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Worum es eigentlich geht: Coaching als notwendige Praxis – und Life-Coaching als Therapieschattenmarkt
Dieses Essay ist keine Generalkritik an Coaching. Es gibt Formen von Coaching, Beratung, Supervision und philosophischer Praxis, die in klar begrenzten Domänen sinnvoll sind: Führung, Kommunikation, Konfliktmoderation, Karriereentscheidungen, Rollenklärung, Entscheidungsarchitektur in Organisationen – kurz: Situationen, in denen Ziele, Kontexte und Verantwortlichkeiten relativ gut benennbar sind. Der entscheidende Bruch beginnt dort, wo ein unregulierter Markt therapienahe Notlagen adressiert, ohne die institutionelle Verantwortung eines Heilberufs zu tragen. Ich nenne diese Zone den Therapieschattenmarkt: eine Hybridform aus psychotherapeutischer Semantik (Trauma, Bindung, Nervensystem, Selbstwert), marktförmiger Vertriebslogik (High-Ticket, Funnel, Closing) und Deregulierung (unklare Standards, keine Kammern, kein verbindliches Beschwerdesystem). Der Kern der Fundamentalkritik lautet daher nicht: „Diese Menschen sind schlecht“, sondern: „Diese Struktur ist riskant.“ Nicht weil jedes Angebot automatisch schadet, sondern weil die Kombination aus Vertrauensgut, Intimität und Verkaufsinteresse jene Verzerrungen erzeugt, die in professionellen Hilfefeldern gerade durch Ausbildung, Supervision, Ethik und Rechenschaftspflichten begrenzt werden sollen.
Die Bühne: Wie Vertrauen entsteht – parasoziale Intimität, therapeutische Sprache und die Ästhetik der Autorität
Bevor etwas verkauft wird, muss Vertrauen entstehen – und zwar schneller, als Vertrauen im wirklichen Leben normalerweise wächst. Plattformen liefern dafür eine perfekte Bühne: ein Dauerstrom aus Nahbarkeit, Selbstenthüllung, „ich sehe dich“-Adressierungen, Erfolgsgeschichten und der Inszenierung einer souveränen, beruhigenden Figur. Diese Bühne arbeitet nicht nur mit Status (Luxus, Ordnung, Lifestyle), sondern auch mit dem „Wounded-Healer“-Narrativ: Die eigene Verwundung wird zur Legitimation („Ich war da, ich kenne das“). Gleichzeitig wirkt eine zweite, besonders wirksame Technik: therapienahe Sprache als Abkürzung zur Bedeutung. Wer sagt „Du bist nicht faul, du bist dysreguliert“, liefert Trost und Diagnose in einem Satz – und gewinnt Deutungshoheit. Die Grenze zur Therapie wird dabei oft doppelt gespielt: öffentlich klingt es nach Heilung, im Kleingedruckten heißt es „keine Therapie“. Genau diese Gleichzeitigkeit – klinische Aura ohne klinische Verantwortungsstruktur – ist die eigentliche Bühne des Schattenmarkts. Man verkauft nicht zuerst ein Programm, man verkauft eine Deutung, und Deutung ist in Krisen ein starkes Suchtmittel: Sie entlastet, aber sie bindet auch.
Die Maschine: Wie Vertrauen in Kauf verwandelt wird – Funnel-Architektur, Dringlichkeit und der Preis als Initiationsritual
Wenn die Bühne Vertrauen erzeugt, setzt die Maschine dieses Vertrauen in Handlungen um. Der Funnel ist nicht „nur Marketing“, sondern eine Dramaturgie, die Schritt für Schritt Selbstbindung produziert: ein kleines „JA“ in den Kommentaren, eine DM, ein „Bewerbungsformular“, ein Call – und schließlich die Entscheidung im privaten Raum. Dort wird Intimität (ich höre dir zu), Druck (Entscheide jetzt) und moralisches Framing (wenn du zögerst, ist das dein Muster) oft so kombiniert, dass Abwägen zur Charakterfrage wird. Dringlichkeit und Knappheit funktionieren hier nicht nur als Information, sondern als Lenkung: „nur noch Plätze“, „Bonus endet um Mitternacht“, „du verlierst ein weiteres Jahr“. Und der Preis selbst wird zum psychologischen Ereignis. High Ticket wird als „Skin in the game“ gedeutet – faktisch wirkt der hohe Einsatz häufig wie ein Initiationsritual: Er erhöht Dissonanz, macht Kritik teuer und stabilisiert Bindung. Wer viel bezahlt, muss glauben, sonst müsste er sich eingestehen, dass er sich geirrt hat. In einem Feld, in dem Outcomes schwer objektivierbar sind, wird Erwartungsmanagement damit zum Wirkfaktor – und genau deshalb wird die ethische Frage scharf: Was passiert, wenn Erwartungsmanagement zugleich Verkaufstechnik und therapienahe Intervention ist?
Das Immunsystem: Wie Kritik ausgeschaltet wird – Umdefinition, Community-Bindung und die Pathologisierung von Grenzen
Ein professionelles Hilfefeld lernt an Kritik. Ein Vertriebsfeld muss Kritik neutralisieren, weil sie das Geschäftsmodell bedroht. Genau hier entwickelt der Therapieschattenmarkt ein „Immunsystem“: Einwände werden selten sachlich beantwortet, sondern in die Innerlichkeit verschoben. „Zu teuer“ wird zu „Selbstwertthema“. „Ich brauche Zeit“ wird zu „Widerstand“. „Ich fühlte mich gedrängt“ wird zu „deinem Muster“. So verschwindet der Einwand als Einwand; er wird zum Symptom des Einwendenden. Diese Immunisierung arbeitet oft freundlich, gerade deshalb effektiv: „Ich wünsche dir alles Gute – du bist nur noch nicht ready.“ Parallel stabilisieren Communities die Bindung. Gruppen können Support sein, sie können aber auch Normdruck erzeugen: Wer zweifelt, stört die Erzählung; wer aussteigt, bedroht den Glauben an die Methode. „Accountability“ wird dann nicht Unterstützung, sondern soziale Kontrolle. Der Ausstieg wird moralisch teuer: nicht nur Geldverlust, sondern Identitäts- und Zugehörigkeitsverlust. Das System gewinnt dadurch eine perfide Eleganz: Es muss niemanden zwingen. Es organisiert Bedingungen, unter denen Menschen sich selbst zwingen – aus Scham, aus Dissonanz, aus dem Wunsch, nicht derjenige zu sein, der „es nicht geschafft hat“.
Konsequenzen und Realitätsschnitte: Nebenwirkungen, Anmaßung, Rekursion – und warum Recht plötzlich relevant wird
Die Risiken liegen nicht nur im Ton, sondern in der Struktur: Ein therapienaher Markt ohne verlässliche Grenzen begünstigt Nebenwirkungen (Abhängigkeit, Selbstwertschäden, Verschlechterung), Kompetenzüberschätzung und „Scope Creep“ – die schleichende Ausweitung vom Kommunikationscoach zur Traumabehandlung. In einem Plattformmilieu wird Gewissheit belohnt, Demut bestraft; wer „Es kommt darauf an“ sagt, verkauft schlechter als jemand, der „Ich weiß genau, was bei dir los ist“ behauptet. Hinzu kommt eine rekursive Marktlogik: In Teilen der Szene wird das Produkt nicht Hilfe, sondern Reproduktion. Programme enden in „Werde selbst Coach“, und Vertriebsbildung tarnt sich als Heilung. Spätestens hier tritt ein unerwarteter Realitätsanker auf: das Recht. Nicht weil der Staat „Psyche“ regulieren will, sondern weil viele Programme faktisch Unterrichtsstrukturen haben (Curriculum, Module, Aufgaben, Feedback). Wenn „Mentoring“ zu Fernunterricht wird, greifen Verbraucherschutzlogiken – bis hin zu harten Konsequenzen bei fehlender Zulassung. Der Schlusspunkt des Essays ist deshalb nicht „Verbot“, sondern Mündigkeit: Kriterien statt Empörung. Wer Hilfe sucht, braucht Begrenzungen, Transparenz, Bedenkzeit und das Recht, „nein“ zu sagen, ohne als defekt zu gelten. Denn genau dort beginnt echte Autonomie – und endet der Schattenmarkt.
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Thema: Life-Coaching als unregulierter Therapie-Schattenmarkt
Wichtige Wörter
Coaching
Coaching bedeutet hier: Beratung für Ziele und Entscheidungen.
Viele Menschen nutzen Coaching im Beruf.
Manche Coaches arbeiten auch mit sehr persönlichen Themen.
Therapie
Therapie bedeutet hier: Behandlung von seelischen Problemen durch Fachleute.
Therapie hat klare Regeln.
Therapie hat Ausbildung und Aufsicht.
Therapie-Schattenmarkt
Damit meine ich einen Teil vom Coaching-Markt.
Dieser Teil wirkt wie Therapie.
Aber er hat oft keine Therapie-Regeln.
Darum entsteht ein Risiko für hilfesuchende Menschen.
Verkaufs-System
Damit meine ich eine feste Abfolge, die zum Kauf führen soll.
Der Weg geht oft von Beiträgen im Internet bis zum Verkaufsgespräch.
Viele Schritte sind geplant.
Viele Schritte erhöhen Druck.
Worum es in dem Text geht
Der Text macht eine Fundamentalkritik. Er kritisiert nicht jedes Coaching. Er unterscheidet verschiedene Formen von Coaching. Er erkennt sinnvolles Coaching an.
Der Text kritisiert eine bestimmte Grauzone.
Diese Grauzone arbeitet mit Therapie-Wörtern.
Diese Grauzone verkauft oft sehr teure Programme.
Diese Programme versprechen schnelle Veränderung.
Diese Programme arbeiten oft mit Druck.
Der Kern der Kritik ist strukturell.
Es geht um Verantwortung und Kontrolle.
Es geht um Regeln und Grenzen.
Es geht um Schutz für Menschen in Not.
Wie Vertrauen entsteht
Viele Coaches bauen Vertrauen über soziale Netzwerke auf.Sie zeigen ihr Leben.Sie zeigen Gefühle.Sie zeigen Krisen und Erfolge.
Das wirkt oft sehr persönlich.
Viele Menschen fühlen sich dann gesehen.
Viele Menschen fühlen sich dann verstanden.
Häufig nutzen Coaches starke Wörter.
Dazu gehören Trauma, Selbstwert und Nervensystem.
Diese Wörter klingen nach Therapie.
Diese Wörter klingen nach Fachwissen.
Diese Wörter können echte Probleme ansprechen.
Es gibt dabei ein typisches Muster.
Ein Coach sagt: Das ist keine Therapie.
Der Coach nutzt aber trotzdem Therapie-Sprache.
So entsteht eine Mischung aus Nähe und Autorität.
Das ist wichtig, weil Coaching ein Vertrauens-Gut ist.
Ein Vertrauens-Gut kann man schwer prüfen.
Man merkt die Qualität oft erst später.
Das gilt besonders bei seelischen Themen.
Wie Vertrauen zu Kauf wird
Viele Angebote nutzen ein festes Verkaufs-System.Es beginnt oft mit kurzen Beiträgen.Dann folgt ein Kontakt per Nachricht.Dann folgt ein Gespräch am Telefon oder per Video.
Dieses Gespräch heißt oft Kennenlern-Call.
In der Praxis ist es oft ein Verkaufs-Gespräch.
Es geht dann um eine schnelle Entscheidung.
Es geht oft um einen sehr hohen Preis.
Im Gespräch gibt es wiederkehrende Sätze.
Ein Beispiel ist: Du bist es dir wert.
Der Satz klingt nach Selbstfürsorge.
Der Satz verschiebt aber das Thema.
Am Anfang geht es um Preis und Leistung.
Dann geht es plötzlich um deinen Wert als Person.
Das erzeugt Druck.
Das macht Nein sagen schwerer.
Oft kommt auch Zeitdruck dazu.
Ein Coach sagt: Nur heute gibt es den Bonus.
Ein Coach sagt: Nur wenige Plätze sind frei.
Ein Coach sagt: Entscheide dich jetzt.
Zeitdruck verkleinert den Denk-Raum.
Man prüft dann weniger.
Man vergleicht dann weniger.
Man fragt dann weniger nach Bedingungen.
Sehr hohe Preise haben eine zweite Wirkung.
Sie binden Menschen an die eigene Entscheidung.
Viele Menschen wollen danach glauben.
Viele Menschen wollen danach recht behalten.
Kritik wird dann innerlich schwerer.
Wie Kritik ausgeschaltet wird
Ein Feld zeigt seine Reife bei Kritik.Kritik heißt zum Beispiel:Das hat mir nicht geholfen.Das war zu viel für mich.Ich fühle mich schlechter.Ich will aussteigen.
In einem guten Hilfe-System ist das ein Arbeitsmoment.
Man klärt die Situation.
Man prüft die Passung.
Man korrigiert den Prozess.
Man verweist weiter, wenn es nötig ist.
Im Therapie-Schattenmarkt sieht man oft etwas anderes.
Kritik wird oft nicht sachlich geprüft.
Kritik wird oft psychologisch umgedeutet.
Dann heißt es zum Beispiel:
Du bist im Widerstand.
Du hast ein Selbstwert-Thema.
Du bist noch nicht bereit.
Du bist in der Opferrolle.
So wird Kritik zu einem Fehler der Person.
Die Sachebene verschwindet.
Das Angebot bleibt unangetastet.
Der Zweifel wird zum Symptom gemacht.
Das wirkt auch in Gruppen.
Viele Programme haben Chat-Gruppen.
Viele Programme haben feste Rituale.
Viele Programme haben Regeln für Aktivität.
Das kann Unterstützung sein.
Es kann aber auch sozialer Druck werden.
Ausstieg wird dann ein Status-Verlust.
Kritik wird dann ein Zugehörigkeits-Problem.
Warum das riskant ist
Die Grauzone ist riskant wegen fehlender Grenzen.Manche Coaches weiten ihr Thema immer weiter aus.Sie starten mit Alltag und Beruf.Dann sprechen sie über Trauma und Heilung.Dann wirken sie wie Therapie ohne Therapie-Rahmen.
Das ist riskant für Menschen in Krisen.
Es kann Abhängigkeit fördern.
Es kann Scham verstärken.
Es kann Schuld verstärken.
Es kann Verwirrung verstärken.
Ein weiteres Risiko ist Überforderung durch Druck.
Druck passt schlecht zu seelischer Not.
Seelische Not braucht Zeit und Sicherheit.
Seelische Not braucht klare Grenzen.
Seelische Not braucht Nachsorge.
Ein weiteres Risiko ist fehlende Korrektur.
In vielen Märkten gibt es Kontrolle.
In Therapie gibt es Ausbildung und Aufsicht.
In der Grauzone gibt es das oft nicht.
Dann bleibt Kompetenz schwer prüfbar.
Ein weiteres Risiko ist ein kreisförmiges Produkt.
Manche Programme enden bei: Werde selbst Coach.
Dann verkauft das System seine eigene Reproduktion.
Es entstehen immer neue Anbieter.
Der Druck zu verkaufen steigt weiter.
Woran du ein gutes Angebot erkennst
Hier sind praktische Kriterien.Sie helfen bei der Prüfung.Sie ersetzen kein Gespräch mit Fachleuten.
Transparenz
Ein gutes Angebot nennt den Preis früh.
Ein gutes Angebot nennt Inhalt und Dauer klar.
Ein gutes Angebot nennt Regeln klar.
Ein gutes Angebot nennt Kündigung klar.
Bedenkzeit
Ein gutes Angebot respektiert Bedenkzeit.
Ein gutes Angebot arbeitet ohne Druck.
Ein gutes Angebot akzeptiert ein Nein.
Grenzen
Ein gutes Angebot sagt, was es leisten kann.
Ein gutes Angebot sagt auch, was es nicht leistet.
Ein gutes Angebot verweist weiter bei schweren Themen.
Sprache
Ein gutes Angebot erklärt Fachwörter.
Ein gutes Angebot macht keine Heilversprechen.
Ein gutes Angebot macht keine Diagnosen im Verkauf.
Beziehung
Ein gutes Angebot stärkt deine Urteilskraft.
Ein gutes Angebot macht dich unabhängiger.
Ein gutes Angebot bindet dich nicht über Scham.
Hauptaussage in einem Satz (okay in vier)
Der Therapie-Schattenmarkt verkauft oft Nähe und Deutung. Er verkauft sie mit wenig Kontrolle und viel Verkaufstechnik. Darum braucht es klare Kriterien und klare Grenzen.
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Worum es hier geht – und was ausdrücklich nicht gemeint ist
Es gibt Wörter, die in kurzer Zeit eine erstaunliche Karriere machen. „Coach“ ist so ein Wort. Es stand einmal am Spielfeldrand, in Trainingsanzug und Windjacke, und hatte etwas Handwerkliches: jemand sieht etwas, das du selbst nicht siehst, und hilft dir, es zu korrigieren. Heute steht „Coach“ in Profilbeschreibungen, in Podcast-Intros, auf Landingpages. Es steht neben „Trauma“, „Nervensystem“, „inneres Kind“, „Manifestation“, „High Ticket“. Aus einer Rolle ist ein Versprechen geworden, aus einem Handwerk eine Lebensdeutung, aus Begleitung ein Markt. Dieser Text will nicht die Wichtigkeit von Coaching bestreiten. Im Gegenteil: Dass Menschen in Übergängen und Belastungen nicht allein bleiben müssen, ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Eine moderne Gesellschaft erzeugt Komplexität, Tempo und Vereinzelung; sie braucht daher Formen der Orientierung, des Lernens, der Reflexion. Coaching im weiten Sinn gehört dazu. Und doch gibt es einen Punkt, an dem genau dieses legitime Bedürfnis ausbeutbar wird. Dort beginnt mein Gegenstand. Ich schreibe als psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker, zugleich als jemand, der Philosophie studiert hat und die einschlägigen Demutstraditionen kennt: die Einsicht in Kontingenz, in Endlichkeit, in die Tragik des Unverfügbaren. Es ist ein schlechter Ausgangspunkt für Heilsgewissheiten, aber ein guter für Kritik. Diese Kritik ist fundamental, nicht weil sie empört sein will, sondern weil sie an die Wurzel geht: an die strukturellen Bedingungen, unter denen sich „Hilfe“ in ein Verkaufssystem verwandelt. Wer „Coaching“ pauschal ablehnt, zeigt meist, dass er das Feld nicht verstanden hat – dies soll hier nicht unser Take sein. In der Praxis existiert eine ganze Landschaft von Begleitungs- und Beratungsformaten, die sich in Ziel, Expertise, Verantwortlichkeit und Risiko unterscheiden. Da ist zunächst das, was man im engeren Sinn als Kompetenz- und Leistungscoaching bezeichnen kann: sportliches Training, musikalische Ausbildung, Prüfungs- und Lerncoaching. Die Logik ist relativ klar. Es gibt ein Können, das sich verbessern lässt, es gibt Feedback, Übung, Wiederholung. Diese Logik findet sich auch im beruflichen Feld wieder, wenn es um Führung, Kommunikation, Verhandlung, Konfliktmoderation, Rollenklärung oder Entscheidungsarchitektur geht. Executive Coaching und Workplace Coaching sind dafür etablierte Beispiele, und die Forschung hat hier, bei aller methodischen Heterogenität, insgesamt positive Effekte berichtet, vor allem im organisationalen Kontext (Athanasopoulou & Dopson, 2018; Jones et al., 2015; Theeboom et al., 2014; Sonesh et al., 2015). Auch frühe Arbeiten zum Life-Coaching haben, zumindest explorativ, Effekte auf Zielerreichung und metakognitive Variablen untersucht (Grant, 2003). Das heißt nicht: „Coaching ist die Lösung“. Es heißt: Coaching ist als Praxis nicht aus der Luft gegriffen. Neben Coaching im engeren Sinn gibt es Beratung, die eher expertiseförmig ist: Rechts- und Steuerberatung, Managementberatung, Finanzplanung, medizinische Aufklärung, aber auch Berufsberatung oder Studienberatung. Hier ist die Logik nicht primär Prozessbegleitung, sondern Wissensvermittlung und Optionenklärung. Wer diese Formate mit Coaching verwechselt, verwechselt eine Landkarte mit einem Gespräch: Beratung kann eminent hilfreich sein, aber sie hat eine andere Art von Autorität, und sie trägt andere Risiken. Dasselbe gilt für Mediation, Konfliktvermittlung, Organisationsentwicklung, Mentoring und Supervision. Gerade Supervision ist in helfenden Berufen nicht Luxus, sondern Professionalisierungsbedingung: ein institutionalisierter Raum, in dem Macht, Überforderung, blinde Flecken und Grenzprobleme reflexiv bearbeitet werden. Es ist daher kein Zufall, dass die Coachingliteratur Supervision als wichtiges Element professionalisierter Praxis diskutiert (Bachkirova et al., 2020). Zu dieser Landschaft kann man in gewisser Weise auch die auf breiterer Basis noch eher „nichtige“ philosophische Praxis zählen, sofern sie sich als Gespräch über Begriffe, Werte, Lebensformen versteht, nicht als Ersatztherapie. Sie hat eine lange Tradition, von der antiken Lebenskunst bis zur modernen philosophischen Beratung zählen. Aber auch sie kann in Anmaßung kippen, wenn sie vorgibt, das gute Leben als Rezept zu besitzen. Der Punkt ist: Es gibt viele seriöse Formen von Begleitung, Beratung, Reflexion. Und gerade weil diese Landschaft real ist, muss man präzise unterscheiden, statt mit der groben Keule zu arbeiten. Ich will also nicht gegen Coaching schreiben, sondern gegen eine bestimmte Entgrenzung: gegen Life-Coaching in der Grauzone zur Psychotherapie, das die Sprache von Heilung und Entwicklung verwendet, ohne die Verantwortung zu übernehmen, die in therapienahen Feldern zwingend wäre.
