle, die gerade suchen
/note/ Die Geschichte von Frau M. ist fiktiv, aber sie verdichtet, was viele Menschen erleben, die einen Therapieplatz suchen. Wenn Sie sich in dieser Erfahrung wiedererkennen – in der Erschöpfung, der Frustration, dem Gefühl, gegen Wände zu laufen –, dann möchte ich Ihnen zum Abschluss einige Dinge sagen, die im fiktiven Gespräch keinen Platz hatten.
/note/ Erstens: Es lohnt sich, dranzubleiben. Die Zahlen, die in diesem Essay zitiert werden, zeigen auch die andere Seite: Die große Mehrheit der Menschen, die einen Therapieplatz suchen, findet irgendwann einen. Die Wartezeit ist real, sie ist zu lang, sie ist zermürbend – aber sie ist nicht endlos. Geben Sie nicht auf.
/note/ Zweitens: Die Suche lässt sich strategischer gestalten. Auf meiner Website habe ich einen ausführlichen Leitfaden zur Therapeut:innensuche zusammengestellt, der konkrete Schritte beschreibt und Stolperfallen benennt: www.praxis-lampersberger.de/psychotherapeutinnen-suche. Dort finden Sie auch Hinweise, wie Sie bereits am Telefon herausfinden können, ob eine Praxis tatsächlich Kapazitäten hat – und nicht erst nach einer wochenlangen Wartezeit auf eine Sprechstunde.
/note/ Ein wichtiger Tipp: Fragen Sie bei Ihrem Anruf direkt, ob die Praxis aktuell Patient:innen für eine Therapie aufnimmt, nicht nur für Sprechstunden. Manche Therapeut:innen geben diese Auskunft am Telefon, und es kann Ihnen ersparen, Termine wahrzunehmen, die nirgendwohin führen. Nicht alle Praxen handhaben das so, aber es ist einen Versuch wert.
/note/ Drittens: Ambulanzen können das Problem des fragmentierten Zugangs umgehen. Psychotherapeutische Ambulanzen – etwa an Ausbildungsinstituten oder Universitätskliniken – haben den Vorteil, dass dort jemand aktiv vermittelt. Sie landen nicht auf einem Anrufbeantworter, sondern sprechen mit Menschen, die den Überblick über verfügbare Plätze haben. Die Behandlung erfolgt durch Therapeut:innen in Ausbildung unter engmaschiger Supervision; die Qualität ist in der Regel hoch, manchmal sogar besonders hoch, weil die Fälle intensiv begleitet werden. Fragen Sie bei den Ausbildungsinstituten in Ihrer Region nach.
/note/ Viertens: Es gibt Zwischenlösungen. Wenn die ambulante Suche ins Leere läuft und Ihr Zustand sich verschlechtert, sind stationäre oder teilstationäre Behandlungen eine Option. Eine psychiatrische oder psychosomatische Tagesklinik bietet intensive Behandlung, ohne dass Sie Ihr gesamtes Leben unterbrechen müssen. Ein vollstationärer Aufenthalt kann sinnvoll sein, wenn Sie akut stabilisiert werden müssen. Sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt oder Ihrer Hausärztin über diese Möglichkeiten – eine Einweisung kann oft schneller erfolgen als ein ambulanter Therapieplatz.
/note/ Fünftens, und das ist mir besonders wichtig: Wenn Sie gerade in einer akuten Krise sind, wenn die Gedanken, nicht mehr da sein zu wollen, stärker werden, wenn Sie sich unsicher fühlen, ob Sie sich etwas antun könnten – dann warten Sie nicht auf einen Therapieplatz. Es gibt Anlaufstellen, die sofort erreichbar sind:
/note/ Der Krisendienst Bayern ist rund um die Uhr erreichbar unter 0800 655 3000 (kostenlos). Die Telefonseelsorge ist ebenfalls rund um die Uhr erreichbar unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (kostenlos, anonym). In akuten Notfällen können Sie jederzeit die psychiatrische Notaufnahme des nächsten Krankenhauses aufsuchen oder den Notruf 112 wählen.
/note/ Diese Angebote ersetzen keine Therapie, aber sie können helfen, eine akute Krise zu überbrücken. Und sie können gemeinsam mit Ihnen nach nächsten Schritten suchen, wenn Sie selbst nicht mehr weiterwissen.
/note/ Die Versorgungslage, die dieser Essay beschreibt, ist frustrierend. Sie ist ungerecht. Sie sollte anders sein. Aber sie bedeutet nicht, dass Hilfe unmöglich ist. Sie bedeutet, dass der Weg zur Hilfe schwieriger ist, als er sein sollte. Das ist ein Versagen des Systems – nicht Ihres. Bleiben Sie dran. Und wenn Sie Unterstützung bei der Suche brauchen, fragen Sie jemanden, der Ihnen hilft: eine Freundin, einen Hausarzt, eine Beratungsstelle. Sie müssen das nicht alleine schaffen.
/end/
Anhang
/appendix#anhang/ Zur Entstehung dieses Textes: Eine Reflexion im Lichte des Leitfadens zur KI-Ko-Produktion | Entstehungsprozess & KI-Ko-Produktion +
/lead/ Dieser Anhang legt den Ko-Produktionsprozess offen und ordnet ihn strikt entlang der vier Phasen und neun Schritte des Leitfadens. Er verdichtet die wichtigsten Entscheidungen, Iterationen und Qualitätskontrollen, die im Chatverlauf sichtbar wurden.