Der Ausdruck „Therapieschattenmarkt“ ist scharf, soll er auch sein, aber nicht willkürlich. Er bezeichnet eine Marktform, die aus zwei Quellen zugleich lebt: aus realen Versorgungslücken und aus der kulturellen Sehnsucht nach schneller Sinnstiftung. Man muss das nüchtern aussprechen: Psychotherapie ist in Deutschland stark nachgefragt, die Wartezeiten sind oft lang (siehe andere Artikel). In dieser Lage ist es naheliegend, dass Menschen Alternativen suchen. Sie landen bei Heilpraktikern, bei spirituellen Angeboten, bei Coaches (siehe andere Artikel). Der Schattenmarkt wächst dort, wo das regulierte System Lücken hat. Das allein wäre noch kein Skandal; Märkte reagieren auf Nachfrage. Problematisch wird es, wenn in diesem Schattenmarkt eine Form von Angebot entsteht, die sich therapeutischer Themen bedient, ohne therapeutische Kompetenz und ohne therapeutische Ethik. Es ist die Zone, in der nicht mehr klar gesagt wird: „Hier geht es um Karriereentscheidungen“ oder „hier geht es um Kommunikationskompetenz“, sondern: „Hier geht es um Traumaheilung, Nervensystemregulation, Bindungswunden, Selbstwert, Depression, Angst.“ Das sind keine harmlosen Vokabeln. Sie sind klinisch besetzt. Sie sprechen Menschen an, die sich nicht nur verbessern, sondern erlösen wollen. Dazu kommt ein zweiter Schritt, der entscheidend ist: Diese Angebote sind häufig nicht als offene, verantwortliche Beziehung organisiert, sondern als Produktarchitektur. Man erkennt sie an Programmtiteln, Stufenmodellen, „Masterminds“, „Inner Circles“, an einem Vokabular der Exklusivität und der Dringlichkeit, und an dem Ritual, in dem Nähe in Kauf verwandelt wird: Direktnachricht, Kennenlern-Call, dann die Entscheidung im Gespräch. Nicht selten wird Bedenkzeit rhetorisch delegitimiert; Zweifel gilt nicht als Information, sondern als Symptom. Das ist keine Randbeobachtung, sondern ein struktureller Zug solcher Verkaufsarchitekturen, wie er aus Einfluss- und Konsumpsychologie gut erklärbar ist (Cialdini, 2007; Festinger, 1957; Arkes & Blumer, 1985). Ich werde darauf in späteren Kapiteln ausführlich zurückkommen.
Wichtig ist hier zunächst die begriffliche Pointe: Der „Therapieschattenmarkt“ ist nicht einfach „Coaching“. Er ist eine Hybridform. Er mischt Elemente aus psychotherapeutischer Semantik, populärpsychologischen Techniken und Verkaufspsychologie. Er kann dadurch zugleich warm wirken und gefährlich sein: warm, weil er Nähe, Verständnis, Zugehörigkeit verspricht; gefährlich, weil er diese Versprechen nicht in eine professionelle Verantwortung einbettet. Das führt zu einem Paradox, das in dieser Grauzone fast systematisch wird: Das Angebot immunisiert sich gegen Kritik, indem es Kritik psychologisiert. Wenn es nicht wirkt, dann nicht, weil die Methode begrenzt wäre, sondern weil du „nicht bereit“ bist, „zu wenig Commitment“ hast, „Widerstand“ zeigst, „dein Mindset“ sabotiert. Damit wird Misserfolg nicht als möglicher Hinweis auf Unpassung interpretiert, sondern als moralischer Makel. Das Ergebnis ist ein perfekt geschlossenes System: Es kann nicht falsch sein, weil es jedes Gegenargument in das Innenleben des Klienten zurückverlagert. Genau hier liegt die fundamentale Differenz zu seriösen Beratungs- und Therapieformaten: Dort, wo Professionalisierung ernst genommen wird, gehört die Möglichkeit des Scheiterns zur Ethik. Man muss das eigene Tun falsifizierbar halten. Man muss Grenzen anerkennen, Indikation prüfen, notfalls verweisen. Das gilt in der Psychotherapie ebenso wie in gutem Coaching.
Man könnte einwenden: „Das ist eben moderne Selbsthilfekultur. Lass die Leute doch.“ Ich halte das für zu bequem. Denn der Punkt ist nicht, dass Menschen sich verändern wollen. Der Punkt ist, dass die ökonomische Form, in der dieses Veränderungsbegehren organisiert wird, Risiken erzeugt, die sich nicht durch guten Willen neutralisieren lassen. Schon die Coachingforschung selbst hat in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass Coaching keine nebenwirkungsfreie Zone ist. Es gibt Literaturreviews und Studien, die negative Effekte thematisieren, etwa Abhängigkeiten, Konfliktverschärfungen, Selbstwertschäden oder Verschlechterungen von Befindlichkeit, und sie diskutieren Moderatoren wie Beziehungsgüte, Coach-Erfahrung und professionelle Rahmenbedingungen (Graßmann & Schermuly, 2016; Schermuly & Graßmann, 2018). Das ist eine wichtige Nüchternheit des Feldes. Sie erinnert daran, dass jede wirksame Intervention Nebenwirkungen haben kann. In der Psychotherapie ist diese Einsicht längst etabliert; Lilienfeld (2007) hat eindrücklich beschrieben, dass psychologische Behandlungen nicht nur scheitern, sondern auch schaden können. Die Antwort darauf lautet nicht: „Dann lassen wir es.“ Die Antwort lautet: Qualitätsarchitekturen, Ausbildung, Supervision, Ethik, Rechenschaft. Wenn aber Coaching bereits im regulierteren, organisationalen Segment Nebenwirkungen kennt, stellt sich eine einfache Frage: Was geschieht in einem Markt, der strukturell weniger korrigierbar ist? In einem Markt, in dem Qualifikation oft nicht prüfbar ist, in dem die Beziehung zugleich Produkt ist, und in dem wirtschaftliche Anreize nahelegen, Menschen im System zu halten statt sie zu verweisen? Hier trifft sich Professionskritik mit Kulturkritik. Der Therapieschattenmarkt ist nicht nur ein Geschäftsmodell; er ist auch ein Symptom der Gegenwart. Er passt zu einer Gesellschaft, die das Subjekt als Projekt versteht, als „Unternehmer seiner selbst“, der sein Leben optimiert wie ein Portfolio (Rose, 1999). Er passt zu einer Kultur, in der Erschöpfung nicht als politisch-ökonomisches Problem gelesen wird, sondern als persönliches Managementversagen (Han, 2015). Er passt zu jener Privatisierung des Leidens, die Mark Fisher so präzise beschrieben hat: Strukturprobleme werden in Seelenprobleme umgegossen, und die Lösung wird als individuelle Willensleistung verkauft (Fisher, 2009). Und er passt zu einer therapeutischen Kultur, in der Gefühle, Selbstarbeit und „Authentizität“ zur Ware werden, oft ohne therapeutische Ethik und ohne institutionelle Verantwortung (Furedi, 2004; Illouz, 2008).
Das heißt nicht, dass jeder Coach ein Zyniker sei. Es heißt, dass die Struktur zynisch wirken kann, auch wenn die Einzelnen es nicht sind. Eine Vertriebsarchitektur kann Mitgefühl simulieren, ohne Verantwortung zu tragen. Sie kann Nähe anbieten, ohne Gegenseitigkeit zu riskieren. Und sie kann Kritik so umcodieren, dass sie nicht mehr als Kritik existiert. Wer sich einmal in diese Logik hineinbegibt, merkt oft spät, dass er nicht in eine Beziehung eingetreten ist, sondern in ein System.
Ich will diesen Essay daher als Analyse einer Struktur schreiben, nicht als Charakterkunde einzelner Anbieter. Ich will zeigen, wie der Therapieschattenmarkt Vertrauen erzeugt, wie er Vertrauen in Kauf verwandelt, wie er sich gegen Zweifel immunisiert und warum er besonders dort wirksam ist, wo Menschen am wenigsten autonom sind: in Krisen, in Erschöpfung, in Einsamkeit, im beginnenden depressiven Rückzug. Das ist nicht moralische Empörung, sondern klinische Vorsicht. Der Text wird dabei zweierlei leisten. Erstens: Er wird sich auf wissenschaftliche Literatur stützen, nicht um akademisch zu posieren, sondern um Begriffe und Risiken sauber zu halten. Zweitens: Er wird das Feld als Primärmaterial ernst nehmen. Wer die Gegenwart kritisieren will, sollte sie auch ansehen, nicht nur über sie reden. Ich werde daher später auf systematisch erhobene Beispiele aus öffentlicher Selbstdarstellung und Angebotsarchitektur zurückgreifen, ohne Namen zu nennen und ohne Pranger, aber mit der Präzision, die man braucht, wenn man fundamentale Kritik nicht als Stil, sondern als Argument betreiben will. Und schließlich, als vielleicht wichtigste Pointe: Dieser Essay ist keine Absage an die Hilfe durch Coaching. Er ist eine Absage an Hilfe ohne Verantwortung. Denn wer mit vulnerablen Menschen arbeitet, arbeitet nicht mit „Mindset“, sondern mit Schicksal, mit Angst, mit Scham, mit Abhängigkeit und Hoffnung. Das sind keine Rohstoffe, die man in Programme gießt. Das sind Gründe, vorsichtig zu sein.
Eine typische Szene (und warum sie kein Einzelfall ist)
Es beginnt selten mit einer großen Entscheidung. Es beginnt mit etwas viel Modernerem: mit einem beiläufigen Scrollen. Du sitzt abends auf dem Sofa, vielleicht ist es schon nach Mitternacht, vielleicht ist es der Moment zwischen zwei Tagen, in dem man für einen Augenblick glaubt, noch „kurz“ den Kopf auslüften zu können. Der Algorithmus spült dir ein Video vor die Füße. Es ist glatt, hell ausgeleuchtet, die Stimme ruhig, die Botschaft eindeutig: „Wenn du dich heute noch klein hältst, ist das nicht die Welt – das bist du.“ Oder: „Dein Nervensystem ist dysreguliert, deshalb findest du keinen Partner.“ Oder: „Du bist nicht depressiv, du bist nur noch nicht in Alignment.“ Die Aussage ist nie kompliziert, sie ist immer rund, sie klingt wie eine Diagnose und wie eine Befreiung zugleich. Du spürst etwas, das dich trifft – und schon ist der erste Schritt getan: Aufmerksamkeit ist gebunden. Im Kommentarbereich stehen Menschen, die danken. Manche schreiben: „Ich habe mich noch nie so gesehen gefühlt.“ Jemand erwähnt ein Programm, jemand anderes postet ein Vorher-nachher. Die Sprache ist auffällig gleichförmig: „Transformation“, „Fülle“, „Durchbruch“, „endlich bei mir angekommen“. Es wirkt wie ein Chor – und in der Kommunikationswissenschaft ist ziemlich gut beschrieben, warum ein Chor wirkt: nicht, weil er „beweist“, dass etwas wahr ist, sondern weil er soziale Bewährtheit herstellt (Cialdini, 2007). Wer in einem Moment der Verunsicherung auf ein solches Feld trifft, erlebt nicht Information, sondern Atmosphäre. Dann kommt oft der zweite Schritt: Nähe wird personalisiert. „Schreib mir ‘READY’ in die DMs“, heißt es, oder: „Kommentiere ‘JA’, dann schicke ich dir den Link.“ Es ist eine kleine Handlung, harmlos, aber nicht ohne Bedeutung. In der klassischen Compliance-Forschung ist dieser Mechanismus bekannt: Eine geringe, zustimmende Handlung erhöht die Wahrscheinlichkeit späterer Zustimmung zu einer größeren Bitte – weil wir dazu neigen, Konsistenz zu wahren (Freedman & Fraser, 1966). Was als freundliche Interaktion beginnt, etabliert eine Beziehungslinie. Und Beziehungslinien sind in einem Markt, der von Vertrauen lebt, Währung. Du schreibst also. Du bekommst eine Antwort, die sich erstaunlich individuell anfühlt. Vielleicht ist es ein Template, vielleicht nicht – es spielt zunächst keine Rolle. Die Tonlage ist warm: „Erzähl mir mal, wo du gerade stehst.“ Dann kommen Fragen, die sehr schnell sehr intim werden. Was belastet dich? Wie ist dein Verhältnis zu Geld, zu Liebe, zu deinem Körper? Was war in deiner Kindheit? Du merkst, wie rasch hier ein Raum geöffnet wird, der normalerweise nicht in die ersten fünf Minuten eines Kennenlerngesprächs gehört. Das kann sich nach „Endlich versteht mich jemand“ anfühlen – und zugleich ist es ein Setting, in dem asymmetrische Nähe entsteht. Horton und Wohl haben schon in den 1950er Jahren beschrieben, wie mediale Formate eine Art Intimität auf Distanz erzeugen können: ein Erleben von Beziehung, das psychologisch real ist, strukturell aber einseitig bleibt (Horton & Wohl, 1956). Das gilt heute nicht mehr nur für Radio- und Fernsehmoderatoren, sondern für Coach-Personas, die über Reels, Lives und Storylines permanent anwesend sind. Nähe wird hier nicht zufällig erzeugt, sie ist Teil der Architektur.
Kurz darauf folgt der dritte Schritt: der Call. Nicht selten wird er als „Kennenlernen“ gerahmt, als „kostenloses Gespräch“, als „kein Pitch“. Im Call wird dann, scheinbar ganz selbstverständlich, zuerst das Leid ausgeleuchtet. Nicht selten wird es vergrößert. „Was kostet dich das, wenn du so weitermachst?“ „Wie fühlt es sich an, wenn du in drei Jahren noch am gleichen Punkt bist?“ Das ist, wenn man es nüchtern formuliert, eine Technik der Problemverengung: Aus einer diffusen Lebenslage wird ein drängendes Defizit. Dann kommt die Lösung – oft als Paket, oft als Stufenleiter, oft als „nur jetzt“. Das klassische Instrumentarium der Einflusspsychologie ist hier gut dokumentiert: Knappheit, Dringlichkeit, soziale Bewährtheit, Autoritätsinszenierung, Reziprozität („ich habe dir doch schon so viel gegeben“) und Konsistenzdruck (Cialdini, 2007). Der Eindruck ist nicht: „Ich prüfe in Ruhe ein Angebot.“ Der Eindruck ist: „Ich stehe an einer Schwelle, und diese Schwelle muss jetzt überschritten werden.“
Spätestens an dieser Stelle taucht häufig eine eigentümliche Moral auf. Es geht nicht mehr nur um Geld, es geht um Würde. „Du bist es dir wert.“ „Wer wirklich will, findet einen Weg.“ „Wenn du jetzt zögerst, ist das dein Muster.“ Die Alternative zum Kauf wird nicht als legitime Entscheidung behandelt, sondern als Symptom. Und damit entsteht jene Situation, die man fast als Double Bind des Marktes bezeichnen könnte: Wenn du kaufst, verlierst du Geld; wenn du nicht kaufst, verlierst du – im Framing des Angebots – Selbstachtung. Solche moralischen Closings sind kein rhetorisches Ornament, sie sind ein Eingriff in das, was man in der Psychologie als Bewertungs- und Realitätsprüfungsfunktionen bezeichnen würde. Zweifel wird nicht als Information gelesen, sondern als Defekt.
Wenn du dann kaufst – und viele kaufen an dieser Stelle –, ist die Geschichte nicht zu Ende, sondern sie beginnt erst. Denn hohe Preise sind nicht nur ökonomische Größen, sie sind psychologische Ereignisse. Ein hoher Einsatz verändert die innere Logik: Man hat investiert, man hat sich entschieden, man muss die Entscheidung rechtfertigen. Und nun kommt die kognitive Dissonanz bzw. der Versuch ihrer Vermeidung ins Spiel. Mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz hat Festinger einen Zustand beschrieben, der entsteht, wenn Verhalten und Überzeugungen nicht gut zusammenpassen – und wie stark der Druck sein kann, diese Spannung zu reduzieren, etwa durch nachträgliche Aufwertung der Entscheidung (Festinger, 1957). Mit Arkes und Blumer können wir den Sunk-Cost-Effekt als Eskalation bereits getätigter Investitionen mit anführen: Wer bereits „drin“ ist, bleibt eher drin, selbst wenn es nicht gut läuft (Arkes & Blumer, 1985). Und Aronson und Mills haben experimentell gezeigt, wie „harte Initiationen“ die Wertschätzung einer Gruppe erhöhen können – je mehr man opfert, desto mehr muss es „wert“ sein (Aronson & Mills, 1959). Man kann darüber lächeln, bis man merkt, dass High-Ticket-Coaching genau diese psychischen Mechanismen ausnutzt: Der Preis wird Teil der Wirkung. Er ist nicht nur Barriere, er ist Ritual.
Dass Marketing- und Kontextmerkmale das Erleben von Wirksamkeit modulieren können, ist sogar aus der Placebo- und Neuroökonomie-Literatur bekannt: Erwartungen und Rahmung verändern, wie Menschen Erfahrungen bewerten und empfinden (Plassmann et al., 2008; Waber et al., 2008). Das bedeutet nicht, dass jede teure Dienstleistung „placebo“ ist. Es bedeutet nur: Je stärker ein Angebot über Erwartungsmanagement funktioniert, desto vorsichtiger muss man werden, wenn es gleichzeitig therapienahe Versprechen macht.
Bis hierher könnte man sagen: Das ist eben modernes Marketing. Warum daraus eine Fundamentalkritik machen?
Weil das beschriebene Setting nicht einfach irgendein Konsumfeld ist. Es ist ein Feld, das sich an Menschen richtet, die nicht nur eine neue Kaffeemaschine wollen, sondern weniger Angst, weniger Scham, weniger Einsamkeit. Es arbeitet mit Begriffen, die aus klinischen und existenziellen Registern stammen. Und es tut dies häufig ohne jene Grenzen und Verantwortlichkeiten, die in den entsprechenden Professionen mühsam aufgebaut wurden. Damit ist die Szene nicht bloß unerquicklich. Sie ist strukturell riskant.
Man könnte die Szene als anekdotisch abtun. Aber sie ist – und das ist eine meiner zentralen Behauptungen – weniger Einzelfall als Genre. In einer eigenen, systematischen Auswertung öffentlich zugänglicher Angebotsstrecken lässt sich zeigen, dass bestimmte Funnel-Architekturen und Dringlichkeitsmuster nicht zufällig auftreten, sondern regelhaft. Und auch in der breiteren Forschung zu digitalen Verkaufsarchitekturen gibt es seit Jahren den Begriff der „Dark Patterns“: Gestaltungsmuster, die Nutzer:innen in Entscheidungen drängen, die sie bei voller Transparenz möglicherweise nicht treffen würden (Gray et al., 2018). Countdown-Timer, künstliche Verknappung, versteckte Preisbestandteile, erschwerte Rückabwicklung: Das sind nicht die Fehler einzelner Anbieter, sondern bekannte Elemente eines manipulativen Design-Repertoires. Der entscheidende Punkt ist jedoch nicht, dass solche Muster existieren – sondern dass sie in der Coaching-Grauzone eine besondere Funktion erhalten. In einem normalen Konsumfeld ist der „Schaden“ meist begrenzt: Man bereut einen Kauf, ärgert sich, lernt. In einem therapienahen Feld ist die Lage anders. Hier wird nicht nur Geld investiert, sondern Hoffnung; nicht nur Zeit, sondern Identität; nicht nur eine Entscheidung, sondern ein Bild davon, wer man sein könnte, wenn man endlich „durchbricht“. Je mehr ein Angebot in das Selbstbild eingreift, desto höher wird die Verantwortung, die es trägt. Und gerade diese Verantwortung wird im Schattenmarkt oft rhetorisch abgewehrt. Ein typisches Abwehrinstrument ist der Disclaimer: „Das ist keine Therapie.“ Man findet ihn als Satz in AGB, im Kleingedruckten, in FAQ. Aber gleichzeitig ist das Angebot voller Therapiesprache, voller Heilungssemantik, voller Diagnosen auf dem Niveau von Instagram-Schnelldiagnostik. Das ist nicht bloß Widersprüchlichkeit. Es ist eine Form von Grenzarbeit, die man in der Wissenschaftssoziologie als „boundary work“ bezeichnet: Grenzen werden gezogen, um Legitimität und Haftungsdistanz zu sichern – und gleichzeitig so durchlässig gehalten, dass man von den attraktiven Bedeutungen jenseits der Grenze profitieren kann (Gieryn, 1983). Im Coachingfeld zeigt sich diese Grenzarbeit besonders scharf: „Nicht Therapie“ schützt, „Trauma“ verkauft.
Noch einmal: Es geht nicht darum, jedem Coach Pseudo-Therapie vorzuwerfen. Es geht darum, dass ein Markt entstanden ist, der von dieser Ambivalenz lebt. Und weil er davon lebt, reproduziert er sie.
Wenn ich nun also von „Therapieschattenmarkt“ spreche, meine ich deshalb nicht einfach: „Da draußen gibt es unseriöse Leute.“ Ich meine: Es gibt eine Struktur, in der drei Dinge zusammenkommen, und aus dieser Kombination entsteht ein neues, problematisches Genre.
Erstens: Vulnerabilität. Menschen kommen in Krisen, mit Erschöpfung, mit Beziehungsschmerz, mit dem Gefühl, dass sie sich selbst verloren haben. Sie suchen keine Information, sondern Halt. In solchen Lagen ist das Bedürfnis nach einem wissenden Anderen, nach einer Figur, die Ordnung in inneres Chaos bringt, besonders groß. Psychoanalytisch würde man sagen: Hier ist das Feld der Übertragung offen. Das ist kein Vorwurf, sondern ein anthropologischer Befund. Jeder, der mit Menschen arbeitet, arbeitet mit Übertragung – die Frage ist nur, ob er sie erkennt und begrenzt, oder ob er sie monetarisiert.
Zweitens: Marktlogik. Coaching in der Grauzone ist häufig nicht als Beziehung, sondern als Produkt organisiert. Programme sind skalierbar, Funnels sind skalierbar, Gruppen sind skalierbar. Der Markt selektiert dann nicht zwingend die Qualifiziertesten, sondern oft die Sichtbarsten, die Gewissesten, die am besten konvertieren. In der Professionssoziologie hat man solche Felder als Märkte von Vertrauensgütern beschrieben: Der Kunde kann Qualität vorab kaum beurteilen, oft auch hinterher nur schwer – und daher gewinnt Symbolik, Reputation, Erzählung eine überproportionale Bedeutung (Darby & Karni, 1973; O’Neill, 2002). Sichtbarkeit wird zu einer Art Ersatzqualifikation. Das gilt besonders in Plattformumgebungen, in denen parasoziale Nähe Vertrauen erzeugt, ohne dass die Beziehung jemals wechselseitig kontrollierbar wäre (Horton & Wohl, 1956).
Drittens: Entgrenzung. Der Markt bleibt nicht bei Kompetenzfeldern stehen. Er greift nach dem Ganzen. Das ist die zentrale Wende: Aus „ich helfe dir, besser zu verhandeln“ wird „ich heile deine Bindungswunden“, aus „ich unterstütze deine Karriereentscheidung“ wird „ich reguliere dein Nervensystem“. Mit dieser Entgrenzung wird das Angebot anschlussfähig an psychotherapeutische Themen – aber ohne psychotherapeutische Verantwortung.
Man könnte an dieser Stelle sagen: „Aber wenn es hilft, ist es doch gut.“ Diese Haltung übersieht zweierlei. Erstens: Hilfe kann Nebenwirkungen haben. Schon die Coachingforschung diskutiert negative Effekte und Schutzfaktoren; sie kennt das Problem von Verschlechterungen, Abhängigkeiten, Konfliktverschärfungen, und sie betont professionelle Reflexionsräume wie Supervision (Bachkirova et al., 2020; Graßmann & Schermuly, 2016; Schermuly & Graßmann, 2018). Zweitens: In einem Vertriebssetting wird Erfolg häufig so gerahmt, dass er sich selbst bestätigt. Wenn es klappt, war es die Methode. Wenn nicht, war es dein Mindset. Genau das macht den Therapieschattenmarkt so stabil: Er produziert nicht nur Produkte, er produziert auch Deutungen, die das System immunisieren.
Hier, im Zusammenspiel von Vulnerabilität, Marktlogik und Entgrenzung, entsteht das, was ich kritisieren will. Es ist eine Hilfe, die sich wie Hilfe anfühlt, aber anders gebaut ist als professionelle Hilfe. Sie ist warm in der Oberfläche und kalt in der Verantwortlichkeit. Sie verspricht Freiheit und baut Bindung. Sie verkauft Klarheit und pathologisiert Zweifel. Sie bietet Identität an und macht die Identitätskrise zur Conversion-Strecke.
Die weiteren Kapitel werden diese Struktur nicht nur behaupten, sondern ausleuchten: Wie Vertrauen hergestellt wird, wie es in Kauf verwandelt wird, welche Sprache dabei als psychische Architektur dient, wie Kritik abgewehrt und Ausstieg erschwert wird, warum Kompetenzüberschätzung systemisch belohnt wird und warum das Recht inzwischen an bestimmten Stellen überhaupt relevant wird. Der rote Faden bleibt dabei derselbe: Nicht jeder Coach ist das Problem, aber das Genre ist es – und zwar nicht wegen einzelner „schlechter Menschen“, sondern wegen seiner Bauweise.
Coaching wirkt – und gerade deshalb gibt es Nebenwirkungen
Die öffentliche Debatte liebt einfache Alternativen. Entweder ist etwas ein Heilsversprechen oder ein Betrug; entweder rettet es oder es ist „toxisch“. Im wirklichen Leben – und erst recht in jeder seriösen Helferprofession – ist die Lage unromantischer. Wo etwas wirkt, kann es auch schaden. Wo Veränderung möglich ist, sind Nebenwirkungen möglich. Das gilt für Medikamente, für Pädagogik, für Führung, für Therapie – und es gilt, bei aller glatten Selbsthilferhetorik, auch für Coaching.
Genau deshalb möchte ich das Feld nicht mit der polemischen Geste abräumen, sondern mit einer wissenschaftlich nüchternen, aber klinisch wachen Grundfigur eröffnen: Coaching hat empirisch belegbare Effekte – und Coaching ist nicht nebenwirkungsfrei. Wer das erste verschweigt, wirkt ideologisch; wer das zweite verschweigt, wirkt naiv oder interessengeleitet.
Was die Forschung zur Wirksamkeit sagt – und was sie nicht sagt
Beginnen wir mit dem, was man ohne schlechtes Gewissen anerkennen kann. Die Meta-Analysen zur Wirksamkeit von Coaching im organisationalen Kontext berichten insgesamt positive Effekte auf unterschiedliche Outcome-Klassen, etwa auf Leistung, affektive Variablen, Kompetenzen und Zielerreichung, auch wenn die Effektstärken variieren und der Forschungsstand heterogen ist (Theeboom et al., 2014; Jones et al., 2016; Sonesh et al., 2015). Systematische Reviews, insbesondere im Executive-Coaching-Bereich, zeigen ebenfalls ein Spektrum positiver Outcomes – und zugleich eine methodische und konzeptuelle Vielfalt, die zur Vorsicht zwingt (Athanasopoulou & Dopson, 2018). Coaching ist also nicht bloß eine Erzählung; es gibt eine empirische Literatur, die Effekte plausibel macht. Aber genau hier muss man die zweite Hälfte des Satzes hinzufügen, die in der Selbstoptimierungsindustrie fast immer fehlt: Wirksamkeit ist nicht gleichbedeutend mit einem Freibrief für Entgrenzung. Erstens ist ein großer Teil dieser Forschung in organisationalen Kontexten verortet, oft mit relativ klaren Ziel- und Rollenrahmen. Zweitens sind Messprobleme im Feld kein Randthema: Selbstberichte, Selektionsprozesse (wer nimmt Coaching in Anspruch?), Erwartungseffekte und Publication Bias können die Befundlage verzerren (Athanasopoulou & Dopson, 2018; Theeboom et al., 2014). Drittens wird in vielen Studien nicht systematisch erhoben, was uns für diesen Essay besonders interessiert: unerwünschte Effekte. Das ist ein bezeichnender blinder Fleck. In der Psychotherapie wurde schmerzhaft gelernt, dass es nicht reicht zu fragen „wirkt es?“ – man muss auch fragen: „Für wen wirkt es? Unter welchen Bedingungen? Und was kostet es, wenn es nicht wirkt?“ (Lilienfeld, 2007). Coachingforschung bewegt sich, mit Verzögerung, in eine ähnliche Richtung. Und damit sind wir bei dem Punkt, an dem meine Fundamentalkritik beginnt, ohne antiintellektuell zu werden: Wenn schon in den bestuntersuchten Segmenten – Workplace, Executive, professioneller Kontext – die Evidenz heterogen ist und Nebenwirkungen lange unterbelichtet waren, dann ist es schlicht unvernünftig, im unregulierten Life-Coaching-Markt mit therapeutischer Semantik und maximalen Heilsversprechen zu operieren, als gäbe es keine Risiken. Ein instruktives Gegenbeispiel ist Coaching dort, wo es professionell eingebettet ist und nicht als Verkaufsmaschinerie daherkommt. Dyrbye und Kolleg:innen untersuchten etwa in einer randomisierten Pilotstudie die Effekte professionellen Coachings auf Wohlbefinden und Distress bei Ärzt:innen – ein Setting, in dem man nicht mit metaphysischen Versprechen arbeitet, sondern mit klarer Prozessbegleitung (Dyrbye et al., 2019). Solche Studien sind nicht perfekt und nicht „der Beweis“, aber sie zeigen, was im besten Fall möglich ist: Coaching als begrenzte, reflektierte Intervention, nicht als Erlösungsindustrie. Der erwachsene Umgang mit einem Feld beginnt dort, wo man nicht nur seine Möglichkeiten, sondern auch seine Risiken thematisiert. In der Coachingliteratur ist diese Diskussion inzwischen vorhanden – und das ist bemerkenswert, weil sie dem Markt widerspricht, der am liebsten so tut, als sei jede Veränderung nur eine Frage des „Commitments“. Ein zentraler Befund aus der Nebenwirkungsforschung ist zunächst banal und zugleich brisant: negative Effekte sind nicht nur theoretisch denkbar, sondern werden berichtet. Graßmann und Schermuly untersuchten Nebenwirkungen aus Sicht von Coachees und identifizierten verschiedene Formen unerwünschter Effekte, von emotionaler Belastung über Konfliktverschärfungen bis zu Abhängigkeitstendenzen und einer Verschlechterung von Befinden (Graßmann & Schermuly, 2016). In ihrem Literaturreview systematisieren Schermuly und Graßmann, was über negative Effekte bekannt ist und – noch wichtiger – was methodisch fehlt: standardisierte Erfassung, klare Definitionen, systematische Berichterstattung (Schermuly & Graßmann, 2019). Ein Feld, das Nebenwirkungen nicht routinemäßig erhebt, läuft Gefahr, sie zu bagatellisieren. In der Selbsthilfekultur wird Bagatellisierung dann leicht zur Norm.
Warum ist das für unseren Kontext so entscheidend? Weil die Grauzone, die ich „Therapieschattenmarkt“ nenne, nicht nur dieselben Risiken wie regulierteres Coaching hat, sondern strukturell zusätzliche.
Im organisationalen Coaching ist der Gegenstand häufig begrenzt: Rolle, Kommunikation, Entscheidungsstil. Im Life-Coaching der Grauzone ist der Gegenstand entgrenzt: Identität, Sinn, Beziehung, „Trauma“, „Nervensystem“, Selbstwert. Damit steigen die Risiken aus drei Gründen.
Erstens: Je existenzieller der Gegenstand, desto schmerzhafter die Nebenwirkung. Ein missglückter Coachingprozess im Feld „Präsentationskompetenz“ ist unerquicklich. Ein missglückter Prozess, der an „Bindungswunden“ herumarbeitet, kann retraumatisieren oder zumindest eine labile Selbstdeutung destabilisieren – besonders wenn keine klinische Kompetenz vorhanden ist, Indikationen zu erkennen oder zu verweisen. Das ist kein moralischer Vorwurf, sondern eine Frage des Kompetenzumfangs.
Zweitens: Je unklarer die Grenze, desto größer der Raum für Schuldumlenkung. Wenn ein Angebot behauptet, es gehe um „Transformation“, dann ist Scheitern schwer als schlichtes „Nicht-Passen“ zu interpretieren. Scheitern wird dann schnell moralisiert: nicht „falsches Angebot“, sondern „du hast es nicht durchgezogen“. Das ist keine Kleinigkeit. Es ist eine Intervention am Selbstwert.
Drittens: Je stärker das Geschäftsmodell auf Bindung und Upsell beruht, desto unwahrscheinlicher wird ein ehrliches „Refer-out“. In professionellen Feldern gehört es zur Ethik, Grenzen zu kennen. In Vertriebsfeldern gehört es zur Logik, Grenzen zu dehnen.
Dass diese Risiken nicht aus der Luft gegriffen sind, lässt sich indirekt daran ablesen, dass selbst die Coachingliteratur, die innerhalb des Feldes schreibt, immer wieder vor „beautiful ideas“ warnt, die in falscher Einbettung krank machen können: Positivitätsimperative, Selbstverantwortungsdogmen, das Übersehen von Kontext und Macht (Bachkirova & Borrington, 2020). Wenn „Selbstverantwortung“ zur Moral wird, ist Scheitern nicht mehr ein Ereignis, sondern ein Makel.
Welche Faktoren schützen – und was das über Professionalität verrät
Eine Nebenwirkungsdiskussion ist nur dann sinnvoll, wenn sie nicht in Pessimismus endet. Interessant ist daher die Frage: Was schützt? Und die Antwort ist, in ihrer Struktur, fast schon ein Argument für sich: Schutzfaktoren sind meist genau jene Elemente, die ein unregulierter Schattenmarkt tendenziell nicht systematisch bereitstellt.
Ein wichtiger Schutzfaktor ist die Qualität der Arbeitsbeziehung. In der Coachingforschung wird Working Alliance als zentraler Wirkfaktor diskutiert – nicht als romantische „Chemie“, sondern als Bündnis über Ziele, Aufgaben und Beziehung, also als Rahmen, in dem Konflikt, Widerstand und Ambivalenz bearbeitet werden können, statt moralisch weggedrückt zu werden (Gessnitzer & Kauffeld, 2015). Das ist fast schon eine Brücke zur psychoanalytischen Perspektive: Wo Beziehung nicht nur Mittel zum Abschluss ist, sondern Gegenstand der Reflexion, sinkt das Risiko der Überwältigung.
Ein weiterer Schutzfaktor ist Supervision. In der systematischen Literaturübersicht zu Supervision im Coaching wird sichtbar, dass Supervision nicht nur ein „nice to have“ ist, sondern eine professionelle Infrastruktur, in der blinde Flecken, Grenzprobleme und Gegenübertragungsphänomene bearbeitet werden können (Bachkirova et al., 2020). Gerade dort, wo Coaches mit menschlicher Not in Kontakt kommen, ist Supervision nicht Dekoration, sondern eine Bedingung, um nicht in Allmachtsphantasien oder in die Verwechslung von Rolle und Person zu geraten.
Damit sind wir bei einem Punkt, der für deinen Essay zentral ist: Der Unterschied zwischen seriöser Begleitung und Schattenmarkt ist nicht primär die Methode, sondern die Einbettung. Zwei Personen können ähnliche Fragen stellen; die eine tut es im Rahmen von Ethik, Reflexion, Kompetenzgrenzen, Supervision. Die andere tut es als Teil einer Funnel-Architektur, in der jede Frage auf eine Kaufentscheidung zuläuft. In der Oberfläche kann das ähnlich wirken. In der Struktur ist es ein anderer Planet.
Die Coachingforschung hat zudem gezeigt, dass individuelle Dispositionen eine Rolle spielen können. So gibt es Hinweise, dass Persönlichkeitseigenschaften wie Neurotizismus bei Coachees oder die Novizität von Coaches mit dem Auftreten negativer Effekte zusammenhängen und dass Supervision hier moderierend wirken kann (Graßmann & Schermuly, 2018). Das ist ein nüchterner, empirisch anschlussfähiger Punkt: Risiken sind nicht nur „schlechte Menschen“, sie sind Interaktionen zwischen Person, Setting und Rahmen.