/section#phase-1/ Phase I – Vorbereitung | Raum, Intention & Material +
Schritt 1: Die Intention formulieren – Das Primat des menschlichen Begehrens
Ich startete aus einer affektiv aufgeladenen Praxisbeobachtung heraus: Institutionelle Beruhigungsrhetorik zur Versorgung trifft auf die belastende Suchrealität von Patientinnen und Patienten. Diese Intention wurde im Verlauf präzisiert, indem ich von der KI bei meiner Recherche immer wieder verlangte, Dringlichkeit, Leserführung und die zentrale These (herauszuarbeiten.
Schritt 2: Die Materialsammlung – Die bewusste Konfrontation mit dem Realen
Ich baute das Argument nicht aus allgemeinen Behauptungen, sondern aus einem Korpus überprüfbarer Primär- und Sekundärquellen auf (Richtlinie, Registerdaten, Routinedatenanalysen, Evaluationen, Verbandspositionen). Material wurde dabei nicht nur als „Beleg“, sondern als Konflikt verschiedener Messlogiken gesammelt, sodass definitorische Verschiebungen (Wartezeit ab welchem Startpunkt) selbst zum Analysegegenstand wurden.
Schritt 3: Die strategische Rollendefinition – Den Pakt mit dem Automaten bewusst gestalten
Die KI wurde als Strukturierungs- und Entwurfswerkzeug eingesetzt, während der menschliche Autor die Rolle der inhaltlichen, normativen und wissenschaftlichen Gatekeeper-Instanz behielt. Diese Rollengrenze wurde operativ durch harte Kriterien stabilisiert.
/section#phase-2/ Phase II – Interaktion | Dialektisches Prompten & Montage +
Schritt 4: Das dialektische Prompten – Die bewusste Erzeugung von Negativität und Komplexität
Dialektik entstand als kontrollierte Konfrontation inkompatibler Wahrheitsansprüche: „moderate Wartezeiten“ in bestimmten Auswertungen versus lange Zeiten bis zum Therapiebeginn in anderen Datenlagen, jeweils abhängig von Definition und Messpunkt. Der menschliche Autor forcierte diese Negativität durch iterative Korrekturen, wodurch der Text aus einer glatten Darstellung in eine argumentativ prüfende Form überführt wurde.
Schritt 5: Die Montage – Die Dekonstruktion der maschinellen Oberfläche
Montage zeigte sich darin, dass der Output nicht als Block übernommen, sondern als Rohmaterial umgebaut wurde. Gleichzeitig wurden empirische Fragmente aus unterschiedlichen Quellen so zusammengesetzt, dass der Text nicht nur referiert, sondern die Spannungen zwischen Statistik, Reformarchitektur und Praxisrealität dramaturgisch sichtbar macht.
/section#phase-3/ Phase III – Autorisierung | Inkubation & „Menschlichung“ +
Schritt 6: Die Inkubationsphase – Die Wiederherstellung der kritischen Distanz durch Verlangsamung
Inkubation geschah als bewusstes Unterbrechen des linearen Schreibflusses, als der menschliche Autor den Einstieg neu konzipierte und den Ton in Richtung Dringlichkeit und Leseransprache verschob. Diese Distanz wird auch daran erkennbar, dass der Autor den Text anschließend nicht nur weiterführen, sondern kritisch prüfen ließ.
Schritt 7: Die Arbeit der „Menschlichung“ – Die Besetzung des Textes mit subjektiver Wahrheit
Die Menschlichung bestand in der Re-Integration einer verkörperten Perspektive: Suchscham, Erschöpfung, und die klinische Zumutung des Telefonierens wurden als Erfahrungssubstrat in die Argumentation eingetragen. Zugleich wurde Autorschaft durch wissenschaftliche Disziplin zurückerobert, indem nicht überprüfbare Referenzformen zurückgewiesen und die KI-Transparenz in einen methodischen Anhang ausgelagert wurde, statt den Haupttext zu dominieren.
/section#phase-4/ Phase IV – Publikation | Transparenz & Zweckbestimmung +
Schritt 8: Die radikale Transparenz – Ein Akt der Diskurs-Ethik und der De-Mystifizierung
Dieser Anhang ist die konkrete Transparenzmaßnahme, weil er Rollen, Iterationen, Eingriffe und Risiken der Ko-Produktion explizit macht, ohne die Argumentationslinie des Haupttexts zu zerfasern. Transparenz war im Prozess zugleich eine Belegregel: Aussagen sollten auf Quellen zurückführbar sein, damit Leserinnen und Leser unabhängig prüfen können, statt auf „KI-Zitationen“ angewiesen zu sein.
Schritt 9: Die Zweckbestimmung – Die Etablierung des „Autonomiefonds“
Für die Publikationsphase wurde freigespielte Zeit systematisch in KI-freie Primärlektüre, Gegenlesen und patientenorientierte Aufklärungsmaterialien reinvestiert wird, statt in weitere Beschleunigung.
/end/


Schreibe einen Kommentar