Und genau deshalb ist die Frage der Rahmenbedingungen – Ausbildung, Supervision, Ethik, klare Grenzen – nicht ein konservativer Standesreflex, sondern eine empirisch begründbare Vorsichtsmaßnahme.
Was diese Befunde für die Kritik des vorliegenden Essays bedeuten
Man könnte an dieser Stelle meinen: Wenn Coaching wirkt und Risiken bekannt sind, dann müsste man doch „nur“ Qualitätsstandards stärken und gut ist. Das wäre eine sinnvolle Schlussfolgerung – wenn es um Coaching als Feld ginge. Mein Essay richtet sich aber gegen eine spezielle Marktform: gegen die therapienahe, entgrenzte, vertriebsgetriebene Grauzone. Und genau hier kehren die Befunde als Argument zurück. Die seriöse Coachingliteratur, die Wirksamkeit belegt, tut das typischerweise in Kontexten, in denen Grenzen, Rollen und Verantwortlichkeiten eher definierbar sind (Theeboom et al., 2014; Jones et al., 2016). Die seriöse Literatur, die Nebenwirkungen diskutiert, tut das gerade, weil sie erkennt, dass ein Feld, das mit Menschen arbeitet, ohne Nebenwirkungsbewusstsein unprofessionell wäre (Schermuly & Graßmann, 2019). Und die Literatur, die Supervision betont, tut das, weil sie weiß, dass Reflexion nicht als moralische Tugend ausreicht, sondern als Infrastruktur gebraucht wird (Bachkirova et al., 2020).
Was folgt daraus? Nicht: „Coaching abschaffen.“ Sondern: Es ist unverantwortlich, im unregulierten Schattenmarkt mit therapienaher Semantik, psychologischer Deutung und High-Ticket-Vertrieb so zu operieren, als wäre das eine nebenwirkungsfreie Wellnesspraxis. Die Forschung liefert dafür keine Entlastung, sondern eher eine Warnung: Schon in regulierteren Kontexten gibt es Nebenwirkungen; je schlechter die Einbettung, desto größer das Risiko, dass Nebenwirkungen nicht erkannt, nicht bearbeitet, nicht begrenzt werden. Es ist hier wichtig, die Kritik nicht in Moral zu übersetzen. Der Therapieschattenmarkt ist nicht gefährlich, weil dort nur „böse“ Menschen arbeiten. Er ist gefährlich, weil er strukturell die falschen Anreize setzt: Erfolg wird verkauft, Scheitern wird individualisiert, Grenzen werden rhetorisch behauptet und praktisch unterlaufen, und professionelle Reflexionsräume sind oft optional oder fehlen. Das Ergebnis ist eine Form von Hilfe, die sich selbst nicht korrigieren muss – weil sie sich gegen Korrektur immunisieren kann.
Die nächste Frage lautet daher nicht mehr: „Wirkt Coaching?“ Sondern: Welche Art von Beziehung wird hier angeboten, und welche Art von Macht wird dabei ausgeübt? In regulierten Feldern existieren zumindest Korrekturmechanismen: Ausbildung, Supervision, Ethikdiskurse, Beschwerdewege. Im Schattenmarkt wird das Korrektiv häufig durch Rhetorik ersetzt: „Du hast es nicht richtig umgesetzt.“ Das ist nicht nur ein psychologischer Satz, es ist ein ökonomischer Satz. Er schützt das Produkt.
Nun bauen wir die Brücke zu dem, was jetzt folgen muss: der entscheidende Unterschied zwischen Verantwortung und Verkauf. Wenn wir verstanden haben, dass Coaching wirken kann und dennoch Nebenwirkungen hat, können wir präzise fragen, was passiert, wenn Nebenwirkungen in einem Markt auftreten, der keine professionellen Mechanismen hat, sie zu erkennen und zu begrenzen – und der zugleich ein Interesse daran hat, den Klienten im System zu halten. Das ist der Punkt, an dem aus Coaching eine Schattenform von Therapie werden kann: therapienah in der Sprache, therapiefern in der Verantwortung.
Der entscheidende Unterschied – Verantwortung vs. Verkauf
Wer einmal eine Stunde in einem psychotherapeutischen Setting erlebt hat und auch einmal in einem „Kennenlern-Call“ eines High-Ticket-Coaches gelandet ist, der spürt bei Letzterem vielleicht: Hier sind nicht nur Methoden verschieden, hier ist eine andere Logik am Werk. Das eine ist ein Raum, in dem Verantwortung institutionell gerahmt ist. Das andere ist oft ein Raum, in dem Verantwortung rhetorisch behauptet und zugleich praktisch verdünnt wird. Zumindest kann dies so sein, wie ich im Folgenden argumentieren möchte. Ich will diesen Unterschied nicht als Standesdünkel formulieren. Er lässt sich systematisch beschreiben, und er ist für die Fundamentalkritik zentral: Therapie – im Ideal und in ihrer professionellen Selbstbeschreibung – ist ein Rechenschaftsverhältnis. Grauzonen-Coaching ist häufig ein Verkaufsverhältnis. Und wo ein Verhältnis verkauft wird, verändert sich das Verhältnis. Nicht notwendig zum Schlechteren, aber notwendig zum Fragileren: weil der ökonomische Anreiz sich in die Deutung einschreibt.
Warum professionelle Hilfe mehr ist als „gute Absicht“
Professionen sind nicht zuerst durch bessere Menschen definiert, sondern durch soziale Architektur. Eliot Freidson beschreibt Professionalität als eine eigene Logik neben Markt und Bürokratie: eine Form der Arbeitsteilung, die Autonomie mit Verpflichtung koppelt und Kontrolle nicht nur extern (Staat, Berufliche Kammern und Verbände etc), sondern intern (Standards, Ethik, Peer-Korrektur) organisiert (Freidson, 2001). Andrew Abbott zeigt, dass Professionen ihre Zuständigkeiten historisch erkämpfen und verteidigen, gerade weil an ihnen Status, Macht und Verantwortung hängen (Abbott, 1988). Das klingt abstrakt, ist aber im Alltag spürbar: Eine Profession ist ein Versprechen, dass Fehler nicht nur möglich, sondern prinzipiell korrigierbar sind, weil es Institutionen gibt, die Korrektur einfordern können. In helfenden Berufen ist dieses Versprechen nicht romantisch, sondern notwendig. Wer Hilfe sucht, begibt sich in Abhängigkeit – zeitlich, emotional, oft auch in der Deutung des eigenen Innenlebens. Professionalisierung ist die gesellschaftliche Art, diese Abhängigkeit nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Genau deshalb sind Ausbildung, Ethikkodizes, dokumentierte Verfahren, Supervision und Beschwerdewege keine Dekoration. Sie sind jene zweite Ebene, die es erlaubt, zwischen persönlicher Sympathie und struktureller Vertrauenswürdigkeit zu unterscheiden. Onora O’Neill hat dafür einen präzisen Begriff: trustworthiness. Vertrauen ist nicht primär ein Gefühl, sondern die vernünftige Erwartung, dass Regeln, Transparenz und Verantwortlichkeit existieren (O’Neill, 2002). Luhmann formuliert denselben Punkt aus soziologischer Perspektive: Vertrauen reduziert Komplexität, aber es bleibt Risiko; je besser die Strukturen, desto begrenzter das Risiko (Luhmann, 1979). Wer ein Hilfeverhältnis eingeht, soll nicht nur hoffen, dass „es gut geht“, sondern wissen, dass es Korrekturmöglichkeiten gibt, wenn es nicht gut geht. Dabei ist ein Missverständnis zu vermeiden: Professionalisierung bedeutet nicht, dass professionelle Felder automatisch gut sind. Selbst in hochqualifizierten Feldern gibt es Selbstüberschätzung, Blindheiten, Fehlleistungen. Gerade deshalb ist die Struktur so wichtig. Walfish und Kolleg:innen zeigen etwa, dass Selbstbeurteilungsbias selbst bei mental health professionals vorkommt (Walfish et al., 2012). Das ist keine Delegitimierung, sondern die Bestätigung des Punktes: Weil Menschen fehlbar sind, braucht es Rahmen, die Fehlbarkeit bearbeiten.
Diese Rahmen sind besonders wichtig in Märkten von Vertrauensgütern. Darby und Karni beschrieben das Problem präzise: Bei credence goods kann der Kunde vorab kaum beurteilen, ob er eine Leistung braucht oder ob sie gut war; oft ist diese Beurteilung sogar nachträglich schwierig (Darby & Karni, 1973). Genau hier entsteht der strukturelle Raum für Fehlberatung, Überversorgung oder Ausbeutung – und genau hier ist Professionalisierung ein gesellschaftliches Mittel, diesen Raum zu verkleinern. Darum ist der Gegensatz „Verantwortung vs. Verkauf“ nicht moralisch, sondern strukturell: Ein Rechenschaftsverhältnis entsteht, wenn der Helfer nicht nur wirken, sondern sich auch verantworten muss.
Was ein Verkaufsverhältnis strukturell tut
Nun könnte man sagen: Auch professionelle Therapie kostet Geld (wenngleich dieses in Deutschland bei kassenfinanzierten Richtlinienpsychotherapien nicht von der einzelnen Patient:in entrichtet werden muss), also ist doch alles Markt. Das ist formal richtig, aber in der Struktur zu kurz. Ein Verkaufsverhältnis ist nicht einfach ein Verhältnis, in dem Geld fließt; es ist ein Verhältnis, in dem der Anbieter ein primäres Interesse daran hat, dass der Kunde kauft – und idealerweise weiterkauft. Damit verändert sich, was als „Problem“ erscheint und was als „Lösung“ plausibel wird. Im High-Ticket-Coaching ist das ökonomische Ideal selten die passgenaue, begrenzte Intervention, sondern die langfristige Bindung: Programme, Stufenleiter, Mastermind, Inner Circle. Das ist nicht per se unethisch. Aber es erzeugt einen Bias, der sich auch dann durchsetzt, wenn niemand „böse“ ist. Wenn Einkommen an Upsell hängt, wird das Problem tendenziell so gerahmt, dass es mehr Angebot plausibilisiert. Der Mechanismus ist banal: Ein begrenztes Problem kann man begrenzt lösen – und dann ist man fertig. Ein existenzielles Problem („dein Selbstwert“, „dein Trauma“, „dein Nervensystem“) kann prinzipiell endlos bearbeitet werden, und genau diese Endlosigkeit macht es verkaufbar. Hier wird das credence-goods-Problem besonders scharf. Weil der Kunde Qualität schwer prüfen kann, gewinnt das Deutungsmonopol des Anbieters an Gewicht (Darby & Karni, 1973). Und je stärker das Angebot mit existenziellen Kategorien arbeitet, desto größer dieses Monopol. Wer „Trauma“, „Bindung“, „Depression“, „Selbstwert“ sagt, nimmt Deutungshoheit in Anspruch – unabhängig davon, ob er das reflektiert. Denn diese Begriffe sind nicht nur Worte. Sie sind Bedeutungsmaschinen. Sie entscheiden darüber, wie ein Mensch sein Leiden versteht.
An dieser Stelle wird ein scheinbar kleiner Unterschied zentral: In professionellen Hilfesettings ist Nicht-Passen eine legitime Kategorie. Ein Verfahren passt nicht, eine Person passt nicht, die Indikation passt nicht, die Zeit ist nicht reif – und daraus folgt im Idealfall Abklärung, Anpassung, Verweis. In Verkaufssettings ist Nicht-Passen ökonomisch störend. Deshalb wird es häufig in ein psychologisches Narrativ übersetzt: nicht „das Angebot passt nicht“, sondern „du bist nicht bereit“; nicht „das Setting ist ungeeignet“, sondern „du hast Angst vor Größe“. Das klingt wie Psychologie, ist aber in seiner Funktion Marktsprache: Es verwandelt eine mögliche Kritik am Angebot in eine Kritik am Kunden. An diesem Punkt berührt sich Verkaufslogik mit einer kulturkritischen Diagnose. Bachkirova und Borrington warnen innerhalb des Coaching-Diskurses vor „beautiful ideas“: Selbstverantwortung und Wachstum können – falsch gerahmt – krankmachend werden, weil sie Scheitern individualisieren und Kontext ausblenden (Bachkirova & Borrington, 2020). Illouz hat die breitere kulturelle Verschiebung beschrieben: therapeutische Sprache diffundiert in die Kultur, Gefühle werden marktförmig organisiert, und Selbstarbeit wird zur normativen Pflicht (Illouz, 2008). Wenn dieser Pflichtcharakter in ein Vertriebsverhältnis übergeht, wird Scheitern nicht mehr nur enttäuschend, sondern beschämend – und Scham ist in ökonomischer Hinsicht ein leistungsfähiger Affekt: Sie bindet, statt zu befreien.
Gerade hier lohnt der Blick auf einen Aspekt, den viele übersehen: Die Grenze zwischen Coaching und Psychotherapie ist nicht einfach gegeben, sie wird gemacht. In der Wissenschaftssoziologie beschreibt Gieryn mit „boundary work“ die Praxis, Grenzen zwischen Feldern so zu ziehen, dass sie Legitimität schaffen, Ressourcen sichern und Verantwortung steuern (Gieryn, 1983). Grenzen sind in dieser Sicht nicht nur erkenntnistheoretische Linien, sondern interessengeleitete Deutungsarbeit. Überträgt man das auf Coaching und Therapie, sieht man schnell: Die Grenze wird häufig zugleich betont und verwischt. Betont, weil „nicht Therapie“ Haftung reduziert und Professionalität suggeriert („wir kennen unsere Grenzen“). Verwischt, weil therapienahe Semantik verkauft. „Trauma Coach“ ist eine Markenkategorie; „Therapie“ ist eine regulierte Kategorie. In dieser Spannung lebt der Therapieschattenmarkt. Dass diese Spannung real ist, erkennt man schon daran, wie Coachingverbände sich selbst positionieren. Die International Coaching Federation (ICF) formuliert in ihrem Code of Ethics ein Rahmenwerk professioneller Selbstbindung (International Coaching Federation, 2025). Ebenso existieren internationale Standards wie der EMCC Global Code of Ethics (European Mentoring and Coaching Council, 2021). Dass solche Kodizes existieren, ist kein Beweis dafür, dass der Markt ethisch ist. Aber es ist ein Indiz dafür, dass das Coachingfeld selbst die Grenze als Problem erkennt. Noch deutlicher wird es in Referral-Guidelines. Die ICF hat ein Dokument „Referring a Client to Therapy“, das Coaches helfen soll, Bedürfnisse außerhalb ihrer Kompetenzen zu erkennen und verantwortungsvoll zu verweisen (International Coaching Federation, 2024). Damit ist eine implizite Wahrheit ausgesprochen, die im Grauzonen-Coaching häufig verdrängt wird: Klient:innen bringen nicht nur „Ziele“, sondern manchmal psychische Notlagen mit, die eine andere Kompetenz erfordern.
„Nicht Therapie“ – und doch therapienah: Grenze als Strategie
Nun könnte man einwenden: Wenn es Ethikkodizes gibt, dann ist doch alles geregelt. Genau hier liegt das Missverständnis. Kodizes sind in einem deregulierten Markt häufig freiwillige Selbstbindung. Sie haben nicht die Durchsetzungskraft, die in staatlich regulierten Professionen über Kammern, Berufsrecht oder institutionalisierte Beschwerdewege entsteht. Das ist kein moralischer Vorwurf an Verbände, sondern eine Frage sozialer Macht: Ein Ethikkodex ist ein Kompass; er ist keine Polizei. Und gerade deshalb ist boundary work im Schattenmarkt so wirksam. Man kann die Grenze rhetorisch so ziehen, dass sie schützt, ohne dass sie bindet. Man kann sagen „nicht Therapie“ – und dennoch mit therapienaher Sprache Kundschaft anziehen. Man kann „Trauma“ sagen, aber „Diagnose“ vermeiden. Man kann „Nervensystemregulation“ versprechen, aber „Behandlung“ leugnen. Es ist, wenn man so will, eine semantische Schmuggelroute: Man importiert die Attraktivität klinischer Begriffe und exportiert die Verantwortung. Hart, Blattner und Leipsic diskutierten diese Grenzproblematik im Consulting-Psychology-Kontext schon früh: Coaching und Therapie können sich in Themen und Dynamiken überschneiden; gerade deshalb braucht es Klarheit über Rollen und Grenzen (Hart et al., 2001). Maxwell zeigt in einer qualitativen Studie, dass Coaches diese Grenze auch subjektiv als spannungsreich erleben, insbesondere wenn Klient:innen mit therapienahen Themen kommen (Maxwell, 2009). Die Grenze ist also kein theoretisches Problem – sie ist Praxis. Und wo sie Praxis ist, ist sie auch machtpolitisch: Wer die Grenze verwischt, gewinnt Markt. Wer sie ernst nimmt, verliert Konversion.
Die perfide Figur: Scheitern wird dem Klienten zugerechnet
Wenn man den Therapieschattenmarkt in einem Satz charakterisieren will, dann vielleicht so: Er ist ein System, das sich gegen Falsifikation immunisiert. Das geschieht nicht primär durch Lügen, sondern durch eine Deutungslogik, die jeden Misserfolg in das Subjekt zurückverlegt. In einem wissenschaftlichen Sinn wäre ein Angebot falsifizierbar, wenn es Bedingungen benennt, unter denen es nicht funktioniert, und wenn es Misserfolg als Information über Angebot und Passung behandelt. In einem marktförmigen Hilfesystem ist Misserfolg oft gefährlich, weil er Refunds, Kritik, schlechte Reviews erzeugen kann. Deshalb wird Misserfolg häufig umcodiert: nicht „die Methode ist begrenzt“, sondern „du hast nicht genug umgesetzt“. Nicht „das Setting ist unpassend“, sondern „dein Widerstand verhindert Heilung“. Damit wird Kritik zur Pathologie des Kritikers. Zweifel, der in professionellen Kontexten ein Signal für Reflexion sein kann, wird zum Defekt. Psychoanalytisch ist das hoch interessant – und hoch problematisch. Zweifel, Ambivalenz, Widerstand sind nicht einfach „Blockaden“, die man moralisch wegbügeln darf. Sie sind oft die Form, in der ein Subjekt seinen Realitätskontakt und seinen Selbstschutz ausdrückt. Wer Zweifel als Makel rahmt, greift in Ich-Funktionen ein. Er schwächt die kritische Instanz zugunsten eines Imperativs: Commitment. Und Commitment ist im Verkauf immer willkommen. Hier treffen sich Kulturtechnik und Marktlogik. Wenn therapeutische Sprache in die Kultur diffundiert und Selbstarbeit zur permanenten Pflicht wird, dann wird Scheitern zur privaten Schuld (Illouz, 2008). Bachkirova und Borrington warnen genau vor dieser Dynamik: Die „schöne Idee“ der Selbstverantwortung kippt in eine Moral, die Kontext ausblendet und Scheitern individualisiert (Bachkirova & Borrington, 2020). Im Therapieschattenmarkt wird diese Moral ökonomisch nutzbar: Schuld wirkt nach innen, sie erzeugt Bindung, sie macht den nächsten Kauf plausibel. Der Anbieter bleibt der „Empowerer“, der Klient wird der Problemträger. Das ist psychologisch riskant, weil es Scham verstärkt. Und Scham bewegt Menschen selten nach vorn; sie bindet sie an Systeme, in denen sie sich beweisen müssen. Damit ist der Unterschied „Verantwortung vs. Verkauf“ endgültig kein Randthema mehr, sondern der Kern der Fundamentalkritik. Denn im Therapieschattenmarkt verschiebt sich Verantwortung, ohne dass es nach Verantwortung aussieht: Der Anbieter bleibt frei, der Klient trägt die Last. Die Beziehung wirkt warm, aber die Rechenschaft ist kalt.
Bis hierher war die Analyse strukturell: Profession versus Markt, Rechenschaft versus Vertrieb, Grenze als Strategie, Schuldumlenkung als Immunisierung. Das nächste Kapitel macht diese Struktur sichtbar. Denn die Frage lautet: Wie gewinnt der Therapieschattenmarkt überhaupt das Vertrauen, das er braucht, um verkaufen zu können? Wie stellt er Nähe her, bevor er überhaupt „hilft“? Und warum fühlen sich diese Beziehungen oft so intim an, obwohl sie strukturell einseitig sind? Wir werden dafür die Idee parasozialer Intimität als mediale Form heranziehen (Horton & Wohl, 1956) und sie mit den empirisch dokumentierten Mustern heutiger Coach-Selbstdarstellung verbinden. Die Kritik wird dadurch weniger Meinung und mehr Diagnose: nicht „ich mag das nicht“, sondern „so funktioniert es“.
Wie Coaches Vertrauen herstellen, bevor überhaupt „geholfen“ wird
Vertrauen ist im Therapieschattenmarkt nicht die Begleitmusik, es ist der Rohstoff. Das klingt zunächst banal, gewinnt aber Gewicht, sobald man sich klarmacht, was hier verkauft wird: keine Kaffeemaschine, kein Kurs über Excel, nicht einmal „nur“ ein Karriereziel, sondern häufig eine Erzählung über das eigene Leben. Wer in einem Moment der Erschöpfung, der Bindungsnot, der inneren Unklarheit auf ein Angebot stößt, sucht selten die feinsten Argumente. Er sucht etwas, das sich nach Halt anfühlt. Und dieses „sich nach Halt anfühlen“ ist, in einer Kultur, die Sichtbarkeit und Atmosphäre privilegiert, erstaunlich schnell herstellbar. Das Problem ist nicht, dass Menschen Vertrauen brauchen. Das Problem ist, dass ein Markt entstanden ist, der Vertrauen als Ware produziert, ohne jene Rechenschaftsarchitektur aufzubauen, die in professionellen Hilfeverhältnissen zumindest als Norm gilt. Onora O’Neill hat dafür eine präzise Unterscheidung geliefert: Vertrauen ist leicht einzufordern, aber Vertrauenswürdigkeit entsteht durch Transparenz, Prüfbarkeit und Verantwortung (O’Neill, 2002). Luhmann wiederum betont, dass Vertrauen immer Risiko ist – eine Wette auf die Zukunft, die Komplexität reduziert, aber zugleich verletzlich macht (Luhmann, 1979). Im Therapieschattenmarkt wird diese Wette häufig mit hohem Einsatz gespielt: nicht nur Geld, sondern Hoffnung, Identität, Selbstdeutung. Hier kommt ein ökonomischer Befund hinzu, der die Bühne des Coachings besser erklärt als jede moralische Entrüstung. Darby und Karni beschrieben Dienstleistungen, deren Qualität Kund:innen vorab kaum beurteilen können, als „credence goods“: Man kann oft nicht einmal nachträglich sicher wissen, ob die Leistung „gut“ war, weil das Wissen zur Beurteilung selbst erst erworben werden müsste (Darby & Karni, 1973). Coaching – und erst recht therapienahes Life-Coaching – ist in hohem Maß ein solches Vertrauensgut. Das bedeutet: Wer erfolgreich ist, muss nicht zuerst „besser“ sein, sondern glaubwürdiger wirken. Und Glaubwürdigkeit wird, wenn Institutionen fehlen oder schwach sind, zur Inszenierungsleistung.
Zu Vertrauen, Glaubwürdigkeit und der Coach-Persona
In einem regulierten Feld wird Glaubwürdigkeit nicht primär über Ästhetik hergestellt, sondern über institutionelle Signale. Ausbildung, Zertifikate, Berufsrecht, Supervision, Fachöffentlichkeit und Beschwerdewege schaffen ein Netz von Rückbindungen, das Vertrauen rationalisiert. Natürlich ist auch das kein Garant für gute Praxis – aber es ist eine Form gesellschaftlicher Risikobegrenzung. In einem deregulierten Feld sind diese Rückbindungen optional oder fragmentiert. Damit verschiebt sich das Zentrum der Glaubwürdigkeit weg von überprüfbarer Kompetenz hin zu „Zeichen“: Reichweite, Testimonials, Storytelling, Auftreten. Hier wird das Feld schnell anfällig für eine Verschiebung, die man soziologisch als Austausch von „Kompetenzsignalen“ gegen „Statussignale“ beschreiben kann. Pierre Bourdieu hat gezeigt, wie symbolisches Kapital – Prestige, Anerkennung, der Eindruck von Legitimität – in gesellschaftlichen Feldern wirksam wird (Bourdieu, 1986). In digitalen Märkten wird symbolisches Kapital häufig durch Sichtbarkeit erzeugt: Wer viele Follower hat, wirkt kompetent; wer luxuriös lebt, wirkt erfolgreich; wer beruhigend spricht, wirkt „haltend“. Das Publikum sieht die Zeichen, nicht die Prüfung. Die Pointe ist: In einem Markt der Vertrauensgüter ist diese Verschiebung nicht nur möglich, sondern funktional. Man könnte sogar sagen: Sie ist rational im Sinne der Marktlogik. Wenn Prüfbarkeit fehlt, muss Glaubwürdigkeit anders produziert werden. Der Therapieschattenmarkt löst dieses Problem nicht durch Professionalisierung, sondern durch Dramaturgie. Er ersetzt die langsame Entstehung von Vertrauen durch die schnelle Herstellung von Vertrauen. Das gilt umso stärker, je mehr ein Angebot mit existenziellen Kategorien operiert. Wer „Trauma“, „Bindung“, „Nervensystem“, „inneres Kind“ sagt, spricht nicht nur über Ziele, sondern über Selbstdeutung. Solche Begriffe tragen – ob man es will oder nicht – eine Aura klinischer Ernsthaftigkeit. Sie öffnen einen Raum, in dem viele Menschen sich zum ersten Mal „erklärt“ fühlen. Das ist psychologisch verständlich. Und gerade deshalb ist es gefährlich, wenn diese Aura als Marketingressource genutzt wird, ohne die Verantwortung zu übernehmen, die in klinischen Kontexten mit solchen Begriffen verbunden ist.
Wenn man den Therapieschattenmarkt verstehen will, muss man die Coach-Persona deshalb als zentrale Produktionsstätte von Vertrauen begreifen. Diese Persona ist nicht einfach ein „Marketingstil“. Sie ist eine moderne Form von Autorität, die weniger über Nachweisbarkeit als über Identifikation funktioniert. Erving Goffman hat soziale Interaktion als Inszenierung beschrieben: Menschen definieren Situationen, indem sie Eindrücke kontrollieren; Vorderbühne und Hinterbühne sind dabei keine Orte, sondern Modi der Darstellung (Goffman, 1959). Soziale Medien machen aus dieser Logik eine Infrastruktur. Der Feed ist die permanente Vorderbühne, aber er bietet zugleich die Illusion einer Hinterbühne: „behind the scenes“, Tränen, Unordnung, „raw honesty“. Das Entscheidende ist: Auch die Hinterbühne bleibt hier performativ – sie ist eine Ästhetik der Nähe. In der Influencer-Forschung wird seit Jahren diskutiert, wie Self-Branding und Mikro-Prominenz entstehen: Menschen vermarkten nicht nur Produkte, sie vermarkten ihr Selbst als Marke; Biografie wird zur Legitimation, Alltag zur Glaubwürdigkeitsmaschine (Khamis et al., 2017; Senft, 2008). Im Coachingfeld ist das besonders folgenreich, weil hier die Person oft als Beweis ihrer Methode inszeniert wird. Es genügt nicht zu sagen „ich kann dir helfen“; man muss zeigen „ich bin das Ergebnis dessen, was ich lehre“. Das hat zwei Effekte. Erstens entsteht Autorität ohne Institution: Die Persona wird zur Quelle von Legitimität. Zweitens wird Kritik psychologisch aufgeladen: Wer die Methode kritisiert, kritisiert die Person; wer die Person kritisiert, wird leicht als „Hater“ markiert. Damit wird schon auf der Bühne vorbereitet, was später als Immunisierung gegen Kritik ausgebaut wird. Auch „Authentizität“ ist in diesem Feld weniger ein inneres Merkmal als eine Technik. Marwick und boyd beschreiben, wie in sozialen Medien Nähe und Authentizität performt werden, um Vertrauen zu erzeugen – selbst dann, wenn das Verhältnis strukturell asymmetrisch bleibt (Marwick & boyd, 2011). Für Coach-Personas heißt das: Man zeigt Verletzlichkeit, um glaubwürdig zu wirken; man zeigt Alltag, um Nähe zu suggerieren; man zeigt „echte Momente“, um Skepsis zu entwaffnen. Der Satz „ich bin ehrlich“ wird nicht ausgesprochen, sondern visualisiert. Und genau hier entsteht jene Doppelbewegung, die in diesem Markt so gut funktioniert: „Ich bin wie du“ und „ich bin dir voraus“. Nähe und Überlegenheit werden in einer Figur kombiniert. Das Publikum soll sich identifizieren – und zugleich aufblicken.
Parasoziale Intimität: Nähe ohne Gegenseitigkeit, Vertrauen ohne Gegenprüfung
Die zweite Säule der Vertrauensproduktion ist parasoziale Intimität. Horton und Wohl prägten den Begriff der para-social interaction, um zu beschreiben, wie Massenmedien eine Beziehungserfahrung erzeugen, die psychologisch real ist, strukturell aber einseitig bleibt (Horton & Wohl, 1956). Der Zuschauer fühlt sich angesprochen, verstanden, „im Gespräch“, obwohl das Gegenüber ihn nicht kennt. In Coaching-Ökosystemen ist diese Form der Intimität besonders wirksam, weil sie nicht an Unterhaltung gebunden ist, sondern an Selbstdeutung. Der Coach spricht nicht über Weltpolitik, sondern über dein „Pattern“, dein Nervensystem, deine Bindung, deine Angst. Er adressiert nicht nur deine Aufmerksamkeit, sondern dein Inneres. Und er tut das in einem Medium, das Wiederholung automatisiert. Vertrauen entsteht dann nicht aus Erfahrung, sondern aus Präsenz: Wer ständig auftaucht, wirkt vertraut; wer vertraut wirkt, wirkt vertrauenswürdig. Das ist der Punkt, an dem die Struktur psychodynamisch heikel wird. Parasoziale Intimität ist eine ideale Umgebung für Idealisierung: Der Coach kann als Ich-Ideal wirken, ohne real irritiert zu werden; er kann als „wissender Anderer“ erscheinen, ohne sich der Reibung echter Begegnung auszusetzen. In professionellen Hilfesettings ist diese Dynamik Gegenstand von Reflexion: Übertragung wird nicht bestritten, sondern bearbeitet. Im Therapieschattenmarkt kann Übertragung zur Ressource werden – nicht im Sinne bewusster Manipulation, sondern im Sinne einer strukturellen Ausnutzung: Nähe verkauft. Es ist hier wichtig, nicht missverständlich zu werden. Parasozialität ist nicht „falsch“. Sie ist eine Medienform. Das Problem entsteht, wenn parasoziale Nähe als Ersatz für professionelle Vertrauenswürdigkeit dient. Denn dann wird Vertrauen nicht nur erzeugt, sondern monetarisiert, ohne dass korrigierende Strukturen vorhanden sind.
Ästhetik als Beweisführung: Luxus, Ordnung, Erlösung – und warum das wirkt
Wenn Vertrauen die Währung ist, muss es sichtbar gemacht werden. In der Selbstdarstellung von Coaches geschieht das über eine Ikonographie, die erstaunlich stabil ist. Sie funktioniert wie eine Beweisführung ohne Argumente.
In meiner eigenen von KI angeleiteten Inhaltsanalyse von ca. 150 öffentlich zugänglichen Coach-Profilen (Life/Mindset, Business/High-Ticket, Trauma/Healing; mehr als 1.500 ausgewertete Inhalte in 6 DeepResearch Prompts) zeigte sich: Status- und Luxusmotive sind in diesem Feld nicht exotisch, sondern regelhaft. Insgesamt fand sich solche Motivik in knapp der Hälfte der Beiträge; bei Business-Coaches deutlich häufiger, bei Trauma/Healing deutlich seltener. Die implizite Logik ist klar: Erfolg wird als Wahrheit ins Bild gesetzt. Wer so lebt, muss wissen, wie man dahin kommt. Dass Erfolg aber kontingent ist – abhängig von Startvorteilen, Auswahlprozessen, Zufall, Privilegien – wird in dieser Bildlogik nicht sichtbar. Sichtbarkeit ersetzt Kausalität.
Daneben existiert eine zweite Ästhetik, die fast das Gegenteil behauptet: helle, minimalistische Ordnung, „Clean Aesthetic“, Ruhe. Auch sie ist keine neutrale Stilfrage. Sie signalisiert Stabilität. Wer innerlich unruhig ist, wird von äußerer Ruhe angezogen. Die visuelle Botschaft lautet: Ich bin klar; also kann ich dir Klarheit geben. Es ist das ästhetische Vorspiel zu einem späteren semantischen Produkt: „Alignment“.
Ein dritter Modus ist die Erlösungsnarration: „Ich war wie du.“ Das ist der Moment, in dem Biografie zur Methode wird. Eva Illouz hat beschrieben, wie Selbsthilfe- und Therapiekulturen Gefühle und Selbstnarrative marktförmig organisieren können (Illouz, 2008). In der Coach-Ikonographie wird genau das sichtbar: Das eigene Vorher wird zur Legitimation des Nachher; das eigene Leid wird zur Kompetenzbehauptung. Das kann aufrichtig sein – und es bleibt epistemisch heikel, weil aus n=1 eine Norm gemacht wird.
Diese drei Bildmodi – Luxus, Ordnung, Erlösung – werden häufig durch „Belege“ ergänzt, die eher an Börsenforen erinnern als an klinische Sorgfalt: Testimonials, Screenshots, Chatverläufe, gelegentlich Einnahmen. Sie wirken wie Dokumentation, sind aber selten prüfbar. Ihre Funktion ist Social Proof, nicht Evidenz. Cialdini hat Social Proof als ein zentrales Einflussprinzip beschrieben: Menschen orientieren sich daran, was andere zu tun scheinen, besonders in unsicheren Situationen (Cialdini, 2007). Gerade in vulnerablen Zuständen ist dieser Mechanismus stark. Wenn viele „danken“, wenn viele „Durchbruch“ schreiben, dann wird Skepsis nicht widerlegt – sie wird übertönt. Zu dieser Ikonographie gehört auch der Call-to-Action. In meiner Analyse enthielten rund 70 Prozent der Beiträge einen expliziten CTA; besonders häufig war die Aufforderung zur DM („schreib mir…“), gefolgt von Link-in-Bio und Kommentartriggern. Diese CTA-Dichte ist ein Indiz dafür, dass die Bühne nicht nur Selbstpräsentation ist, sondern ein strukturiertes Vorfeld des Verkaufs. Vertrauen wird nicht als Nebenprodukt erzeugt, sondern als Pipeline. Und auffällig ist, was selten sichtbar ist: klare Grenzmarker. Nur wenige Profile trugen explizite Disclaimers („keine Therapie, kein Heilversprechen“) prominent. Das ist keine juristische Diagnose, aber eine kultursoziologische: Der Markt belohnt Versprechen, nicht Begrenzung. Je klarer ich meine Grenzen markiere, desto weniger kann ich als Heilsfigur funktionieren. Das ist ein zentraler Grund, warum die Grenze „nicht Therapie“ oft ins Kleingedruckte rutscht.
Therapiesprache, Jargon, „Scientified Spirituality“: Kompetenz klingt, bevor sie nachweisbar ist
An dieser Stelle wird die Nähe zur Therapie nicht nur thematisch, sondern sprachlich. In dem von mir untersuchten Feld tauchen therapienahe Begriffe regelmäßig auf – im Healing-Segment erwartbar häufig, aber auch darüber hinaus. Begriffe wie „Trauma“, „Trigger“, „inneres Kind“, „Nervensystemregulation“ sind in sozialen Medien längst in Alltagsvokabular diffundiert. Das ist zunächst ein ambivalenter Fortschritt: Einerseits können Menschen Erfahrungen benennen; andererseits entsteht eine semantische Zone, in der Diagnosesprache ästhetisiert wird. Genau hier wird boundary work als Strategie sichtbar. Gieryn beschrieb boundary work als Praxis, Grenzen so zu ziehen, dass Legitimität und Verantwortung gesteuert werden (Gieryn, 1983). Im Therapieschattenmarkt heißt das oft: Die Attraktivität der Therapie-Sprache wird genutzt, während die Verantwortung der Therapie vermieden wird. Man sagt „healing“, aber „not therapy“. Man sagt „Trauma“, aber ohne Diagnostik, ohne Indikationsprüfung, ohne Referral-Kultur als Standard. Das ist nicht einfach inkonsistent; es ist funktional. Die Grenze wird so gesetzt, dass sie schützt, ohne zu stören. Zu dieser Sprache kommt häufig ein wissenschaftlich anmutender Jargon, der Rationalität simuliert. Das ist besonders verführerisch für ein gebildetes Publikum, weil es die Illusion bietet, man könne zugleich kritisch und gläubig sein: kritisch, weil „Wissenschaft“ auftaucht; gläubig, weil das Versprechen magisch bleibt. Im Feld entsteht so etwas wie „Scientified Spirituality“: Neurovokabular plus Erlösungsrhetorik. Der Eindruck ist: „Das ist nicht Esoterik, das ist Nervensystem.“ Ein exemplarischer Teil dieses Technikvokabulars ist NLP. In Coaching- und Saleskontexten wird NLP häufig als Werkzeugkoffer präsentiert, als gäbe es hier eine robuste wissenschaftliche Grundlage. Witkowski kommt in seiner Übersicht zu dem Ergebnis, dass die empirische Basis für zentrale NLP-Behauptungen schwach ist und NLP eher den Charakter pseudowissenschaftlicher Dekoration annehmen kann (Witkowski, 2010). Für unseren Essay ist das nicht deshalb bedeutsam, weil NLP „das“ Problem wäre. Es ist bedeutsam, weil es die Logik des Feldes zeigt: Wo Qualifikation schwer prüfbar ist, wird „Technik“ zur Währung. Technikvokabular ersetzt Kompetenznachweis durch Klang. Und der Klang wirkt. Er wirkt, weil er in einem Vertrauensgutmarkt genau das liefert, was O’Neill als gefährliche Abkürzung kritisiert: Vertrauen als Gefühl statt Vertrauenswürdigkeit als Struktur (O’Neill, 2002). Wer „Regulation“ sagt, klingt wie Medizin; wer „Trauma“ sagt, klingt wie Klinik; wer „embedded commands“ sagt, klingt wie Wissenschaft. Und wenn das Ganze dann in einer warmen Persona eingebettet ist, entsteht ein Gemisch, das schwer zu durchschauen ist: Intimität plus Autorität plus Jargon.
Nach diesem Kapitel sollte sichtbar sein, dass Vertrauen im Coaching-Ökosystem nicht einfach „entsteht“. Es wird hergestellt: durch Persona, parasoziale Nähe, symbolisches Kapital, ästhetische Beweisführung, therapeutische Semantik und wissenschaftlich klingende Requisiten. Diese Bühne ist das Vorfeld des Kaufakts. Sie sorgt dafür, dass der Kauf nicht wie Kauf wirkt, sondern wie Selbstfürsorge, Selbstachtung, „Entscheidung für mich“. Und genau deshalb ist die nächste Frage zwingend. Wenn die Bühne Vertrauen erzeugt, wie wird dieses Vertrauen in eine Entscheidung unter Zeitdruck verwandelt? Welche Angebotsarchitekturen machen aus Nähe eine Deadline, aus Zweifel ein „Pattern“, aus Bedenkzeit eine moralische Schwäche? Anders gesagt: Wie wird Vertrauen in Kauf übersetzt – systematisch, wiederholbar, skalierbar? Das ist das Thema des nächsten Kapitels. Wir verlassen die Bühne und betreten die Maschine.
Ich schreibe jetzt beide Kapitel nacheinander – sauber getrennt, sprachlich elegant, längere zusammenhängende Absätze.
Die Verkaufsmaschine – Architektur eines Therapieschattenmarktes
Wenn Kapitel 5 die Bühne war, dann ist Kapitel 6 der Maschinenraum. Dort, wo Vertrauen bereits erzeugt ist, beginnt jene zweite Übersetzung, die den Therapieschattenmarkt so stabil macht: Aus Aufmerksamkeit wird Kontakt, aus Kontakt wird Intimität, aus Intimität wird Entscheidung, aus Entscheidung wird Bindung – und aus Bindung wird, wenn alles nach Plan läuft, eine Loyalität, die sich gegen Kritik immunisiert. Wer das als „nur Marketing“ abtut, unterschätzt, wie sehr Marketing in diesem Feld nicht bloß eine Verpackung ist, sondern die Form, in der Hilfe organisiert – und damit auch entstellt – wird. Man kann das Ganze mit einem psychoanalytisch anschlussfähigen Bild beginnen: In der Analyse ist der Rahmen das, was Geschehen ermöglicht und zugleich begrenzt. Im High-Ticket-Coaching ist der Rahmen ebenfalls das Entscheidende – nur dass er nicht begrenzt, sondern verdichtet. Er ist weniger Containment als Trichter. Ein Funnel ist eine formalisierte Dramaturgie, die die Wahrscheinlichkeit bestimmter Handlungen erhöht; das ist seine Funktion. Und wenn der Gegenstand nicht ein Produkt, sondern das Selbst ist, gewinnt diese Funktion eine ethische Schärfe, die über gewöhnliche Verkaufspsychologie hinausreicht.
Im Folgenden werden zwei Belegarten bewusst nebeneinandergestellt: einerseits dokumentierte Fälle aus Verbraucherzentralen, ORF und Konsumentenschutz; andererseits aggregierte Beobachtungen aus eigenen explorativen Sichtungen öffentlich zugänglicher Funnels sowie einer systematischen Korpusanalyse von über 250 Materialeinheiten – anonymisiert, als Muster beschrieben, nicht als Einzelvorwurf (DeepResearches, siehe Anhang). Diese Doppelperspektive ist kein rhetorischer Trick, sondern ein Versuch, Feldbeobachtung und externe Evidenz sauber zu trennen und dabei sowohl die strukturelle Logik als auch ihre konkreten Manifestationen sichtbar zu machen.
Die Anatomie des Funnels: Vom Feed zum Call, vom Call zum Commitment
Die dominante Reise beginnt selten beim Preis, sie beginnt bei einer Erzählung – einem Reel, einem Short, einem Carousel-Post. Ein Problem wird benannt, aber nicht analytisch, sondern existenziell: Du bist nicht faul, du bist blockiert; du bist nicht überfordert, du bist dysreguliert; du bist nicht unglücklich, du bist nicht in deiner Wahrheit. Der Content ist so gebaut, dass er gleichzeitig Diagnostik und Trost leistet, und wer sich darin erkennt, fühlt sich nicht nur angesprochen, sondern erklärt. Dann folgt das kleine Tor: Kommentartrigger („Schreib JA“), DM-Call („schreib READY“), Link in Bio. Diese Kleinigkeiten sind nicht nur Interaktion, sie sind bereits eine erste Selbstverpflichtung. Freedman und Fraser zeigten in ihrer klassischen Studie zur Foot-in-the-door-Technik, wie eine kleine Zustimmung die Wahrscheinlichkeit späterer größerer Zustimmung erhöht, weil Menschen konsistent erscheinen wollen – vor sich selbst und vor anderen (Freedman & Fraser, 1966). Funnels sind, wenn man so will, die Industrialisierung dieser Konsistenzlogik: Was als beiläufige Interaktion beginnt, ist bereits der erste Schritt in eine Architektur, die auf Abschluss hin gebaut ist.
Ein ORF-Bericht über „Get rich quick“-Coachings beschreibt die Einstiegsmechanik fast wie ein Lehrbuchfall: Unter Videos und Fotos tauche wiederholt die Aufforderung auf, man solle „eine private Nachricht mit dem Stichwort ‚Mentor’“ senden – und genau daraus entsteht der Übergang in ein „Erstgespräch“ mit einem „Coach“ (Macura, 2021). Das ist Trichterlogik in Reinform: Aus Plattformaufmerksamkeit wird 1:1-Kontakt, aus 1:1-Kontakt wird „Beratung“. Die Verbraucherzentrale beschreibt dieselbe Scharnierstelle nüchterner: Ein „Infogespräch“ wird angeboten, das dann „überraschend in ein Vertragsgespräch“ umschlägt (Verbraucherzentrale, 2025a). Der Satz benennt das strukturelle Ereignis präzise – nicht „Beratung“ ist das Problem, sondern der Moment, in dem Beratung in Abschlusslogik kippt, ohne dass die Rolle sauber gewechselt und markiert wird. In der aggregierten Sichtung zeigt sich ein wiederkehrendes Muster: Der Übergang von Content zu „Bewerbung“ ist rhetorisch als Fürsorge kodiert – du sollst dich „bewerben“, weil man dich nicht „überfordern“ will; du sollst „qualifizieren“, weil man „nur passende Menschen“ wolle; du sollst einen „Call“ buchen, weil „Text nicht reicht“. In der Praxis erfüllt diese Bewerbung drei Funktionen: Sie erzeugt Exklusivität, sie erzeugt Vorinvestition (Zeit, Daten, Offenlegung) und sie verschiebt die Entscheidung in einen privaten Raum, in dem die Dynamik wesentlich stärker steuerbar ist (DeepResearches, siehe Anhang). Der Call ist damit nicht bloß ein Gespräch, sondern das zentrale Scharnier des gesamten Systems.
Ökonomische Hebel: Knappheit, Sunk Cost und der Preis als Wirkfaktor
Knappheit ist eines der zuverlässigsten Einflussprinzipien, und sie funktioniert nicht, weil Menschen dumm wären, sondern weil Knappheit Aufmerksamkeit kanalisiert und die Alternative „später“ psychologisch entwertet. Scarcity erzeugt den Eindruck, dass Nicht-Handeln einen Verlust bedeutet – und in der Prospekt-Theorie von Kahneman und Tversky ist gut beschrieben, dass Menschen Verluste oft stärker gewichten als gleich große Gewinne (Kahneman & Tversky, 1979). Ein Funnel, der Zögern als Verlust rahmt („du verlierst ein weiteres Jahr“, „du verlierst deine Chance“), verwandelt damit die Entscheidung: Aus Kauf wird Rettung, aus Abwarten wird Selbstsabotage. Ein österreichisches Konsumentenschutzmagazin zitiert einen prototypischen Closing-Satz, der in seiner Nüchternheit fast komisch wirkt – wäre er nicht so wirksam: „Es ist nur noch ein Platz verfügbar. Du musst dich jetzt entscheiden“ (KONSUMENT.AT, 2024). Der Satz ist die Reduktion der Welt auf eine Entscheidungsschleuse; er macht die Zeit zur Waffe und tarnt diese Waffe als organisatorische Notwendigkeit. Im ORF-Fallbericht bittet eine junge Frau um eine Nacht Bedenkzeit – und bekommt die Antwort: „Entweder jetzt oder du hast Pech gehabt“ (Macura, 2021). Das ist nicht nur „unfreundlich“, es ist die präzise Umcodierung von Reflexion in Risiko: Wer nachdenkt, verliert.
Viele High-Ticket-Coaches begründen hohe Preise mit einem scheinbar psychologisch klugen Argument: „Skin in the game.“ Es müsse weh tun, sonst würde man es nicht ernst nehmen. Oberflächlich klingt das wie Motivation; sozialpsychologisch ist es ein Mechanismus, der Bindung erhöht und Kritik erschwert. Festinger beschrieb kognitive Dissonanz als den Zustand, in dem Verhalten und Überzeugungen nicht gut zusammenpassen, und wie stark der Druck ist, diese Spannung zu reduzieren – etwa indem man nachträglich den Wert der eigenen Entscheidung erhöht (Festinger, 1957). Wer 10.000 Euro für ein Programm bezahlt, steht vor einer ungemütlichen Alternative: Entweder war es klug, oder ich habe mich geirrt. Je höher der Preis, desto größer die Dissonanzgefahr, und desto stärker der Drang, die Entscheidung vor sich selbst zu rechtfertigen. Arkes und Blumer beschrieben den Sunk-Cost-Effekt: Menschen halten an Entscheidungen fest, in die sie bereits investiert haben, selbst wenn die objektive Lage dafür nicht spricht (Arkes & Blumer, 1985). Im Coachingkontext bedeutet das: Wer gezahlt hat, bleibt eher, kauft eher die nächste Stufe, verteidigt eher die Szene – nicht zwingend aus Dummheit, sondern aus Selbstschutz.
Die Verbraucherzentrale Niedersachsen schildert einen Fall, in dem einer Frau „leicht verdientes Geld“ versprochen wird: „800 Euro monatlich, mit nur ein bis zwei Stunden täglicher Arbeit“ – und nach einem Webinar endet es in einem Online-Gespräch mit einem Vertrag „über 4.000 Euro“. Der strukturelle Kern folgt prompt: „Ihre Aufgabe bestand darin, neue Interessentinnen anzuwerben“ (Verbraucherzentrale Niedersachsen, 2025a). Das ist nicht Randerscheinung, sondern Marktlogik: Wachstum entsteht nicht durch Wirkung, sondern durch Rekrutierung. Die Arbeiterkammer Salzburg warnt vor Coachings, bei denen nach dem Verkaufsgespräch „mehrere Tausend Euro fällig“ werden – und anschließend erhalten Betroffene Zugang zu Videos, in denen erklärt wird, wie man Geld verdient, indem man „dasselbe Coaching anderen Personen verkauft“ (ORF Salzburg, 2023). Das ist die Schlüsselszene des „Coaches coachen Coaches“-Problems: Der Inhalt ist austauschbar; entscheidend ist die Reproduktionsfähigkeit des Vertriebes. Je höher der Preis, desto stärker wird die Zahlung selbst zum Wirkfaktor stilisiert: „Es wirkt, weil es weh tut.“ Das ist nicht nur Marketing, sondern eine Art säkularisiertes Opferprinzip – und wie in jeder Opferszene gilt: Wer geopfert hat, muss glauben, sonst wäre das Opfer sinnlos.
Dark Patterns und die Erosion rechtlicher Schutzräume
Ein auffälliger Befund aus der Funnel-Forensik ist nicht nur Dringlichkeitsrhetorik, sondern die Art, wie Transparenz an entscheidenden Stellen behandelt wird. In einem idealen Markt wäre ein hochpreisiges Angebot maximal transparent: Preis, Leistung, Vertragsbedingungen, Widerruf, Laufzeit, Kündigung. In vielen Funnels sind genau diese Informationen nicht prominent, sondern fragmentiert, verspätet, versteckt – oder psychologisch überlagert, sodass man sie zwar „finden“ könnte, aber in dem Moment kaum noch findet. Die Forschung zu sogenannten Dark Patterns hat gezeigt, dass Gestaltung und Sprache Nutzerinnen und Nutzer in Entscheidungen „schieben“ können, die sie bei voller Transparenz möglicherweise nicht wählen würden (Gray et al., 2018). Im Coachingfeld kommt hinzu: Der „Nutzer“ ist nicht primär Konsument, sondern oft ein Mensch in einer Krise oder in einer narzisstisch verwundbaren Phase. Das macht dieselben Designtricks gravierender, weil die Fähigkeit zur kritischen Prüfung bereits kompromittiert sein kann.
Die Verbraucherzentrale warnt explizit vor einer Masche, die im Funnel häufig wie eine Formalie wirkt: Unseriöse Coaches verlangen, man solle beim Abschluss angeben, als „Unternehmer:in“ zu handeln – und dann wird behauptet, man habe kein Widerrufsrecht. Die Empfehlung ist unmissverständlich: „Finger weg!“ (Verbraucherzentrale, 2025a). Dass diese „Unternehmer“-Markierung manchmal eher im Formular als in der Realität existiert, ist Teil der Mechanik: Der Funnel produziert eine Kategorie, die juristisch und psychologisch die Rückkehr erschweren soll. Im ORF-Fallbericht wird die Vertragsunterzeichnung als Szene der gelenkten Klick-Handlung beschrieben; die Betroffene sagt: „Er hat mir gesagt, was ich ankreuzen soll“ (Macura, 2021). Das ist der Moment, in dem Autonomie nicht durch Drohung, sondern durch „Hilfe“ unterlaufen wird – man wird geführt, bis man unterschreibt, und die Führung wird als Service maskiert. Die Verbraucherzentrale Niedersachsen formuliert denselben Mechanismus als klare Warnung: „Das Widerrufsrecht war durch ein voreingestelltes Häkchen ausgehebelt“ (Verbraucherzentrale Niedersachsen, 2025a). Hier wird „Design“ zur juristischen Schere. In der aggregierten Analyse zeigt sich ein typisches Muster: die Kombination aus emotionalem Druck und vernebelter Vertraglichkeit. Während der Call intime Offenheit erzeugt, wird der Checkout auf „Technik“ delegiert – „mach schnell, ich führe dich“. Preisdetails, Laufzeiten, Widerrufsverzicht, sofortiger Zugriff: alles steht irgendwo, aber die Psyche ist gerade nicht im Lesemodus. Das ist die stille Pointe: Ein Funnel nutzt nicht nur Unwissen, sondern Zustände (DeepResearches, siehe Anhang).
Parasoziale Bindung: Wenn der Coach zur Bezugsperson wird
Ein zentraler Faktor, der die Funnel-Maschine so wirksam macht, ist die parasoziale Beziehung zwischen Coach und Follower. Das Konzept, ursprünglich von Horton und Wohl für das Fernsehen beschrieben, bezeichnet die einseitige Illusion von Intimität, die entsteht, wenn Medienpersonen durch Blickkontakt, persönliche Ansprache und scheinbare Nahbarkeit eine Beziehung simulieren (Horton & Wohl, 1956). Social Media hat diese Dynamik radikalisiert: Lives, Stories, intime „Geständnisse“, das ständige „Du“ – all das erzeugt bei Followern das Gefühl echter Freundschaft mit jemandem, der sie nicht kennt. Hans-Peter Erb, Sozialpsychologe, erklärt die Mechanik: „Dieser Effekt wird bewusst hergestellt, wenn das Publikum an alltäglichen Tätigkeiten wie der Morgenroutine teilhaben darf. Durch die Sympathie öffnet sich eine Tür zur Einstellungsänderung – je sympathischer der Influencer wirkt, desto massiver kann er die Einstellung seines Publikums beeinflussen“ (zitiert in Medienfokus-BW, 2023). Die Forschung zeigt, dass parasoziale Beziehungen mit Influencern sich „positiv auf das Kaufverhalten sowie das Interesse an den beworbenen Produkten auswirken“ (ebd.). Was bei Produkten funktioniert, funktioniert bei Coaching-Programmen umso stärker – denn hier wird nicht nur ein Produkt beworben, sondern eine Beziehung verkauft.
Die aggregierte Analyse zeigt, wie gezielt diese Dynamik eingesetzt wird: Coaches teilen „verletzliche“ Momente, erzählen von eigenen Krisen, sprechen Follower mit Namen an, beantworten DMs persönlich oder lassen es so erscheinen. Die Grenze zwischen Content und Beziehung verschwimmt, und wenn dann der Sales Call kommt, sitzt nicht ein Verkäufer am anderen Ende, sondern – gefühlt – ein Freund, ein Mentor, jemand, der „an dich glaubt“. Die parasoziale Vorarbeit macht den Abschluss wahrscheinlicher und die spätere Kritik schwieriger: Wie kritisiert man jemanden, zu dem man eine emotionale Bindung aufgebaut hat? Die Forschung zu Parasozialität zeigt zudem, dass Personen mit unsicheren Bindungsstilen und Defiziten in realen Beziehungen anfälliger für parasoziale Beziehungen sind, die sogar suchtartige Züge annehmen können, da die Medienperson als sicherer Hafen fungiert. Das erklärt, warum manche Klientinnen sich so stark an den Coach binden – die parasoziale Dynamik ersetzt teilweise reale soziale Erfüllung, und diese Ersatzbeziehung wird dann in Kaufentscheidungen und Loyalität übersetzt (DeepResearches, siehe Anhang).
Community als Stabilisierungssystem: Lock-in, Exklusivität und die Illusion der Wahl
Die Funnel-Maschine endet nicht mit dem Kauf – sie geht in eine zweite Phase über, in der die Community zum Stabilisierungssystem wird. Hier erzeugen Coaching-Ökosysteme mithilfe ritualisierter Gruppenerlebnisse, parasozialer Bindungsstrategien und sozialem Druck einen Lock-in-Effekt, der Mitglieder emotional an die Gruppe bindet und von abweichenden Meinungen isoliert. Die Mechanismen sind vielfältig und greifen auf mehreren Ebenen ineinander. Exklusivitäts- und Elite-Narrative betonen ständig, dass die Community etwas Besonderes, Ausgewähltes ist – „Inner Circle“, „High Level Mastermind“, „VIP-Gruppe“ – und Aufnahmerituale wie Bewerbungsprozesse und limitierte Plätze inszenieren die Zugehörigkeit als Ehre oder seltene Chance. Wir-gegen-die-Rhetorik zieht klare Unterschiede zwischen der eingeschworenen Gruppe und Außenstehenden: „Wir hier verstehen, wie Fülle funktioniert – da draußen werden wir dafür belächelt.“ Ritualisierung und Gruppenerlebnis – Challenges, gemeinsame Morgenroutinen via Live-Stream, Mantra-Runden, Retreats – stiften Identität und verankern das Gefühl einer „zweiten Familie“. Always-on-Kommunikation über Telegram, WhatsApp oder Slack schafft einen Echokammer-Effekt positiver Rückmeldungen und isoliert die Mitglieder zeitlich, weil viel Zeit in der Gruppe verbracht wird und weniger Kontakt zu Nicht-Mitgliedern bleibt. Accountability-Druck – offiziell „Verantwortlichkeit“, faktisch oft soziale Kontrolle – schlägt in Scham bei Nichterfüllung um: öffentliches Bloßstellen im Gruppenchat, subtile Sanktionen wie Ignorieren oder Ausschluss aus dem Buddy-System. Love Bombing begrüßt neue Mitglieder mit einer überwältigenden Flut von herzlichen Messages, Komplimenten und Willkommens-GIFs, die echte Unterstützung vermitteln können, aber auch dazu dienen, Loyalität zu erzeugen – man fühlt sich geliebt in der Gruppe und will diese Zuwendung nicht verlieren. Und eine Testimonial-Kultur ermutigt aktiv zu Erfolgsgeschichten, während kritische Erfahrungen unter den Teppich gekehrt werden, manchmal weil Unzufriedene gar keinen Raum finden zu sprechen (DeepResearches, siehe Anhang).
Svenja Hofert, Coach und Kritikerin, beschreibt diese Dynamik im derStandard präzise: „Es gibt eine Gruppe, aus der Gruppendynamik und Gruppenzwang entsteht… Da heißt es dann: ‚Das musst du doch auch gut finden, das ist doch toll.‘ In Gruppen gehört viel Mut dazu zu sagen: ‚Ich habe ein schlechtes Gefühl.’“ Und weiter: „Der Grad von Freiwilligkeit zu Zwang ist sehr schmal… Leute hatten schon früh ein schlechtes Gefühl. Aber aufgrund dieses Drucks und weil Gruppen teils bewusst mit Motivationspersonen durchsetzt sind, macht man mit. Und dann zweifeln die Leute an sich. Das Ziel eines Coachings wäre Selbstreflexion. Aber so entstehen Selbstzweifel“ (Hofert, 2025). Janja Lalichs Konzept der „bounded choice“ (gebundene Wahl) trifft hier zu, ohne die Gruppen gleich als „Kulte“ zu bezeichnen: Mitglieder haben das Gefühl, eigenständig Entscheidungen zu treffen, doch diese Entscheidungen sind de facto stark durch das enge ideologische System limitiert. Offiziell kann jeder gehen, niemand wird mit physischen Mitteln festgehalten – aber psychologisch sind die Optionen beschnitten: Gehe ich, verliere ich meine „Familie“ und scheitere vielleicht im Leben; bleibe ich, muss ich mich fügen. Innerhalb der Gruppe werden Entscheidungen so gerahmt, dass die einzige gute Option die vom Coach gewünschte ist (Lalich, 2004).
Die zehn Immunisierungsrepertoires: Wie das System Kritik absorbiert
Was im Verkaufsgespräch als Einwandbehandlung beginnt, setzt sich nach dem Kauf als umfassende Immunisierungsstrategie fort. Eine systematische Analyse von über 250 Materialeinheiten zeigt, dass Coaching-Ökosysteme ausgeprägte rhetorische Repertoires entwickelt haben, um externe Kritik abzuwehren und interne Loyalität zu festigen (DeepResearches, siehe Anhang). Das dominante Muster ist die Umcodierung: Aus sachlichen Einwänden werden moralische oder psychologische Defizite der Kritiker gemacht. Wer Zweifel äußert, hat ein „Mindset-Problem“; wer Bedenken hat, dessen „Nervensystem ist in Alarm“; wer kritisiert, „schwingt niedrig“ oder steckt in einer „Opfermentalität“. Die Kritik wird nicht widerlegt, sondern der Kritiker wird pathologisiert – und damit aus dem Raum legitimer Einwände herausdefiniert.
Zehn wiederkehrende Abwehr-Repertoires lassen sich identifizieren. Der Hater-Neid-Frame deutet Kritiker als bloß neidisch auf den Erfolg des Coaches – jede Kritik wird damit zur Bestätigung der eigenen Relevanz, nach dem Motto: „Wenn du keine Hater hast, machst du was falsch.“ Der Zweifel-als-dein-Problem-Frame psychologisiert Bedenken als Angst, mangelndes Mindset oder fehlende Bereitschaft für Erfolg; die Methode bleibt unantastbar, der Zweifler muss an sich arbeiten. Der Low-Vibration-Frame presst Kritik in ein esoterisches Deutungsmuster: Wer „meckert“, ist „im Mangel“ und „nicht im Vertrauen ans Universum“, seine kritische Energie ist „niedrig“ und „stört das Feld“. Der Opfer-Negativitäts-Frame unterstellt dem Kritisierenden eine „Opferhaltung“ und fehlende Selbstverantwortung, wodurch legitime Kritik als persönliches Defizit erscheint. Der Nicht-bereit-Frame erklärt Scheitern oder Ausstieg zur Entwicklungsfrage des Individuums: „Sie war einfach noch nicht bereit für die Transformation“ – so bleibt das Heilsversprechen vor Falsifizierung geschützt, denn Scheitern liegt stets am Individuum, nie am System. Der Pseudo-Gelassenheits-Frame signalisiert scheinbare Offenheit („Wenn’s dir nicht passt, scroll weiter – ich zwinge niemanden“), würgt aber jede inhaltliche Diskussion ab und schiebt die Verantwortung ab. Der Elite-Abschirmungs-Frame zieht klare Grenzen zwischen den Eingeweihten und den Außenstehenden, die „es nicht kapieren“ oder „im alten Denken hängen“. Der Erfolg-beweist-Recht-Frame überstrahlt Kritik mit Verweis auf Erfolgsstories und fördert systematisch die Ignorierung von Misserfolgen. Die Pathologisierung von Aussteigern impliziert, wer die Community verlässt, habe „persönliche Probleme“ oder „eigene Dämonen“ – ihre Glaubwürdigkeit wird angezweifelt, bevor sie überhaupt sprechen. Und schließlich die Systemabwehr auf der Meta-Ebene: Gesellschaftliche oder systemische Kritik wird mit dem Credo „ändere dich, nicht das System“ abgewehrt; strukturelle Probleme werden individualisiert, jeder sei seines Glückes Schmied (DeepResearches, siehe Anhang).
Was hier geschieht, lässt sich mit dem Begriff der „selbstversiegelnden Logik“ (self-sealing logic) beschreiben, den Janja Lalich für Hochkontrollgruppen geprägt hat: Das Gedankengebäude ist so konstruiert, dass es sich gegen Kritik immun macht – Einwände werden intern in Bestätigungen uminterpretiert (Lalich, 2004). Die Community fungiert als „Antikörper“ gegen Kritik im Social-Media-Organismus des Coaches; Fans übernehmen die Immunisierung eigenständig, der Coach muss kaum selbst eingreifen.
Die Privatisierung des Scheiterns: Ideologischer Rahmen der Maschine
Was all diese Mechanismen verbindet – von der Funnel-Dramaturgie über die Preislogik bis zur Community-Immunisierung – ist eine tiefere diskursive Operation: die systematische Verschiebung von Kritik ins Innere der Person. Mark Fisher hat diese Bewegung als „Privatisierung von Leid“ beschrieben: Anstatt Arbeitsdruck, prekäre Verhältnisse oder strukturelle Ungleichheit politisch oder betrieblich anzugehen, wird dem Einzelnen gesagt, er solle an sich (Resilienz, Haltung, Mindset) arbeiten (Fisher, 2009). Die Coaching-Rhetorik tut genau das: Wer klagt, dem wird eingeredet, sein Mindset sei das Problem, nie das Umfeld. Damit wird Leid entpolitisiert und zugleich kommerzialisiert – denn die Lösung lautet ja immer: Kaufe Coaching, verändere dich. Ein Artikel auf Fashion Changers formuliert diese Kritik präzise: „Indem der Weg zum Glück verkauft wird… passiert ein schwerwiegender Shift von Verantwortung: Statt dass Zufall oder schlechte Startbedingungen thematisiert werden, bist du aus der Coaching-Perspektive für alles verantwortlich, was dir im Leben widerfährt“ (Müller, 2023). Das ist die Schlüsselstelle, an der Marketing, Psychologie und Ideologie konvergieren: Ein System, das Scheitern privatisiert, immunisiert sich nicht nur gegen Kritik – es verwandelt Kritik in erneute Nachfrage. Der Zweifel wird zum Symptom, das behandelt werden muss; der Einwand wird zum Beweis, dass man das Coaching braucht.
Die Immunisierungsrhetorik der Coaching-Szene ist damit nicht nur Selbstschutz einzelner Anbieter, sondern Teil eines größeren Diskurses, der Verantwortlichkeiten umkehrt: Opfer sind selbst schuld, Gurus und Systeme sind entlastet. In Foucaults Begriffen ließe sich von Gouvernementalität sprechen: Macht wird nicht durch Zwang ausgeübt, sondern durch die Formierung selbststeuernder Subjekte. Die Mitglieder übernehmen die gewünschte Verhaltensweise freiwillig, ja eifrig; sie verinnerlichen den Coach-Blick und regulieren sich selbst im Sinne der Gruppennormen (Foucault, 1978). Eine ehemalige Teilnehmerin formulierte es retrospektiv so: „Ich hatte irgendwann beim Einkaufen die Coach-Stimme im Kopf: ‚Willst du das wirklich essen? Das ist nicht high vibe!‘ – Da merkte ich, wie sehr mich das infiltriert hat“ (DeepResearches, siehe Anhang). Das zeigt, wie weit die Selbstgovernance gehen kann: Die Kontrolle ist internalisiert, der Coach ist längst nicht mehr nötig – sein Blick ist zum inneren Blick geworden.
Überleitung: Von der Architektur zur Sprache
Was in diesem Kapitel beschrieben wurde, ist keine Sammlung von Einzelfällen, sondern eine Struktur. Der Funnel ist nicht nur ein Vertriebsweg, sondern eine Architektur der Einflussnahme, die psychologische Verwundbarkeit systematisch adressiert und in Kaufentscheidungen übersetzt. Die Mechanismen – Foot-in-the-door, Scarcity, Sunk Cost, Dark Patterns, parasoziale Bindung, Community-Lock-in, Immunisierung – sind einzeln gut erforscht; ihre Kombination in einem Feld, das sich als „Hilfe“ präsentiert, erzeugt jedoch eine besondere Brisanz. Denn anders als beim Kauf eines Produkts geht es hier um das Selbst. Der Funnel verkauft nicht nur ein Programm, sondern eine Identität, eine Zugehörigkeit, eine Hoffnung. Und wenn diese Hoffnung enttäuscht wird, greift die Immunisierungslogik: Nicht das System hat versagt, sondern du. Das ist die perfekte Schleife – und sie erklärt, warum der Markt so stabil ist, obwohl die Evidenz so dünn.
Doch die Architektur allein erklärt nicht alles. Sie beschreibt, was passiert – aber nicht, wie es auf der Mikro-Ebene wirkt. Im nächsten Kapitel geht es deshalb um den Treibstoff der Maschine: die Sprache selbst. Nicht jede Rhetorik ist Manipulation, nicht jede Zuspitzung ist unethisch. Aber dort, wo Existenzthemen, psychologisches Vokabular und Verkaufslogik ineinandergreifen, wird Sprache häufig nicht mehr primär als Mittel der Klärung eingesetzt, sondern als Mittel der Lenkung. Kapitel 7 wird zeigen, wie.
Sprache als psychischer Übergriff
Es gibt Sätze, die sind so unscheinbar, dass man erst hinterher merkt, dass man längst durchgelaufen ist. „Jetzt pack’s doch endlich an, es muss sich doch etwas ändern.“ Ein Satz wie dieser – dokumentiert als typisches Beispiel für emotionalen Druck in unseriösen Online-Coaching-Kontexten – wirkt zunächst wie ein gut gemeinter Weckruf (Verbraucherzentrale Bayern, 2025). Er klingt nach Energie, nach Aufbruch, nach dem berühmten „Ruck“, den die Seele angeblich braucht. Und doch verschiebt er in einem einzigen Atemzug die Szene: weg von der Frage, was ein Angebot leistet, wie es arbeitet, ob es passt, und hin zur Frage, ob das Gegenüber überhaupt ernsthaft, mutig, verantwortungsbereit ist. Der Satz behauptet Nähe („ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht“) und setzt zugleich ein Urteil („dein Zögern ist Ausrede“). In dieser Doppelbewegung – Empathie als Vehikel für Beschämung – liegt die Signatur einer Rhetorik, die nicht klärt, sondern lenkt.
Kapitel 6 hat die Funnel-Maschine als Architektur beschrieben – die Abfolge von Kontaktanbahnung, Verknappung, Preislogik und Community-Bindung. Hier geht es nun um den bevorzugten Treibstoff dieser Maschine: die Sprache selbst. Nicht jede Rhetorik ist Manipulation, nicht jede Zuspitzung ist unethisch, und selbstverständlich ist Sprache in jedem helfenden Feld wirksam – sie rahmt Erfahrung, sie stiftet Bedeutung, sie eröffnet Handlungsmöglichkeiten. Aber im Therapieschattenmarkt, dort wo Existenzthemen, psychologisches Vokabular und Verkaufslogik ineinandergreifen, wird Sprache häufig nicht mehr primär als Mittel der Klärung eingesetzt, sondern als Mittel der Lenkung. Sie arbeitet nicht am Verstehen, sondern am Entschluss; nicht an der Differenzierung, sondern an der Reduktion; nicht an der Ambivalenzfähigkeit, sondern an der Tilgung von Ambivalenz. Das Problem ist nicht, dass Menschen überzeugt werden – das Problem ist, wie sie überzeugt werden, wenn die Entscheidung zugleich eine moralische Selbstprüfung wird und wenn das Gegenüber in einer Notlage ist, in der das Realitätsprinzip ohnehin unter Druck steht.
Double Binds: Wenn jede Antwort „falsch“ ist
Der Begriff des Double Bind stammt aus einer Zeit, in der man schweres psychisches Leiden gern in Kommunikationsmuster übersetzte. Bateson und Kolleg:innen beschrieben Doppelbindungen als paradoxe Botschaften innerhalb eines Machtgefälles, in denen jede Reaktion negative Konsequenzen hat und das Benennen der Paradoxie – die Meta-Ebene – selbst sanktioniert wird (Bateson et al., 1956; Bateson, 1972). Die historische Schizophrenie-These ist heute aus guten Gründen umstritten; als Diagnostik von Kommunikationsmacht bleibt das Konzept jedoch frappierend präzise – gerade dort, wo sich eine Beziehung als „Hilfe“ ausgibt, aber strukturell eine Kaufentscheidung erzwingt.
Im Hochpreis-Coaching begegnet der Double Bind selten als logischer Widerspruch, sondern als moralische Falle. KONSUMENT zitiert als typische Closing-Formel: „Es ist nur noch ein Platz verfügbar. Du musst dich jetzt entscheiden“ (KONSUMENT.AT, 2024). Der Satz ist nicht einfach Dringlichkeit, er ist eine soziale Konstruktion von Alternativen: Entweder du gehörst dazu (Entscheidung jetzt), oder du bleibst draußen – und das Draußen ist nicht nur neutral, es ist implizit das Versagen an dir selbst. Noch schärfer wird es, wenn die Bitte um Bedenkzeit als illegitime Option behandelt wird. ORF help dokumentiert eine Szene, in der auf die Bitte „eine Nacht Bedenkzeit“ der Satz folgt: „Entweder jetzt oder du hast Pech gehabt“ (ORF help, 2021). Das ist Double Bind in Reinform: Zustimmung bedeutet Zahlung unter Druck; Nicht-Zustimmung bedeutet nicht einfach „nein“, sondern den Verlust der Chance, die man sich gerade erst erlauben wollte. Die Paradoxie liegt darin, dass beide Optionen verlieren – und dass die dritte Option, nämlich das Gespräch zu verlassen und in Ruhe zu prüfen, durch die moralische Rahmung entwertet wird.
Das Entscheidende ist, dass solche Formeln in einem psychologisierten Feld nicht nur als Verkauf wirken, sondern als Diagnose. Wenn der Satz „Du musst dich jetzt entscheiden“ in eine Semantik eingebettet wird, die Entwicklung, Trauma, Selbstwert oder „Commitment“ adressiert, wird das Nachdenken selbst verdächtig. Dann erscheint die vernünftige dritte Option – abwägen, vergleichen, schlafen, mit Partnern oder Freunden sprechen, Vertragsbedingungen lesen – als Symptom. Genau davor warnen Verbraucherzentralen, wenn sie darauf bestehen, dass bei seriösen Angeboten Bedenkzeit eingeräumt werden muss und „überhastetes Unterschreiben“ ein Warnsignal ist (Verbraucherzentrale, 2025a). In der aggregierten Analyse finden sich Variationen dieses moralischen Entweder-oder, die es nicht offen aussprechen, aber strukturell reproduzieren: Nicht-Kauf wird als „Komfortzone“, als „Angst vor Größe“ oder als „Selbstsabotage“ gerahmt; Kauf als der einzige Beweis dafür, dass man „es ernst meint“ (DeepResearches, siehe Anhang). Das Double-Bind-Moment besteht dann darin, dass jede abweichende Entscheidung einen Identitätsverlust kostet: Wer nicht kauft, ist nicht einfach vorsichtig – er ist, im Frame des Angebots, defizitär.
Pragmatik: Wie Sprache Entscheidungen „vorab“ in Gang setzt
Die wirksamsten sprachlichen Eingriffe sind oft nicht die lauten, sondern jene, die im Satzbau versteckt sind. Genau hier wird die linguistische Pragmatik zum Werkzeugkasten der Kritik. Grice hat gezeigt, dass Kommunikation nicht nur aus dem besteht, was gesagt wird, sondern aus dem, was Hörer als vernünftige Schlussfolgerung ergänzen – Implikaturen (Grice, 1975). Und Präsuppositionen funktionieren so, dass sie Voraussetzungen in den Satz einbauen, die man stillschweigend akzeptiert, wenn man dem Satz folgen will (Yule, 1996). Das klingt akademisch, ist aber in Verkaufstexten so praktisch wie ein Türschloss.
„Wenn du startest, wirst du merken, wie schnell sich alles verändert.“ Ein Satz wie dieser – als aggregiertes Muster zu verstehen, weil er in vielen Varianten wiederkehrt – argumentiert nicht dafür, dass Starten sinnvoll ist. Er setzt den Start als quasi schon beschlossene Realität und verschiebt die Entscheidung in den Hintergrund. Wer nicht startet, muss nicht nur „nein“ sagen, sondern eine implizite Identität korrigieren: „Ich bin nicht die Person, die startet.“ Das Präsupponierte – dass man starten wird, dass Veränderung schnell kommt, dass das Programm wirkt – wird nicht behauptet, sondern vorausgesetzt, und genau deshalb ist es schwerer zu bestreiten. Ein direktes Argument kann man prüfen; eine Präsupposition muss man erst bemerken, bevor man sie prüfen kann (DeepResearches, siehe Anhang).
Ähnlich arbeiten Fragen, die wie Selbstreflexion klingen, aber das Feld der Gründe verengen: „Wie sehr willst du es wirklich?“ Auch das ist, als Muster, weniger eine Frage nach Passung als eine moralische Prüfung. Der Satz setzt voraus, dass Wollen der zentrale Parameter ist – nicht Zeit, nicht Geld, nicht Gesundheitszustand, nicht Lebenskontext, nicht die Frage, ob das Angebot überhaupt hält, was es verspricht. In der Persuasionspsychologie ist gut beschrieben, dass Menschen je nach Belastung und Motivation eher über Argumente (zentral) oder über Hinweisreize (peripher) überzeugt werden (Petty & Cacioppo, 1986). Wer erschöpft ist, wer sich schämt, wer sich gerade als „nicht gut genug“ erlebt, hat weniger kognitive Kapazität für zentrale Verarbeitung. Genau deshalb ist es in therapienahen Verkaufssituationen so heikel, wenn Sprache Entscheidungen über Präsuppositionen „vorab“ in Gang setzt – sie nutzt nicht nur die Verwundbarkeit aus, sie adressiert sie gezielt.
Der dritte pragmatische Hebel ist die Entwertung der Zeit. Verbraucherzentrale.de beschreibt unseriöse Angebote ausdrücklich als solche, die „vermeintlichen Zeitdruck“ erzeugen und das Angebot gebe es nur „jetzt und heute“, während „Bedenkzeit“ nicht eingeräumt werde (Verbraucherzentrale, 2025a). Diese Formulierungen sind nicht bloß Information; sie sind ein Framing, das dem Zögern den Status einer legitimen Prüfung nimmt. Was pragmatisch geschieht, ist eine Umstellung des Entscheidungssystems: Aus der Frage „Was bekomme ich? Was riskiere ich? Was sind Alternativen?“ wird die Frage „Warum zögere ich?“ – und diese zweite Frage ist im Therapieschattenmarkt selten offen. Sie wird meist schon beantwortet: Weil du ein Muster hast. Weil du dich nicht wertschätzt. Weil du Angst hast. Damit wird die Entscheidung nicht rationalisiert, sondern psychologisiert.
Scham, Stolz und Face-Work: Wenn Kommunikation zur Selbstwertprüfung wird
Ein Kernmoment vieler Closing-Dialoge ist nicht die Information, sondern die Gesichtsarbeit. Goffman bezeichnete „face“ als das soziale Selbstbild, das in Interaktionen verteidigt wird (Goffman, 1967). Brown und Levinson haben daraus die Politeness-Theorie entwickelt: Kommunikation kann das Gesicht schützen oder bedrohen; und je nach Kontext sind „face-threatening acts“ hoch wirksam (Brown & Levinson, 1987). Das Besondere am therapienahen Verkauf ist, dass Face-Bedrohung oft nicht als Unhöflichkeit erscheint, sondern als „Wahrheit“.
„Jetzt pack’s doch endlich an, es muss sich doch etwas ändern.“ Der Satz ist eine klassische Gesichtsbedrohung, verkleidet als Fürsorge: Er unterstellt, dass das Gegenüber bislang nicht gepackt hat, dass es träge war, dass es seine Lage zugelassen hat (Verbraucherzentrale Bayern, 2025). Der Satz stellt eine Bühne her, auf der der Kauf als Wiederherstellung des Gesichts fungiert: Wer kauft, ist „jemand, der endlich handelt“. KONSUMENT dokumentiert diesen Mechanismus in einer noch direkteren Variante, wenn dort der Satz zitiert wird: „Du musst dich JETZT entscheiden. Ich habe vier Leute in der Leitung!“ (KONSUMENT.AT, 2024). Der Inhalt ist banal – Zeitdruck. Die Wirkung ist sozial: Man will nicht derjenige sein, der „zögert“, der „blockiert“, der „nicht bereit“ ist.
Scham ist dabei der zentrale Affekt, weil sie nicht nur eine Handlung kritisiert („das war unklug“), sondern das Selbst trifft („mit mir stimmt etwas nicht“). Gerade in hochpreisigen Angeboten, die Identität verkaufen („du bist die Person, die investiert“), wird Scham zur stillen Währung: Man kauft, um die drohende Selbstabwertung zu vermeiden. Die klassische Forschung zu sozialem Einfluss zeigt, wie stark Menschen sich an Normen anpassen – nicht nur um richtig zu liegen, sondern um dazuzugehören (Cialdini & Goldstein, 2004). In Communities wird das später stabilisiert; im Call wird es erzeugt. Der Satz „Das ist dein Widerstand“ kann in einer Analyse ein Arbeitsbegriff sein; im Pitch ist er häufig ein Gesichtsschlag mit Samthandschuhen: Du glaubst, du prüfst – in Wahrheit bist du defekt. Der Einwand verschwindet, weil er als Charakterproblem erscheint.
Gaslighting-ähnliche Dynamiken: Die Umdefinition der Innenwahrnehmung
An diesem Punkt drängt sich ein Begriff auf, der schnell zu grob wird und deshalb vorsichtig behandelt werden muss: Gaslighting. Sweet hat Gaslighting als soziale Praxis beschrieben, in der Wahrnehmung und Realität des Gegenübers so unterminiert werden, dass es dem eigenen Urteil weniger traut und dem Urteil des Anderen mehr (Sweet, 2019). Ich benutze den Begriff hier nicht als Etikett, sondern als Warnsignal für eine bestimmte Struktur: die systematische Umdefinition der Innenwahrnehmung zugunsten eines fremden Deutungsmonopols.
In der aggregierten Analyse finden sich Wendungen wie: „Du sagst, du brauchst Zeit, aber in Wahrheit hast du Angst.“ Oder: „Du glaubst, es geht ums Geld, aber eigentlich geht es um deinen Selbstwert.“ Das kann in einem therapeutischen Prozess eine Hypothese sein, die gemeinsam geprüft wird. Im Verkaufsprozess ist es meist eine Waffe, weil sie nicht zur Prüfung einlädt, sondern zur Kapitulation: Wer widerspricht, beweist nur, dass er es „noch nicht sieht“ (DeepResearches, siehe Anhang). Die entscheidende Verschiebung ist epistemisch: Das Gegenüber verliert das Recht, Gründe zu haben. Es darf nur Symptome haben. Und sobald Einwände Symptome sind, kann man sie „bearbeiten“, statt ihnen zu antworten. In professionellen Hilfesettings ist genau diese Gefahr der Grund, warum Deutung gebunden ist an eine Ethik: Man darf nicht im Namen eines Wissens sprechen, das das Subjekt enteignet. Im Therapieschattenmarkt hingegen ist das Subjekt oft genau dann wertvoll, wenn es sich enteignen lässt – denn dann wird es steuerbar.
Hypnotische Anmutung, NLP und die Ware „geheime Technik“
Oft lautet der Einwand: „Aber gute Gesprächsführung ist doch immer suggestiv.“ Ja – aber der Unterschied liegt darin, ob Suggestion als Nebenwirkung eines verstehenden Gesprächs auftritt, oder ob sie strategisch eingesetzt wird, um eine Zahlung zu erzeugen. Im Hochpreis-Sales finden sich häufig Muster, die an hypnotische Induktion erinnern: rhythmische Wiederholung, Yes-Sets, „Future Pacing“, das Erzählen eines inneren Films, in dem man sich schon im neuen Leben sieht. Bandler und Grinder haben im Kontext des NLP hypnotische Sprachmuster popularisiert, die sich explizit an Erickson orientieren (Bandler & Grinder, 1975). Man muss nicht an „Hypnose“ im klinischen Sinn glauben, um zu erkennen, dass eine Kombination aus Autorität, emotionaler Intensität, Wiederholung und Handlungsimperativ eine Situation erhöhter Suggestibilität begünstigen kann.
Hinzu kommt das Technikvokabular als Kompetenztheater. „Neuro“, „Programmierung“, „Re-Coding“, „Nervensystem“, „Trauma“ – Worte, die wissenschaftlich klingen, erzeugen Vertrauen, auch wenn ihre Verwendung unsauber ist. Gerade NLP ist wissenschaftlich seit Jahrzehnten schwach belegt; frühe Reviews fanden wenig stützende Daten (Sharpley, 1987), spätere Übersichten bilanzierten NLP eher als pseudowissenschaftlich dekoratives System denn als empirisch robustes Verfahren (Witkowski, 2010), und einzelne NLP-Kernbehauptungen (etwa Augenbewegungsmythen) wurden experimentell nicht bestätigt (Wiseman et al., 2012). Was in solchen Kontexten zusätzlich wirkt, ist die Pseudoprofondität: Sätze, die tief klingen, weil sie in Nebel sprechen. Pennycook und Kolleg:innen haben „pseudo-profound bullshit“ empirisch untersucht – Aussagen, die profund erscheinen, ohne substanziell prüfbar zu sein, und die dennoch als bedeutungsvoll erlebt werden (Pennycook et al., 2015). Ein frappierendes Beispiel liefert KONSUMENT, wenn dort eine Betroffene zitiert wird: Im Coaching seien ihr „Lichtcodes übertragen“ worden; zugleich solle sie lernen, diese „Lichtcodes“ an andere zu übertragen (KONSUMENT.AT, 2024). Es ist schwer, so etwas zu lesen, ohne dass der Humor der Situation die Scham übertönt – und genau deshalb ist es wichtig, sachlich zu bleiben. Denn hier sieht man, wie Sprache die Grenze zwischen Sinnsuche und Behauptungsmacht verwischt. Die Ware ist nicht nur ein Kurs. Die Ware ist ein Gefühl von Tiefe, das nicht geprüft werden muss. Und in einem Markt, der mit Verwundbarkeit arbeitet, wird diese Ware nicht harmlos: Sie kann Menschen in Weltbilder hineinziehen, die Kritik nicht zulassen, weil die Begriffe selbst schon Immunisierung sind.
Freud als Kontrastfolie: Suggestion versus Durcharbeiten
Freud hat den Weg von der Hypnose zur Analyse nicht aus ästhetischen Gründen gemacht, sondern weil Suggestion zwar Effekte erzeugen kann, aber die Konflikte nicht notwendig bearbeitet, die die Symptome nähren. In „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ insistiert er darauf, dass Veränderung nicht durch das Einflüstern einer Wahrheit entsteht, sondern durch Arbeit am Wiederkehrenden, am Widerstand, an der Wiederholung (Freud, 1914/1958). Man kann Freud historisch und kritisch lesen – und dennoch bleibt dieser Unterschied für unseren Kontext zentral: Ein Setting, das Widerstand „bricht“, kann kurzfristig Compliance erzeugen. Ein Setting, das Widerstand ernst nimmt, kann langfristig Autonomie fördern.
In vielen therapienahen Hochpreis-Settings passiert das Gegenteil der psychoanalytischen Ethik: Zweifel wird nicht als Material behandelt, sondern als Defekt. Ambivalenz wird nicht mentalisiert, sondern moralisiert. Bedenkzeit wird nicht als Schutz respektiert, sondern als „Muster“ entwertet. Verbraucherzentrale.de formuliert das als Warnsignal mit erstaunlicher Klarheit: „Bedenkzeit wird nicht eingeräumt“; das Angebot sei nur „jetzt und heute“ verfügbar (Verbraucherzentrale, 2025a). Hier wird Sprache zur Struktur – sie ist nicht Begleitung, sie ist Trichter. Damit ist auch der Grund benannt, warum ich hier von psychischem Übergriff spreche. Nicht im strafrechtlichen Sinne, nicht als pauschaler Vorwurf gegen ein Feld, sondern als Strukturdiagnose: Ein Übergriff beginnt dort, wo der andere nicht mehr als Subjekt behandelt wird, das Gründe haben darf, sondern als Objekt, dessen Innenleben umdefiniert wird, damit es in eine vorgefertigte Dramaturgie passt. Man kann das Ganze in einem Satz bündeln: Sprache wird dann gefährlich, wenn sie nicht mehr klärt, sondern entscheidet, und wenn sie das Entscheidungsrecht des Gegenübers dadurch unterläuft, dass sie es moralisch beschämt oder psychologisch enteignet.
Überleitung: Von der Sprache zur psychoanalytischen Tiefenanalyse
Der Übergang zum nächsten Kapitel liegt damit auf der Hand. Wenn Sprache nicht nur verkauft, sondern Subjektpositionen organisiert – wenn sie Scham mobilisiert, Ambivalenz tilgt, Zweifel pathologisiert und das Realitätsprinzip als „Mindset“ umdeutet –, dann ist die Psychoanalyse nicht Dekor, sondern die passende Optik: Sie kann zeigen, welche Beziehung hier hergestellt wird, welche Wünsche ausgenutzt werden, und welche Abwehrformen dabei kulturell belohnt werden. Was in diesen Funnels stattfindet, ist nicht nur Vertrieb mit psychologischem Vokabular – es ist eine Inszenierung, die unbewusste Dynamiken adressiert: die Sehnsucht nach einer idealisierten Elternfigur, die es endlich richtig macht; die Hoffnung, dass jemand die Antwort hat, die man selbst nicht findet; die Bereitschaft, sich einem System zu unterwerfen, wenn es nur verspricht, die innere Leere zu füllen. Kapitel 8 wird diese Dynamiken genauer untersuchen – nicht um Klienten zu pathologisieren, sondern um zu verstehen, warum bestimmte Angebote so wirksam sind, obwohl sie so wenig halten.
Der psychodynamische Kern – Übertragung, Suggestion und die Ökonomie der Hoffnung
Wir haben bis hierhin die äußere Anatomie dieses Feldes gesehen: die Bühne, auf der Nähe und Autorität hergestellt werden, die Maschine, die Vertrauen in Kauf übersetzt, die Sprache, die Zweifel in Defekte umcodiert, und schließlich das Immunsystem, das Kritik nicht widerlegt, sondern neutralisiert. Man könnte an dieser Stelle sagen: Damit ist alles erklärt. Der Rest wäre Moral, vielleicht noch ein bisschen Recht.
Und doch bleibt etwas Unbehagliches übrig, das sich nicht allein aus Marketingmechanik ableiten lässt. Denn was diese Szene so wirksam macht, ist nicht nur, dass sie verkauft. Es ist, dass sie verkaufen kann, ohne wie Verkauf zu wirken. Dass sie intime Register öffnet, bevor Verantwortung sichtbar wird. Dass sie Begriffe verwendet, die nach Klinik klingen, aber wie Werbesprache funktionieren. Dass sie Bedenkzeit nicht nur verkürzt, sondern psychologisch entwertet. Dass aus einem sachlichen Einwand eine innere Schwäche wird. Und dass dieses Ganze bei manchen Menschen nicht einfach „nicht passt“, sondern wirklich nach innen greift: in Scham, in Hoffnung, in Selbstbild, in die Art, wie man die eigene Not überhaupt lesen darf.
An dieser Stelle ist die Psychoanalyse nicht Ornament, sondern das passende Diagnoseinstrument. Nicht weil sie „mehr weiß“ als andere, sondern weil sie seit über hundert Jahren das untersucht, was in solchen Szenen systematisch berührt wird: die Bindung an ein Gegenüber, die Sehnsucht nach einem wissenden Anderen, die Bereitschaft, sich führen zu lassen, und die Abwehrformen, mit denen man Ohnmacht und Kontingenz erträgt oder eben nicht erträgt. Psychoanalyse ist, wenn man sie entmythologisiert, eine Theorie der Verführbarkeit: nicht im moralischen Sinn, sondern im strukturellen. Sie fragt nicht zuerst: Hat der andere recht? Sie fragt: Welche Position nimmt der andere ein? Welche Position bekomme ich? Welche Affekte werden wach? Welche Schuld wird verteilt? Und wozu dient diese Verteilung? Denn vieles, was im Therapieschattenmarkt als „Empowerment“ verkauft wird, wirkt psychodynamisch eher wie eine Abkürzung: nicht die mühsame Arbeit am Konflikt, sondern seine Umgehung; nicht das Durcharbeiten von Ambivalenz, sondern ihre Tilgung; nicht das Aushalten des Nichtwissens, sondern die rasche Lieferung einer Deutung. In der Sprache der Szene heißt das „Klarheit“, „Alignment“, „Commitment“. In der Sprache der Psychoanalyse klingt es anders: Idealisierung, Regression, manische Abwehr, Über-Ich-Druck, Suggestion. Und genau hier liegt die eigentliche Gefahr dieser Grauzone: Sie operiert in einem hoch aufgeladenen Bereich, aber ohne die methodische und ethische Disziplin, die solche Bereiche erfordern.
Wir können das an einem kleinen Moment festmachen, der uns in den vorherigen Kapiteln immer wieder begegnet ist: dem Augenblick, in dem Zögern umgedeutet wird. Nicht als vernünftige Prüfung, sondern als „Muster“. Nicht als Bedenken, sondern als „Widerstand“. Nicht als Grenze, sondern als „Angst vor Größe“. Dieser Moment ist psychoanalytisch deshalb so entscheidend, weil er den Ort verschiebt, an dem Entscheidung stattfinden darf. Entscheidung wird nicht mehr als Verhältnis von Gründen und Realität verstanden, sondern als Charaktertest. Wer kauft, beweist Mut; wer nicht kauft, verrät sich selbst. Das ist nicht nur eine Verkaufsfigur. Es ist eine Struktur, die das Subjekt in eine kindliche Position drängen kann: Ich darf nicht prüfen, ich muss glauben. Und je stärker diese Struktur mit Wärme, Zugehörigkeit und Heilssemantik kombiniert wird, desto weniger fühlt sie sich wie Druck an – und desto mehr wie „endlich die Wahrheit“.
Genau das wollen wir in diesem Kapitel entfalten: Wie aus dem wissenden Anderen ein Produkt wird; wie „Holding“ simuliert werden kann, ohne gehalten zu werden; wie unverdaute Affekte als Schuld an den Klienten zurückgegeben werden; wie Idealisierung und Entwertung nicht nur individuelle Dramen sind, sondern Marktdynamiken; wie „magischer Voluntarismus“ die Realität moralisch umschreibt; und wie die Zeitdiagnose der Kritischen Theorie – Governmentality, Kulturindustrie, Privatisierung des Leids, Leistungs-Über-Ich – nicht nebenher läuft, sondern die kulturelle Bühne bildet, auf der diese psychodynamischen Bewegungen plausibel werden. Der Text wird deshalb wieder im Wechsel arbeiten: Nahaufnahme und Totale. Nicht weil das stilistisch hübsch wäre, sondern weil das Phänomen es verlangt. Wer nur die Totale sieht, unterschätzt die Intimität. Wer nur die Nahaufnahme sieht, unterschätzt die Industrie. Der Therapieschattenmarkt ist beides zugleich: Beziehung und Maschine. Und genau an dieser Nahtstelle – dort, wo Beziehung verkäuflich wird – beginnt die psychoanalytische Kritik im strengsten Sinn.
Wilde Analyse reloaded: Deuten ohne Rahmen, Nähe ohne Verantwortung
Freud hat ein Wort geprägt, das man in unserem Zusammenhang – mit einer gewissen Ironie, aber ohne Häme – wieder ins Licht ziehen kann: „wilde Analyse“. Gemeint war nicht das bloße Dilettieren, nicht das „unprofessionelle Auftreten“, sondern etwas Präziseres und Gefährlicheres: das Auswerfen von Deutungen ohne Technik, ohne methodischen Rahmen, ohne die geduldige Arbeit am Widerstand – kurz: Deuten als Machtakt, nicht als Prozess (Freud, 1910/1955). Der Skandal der wilden Analyse war nie, dass jemand „klug“ sprach. Der Skandal lag darin, dass Deutung wie ein Werkzeug benutzt wurde, das keine Ethik kennt, weil es keine Form hat, in der es gebunden wird. Denn Deutungen sind keine harmlosen Sätze. Eine Deutung kann entlasten – und sie kann überfahren. Sie kann öffnen – und sie kann fixieren. Sie kann das Subjekt aufrichten – oder es in die Deutungsmacht des Anderen einschließen. Gerade weil Deutung in psychischen Notsituationen so wirksam sein kann, ist sie in der Psychoanalyse an einen Gedanken gebunden, der zugleich bescheiden und streng ist: Deutung ist Hypothese, nicht Urteil. Sie muss im Verlauf geprüft werden dürfen. Und das Prüfen geschieht nicht in der Luft, sondern in einem Rahmen, der Widerstand nicht als Feind behandelt, sondern als Material.
Im Therapieschattenmarkt kehrt diese Wildheit wieder – nicht als klassisches Freud-Vokabular („Vaterkomplex“), sondern als moderne, psychologisierte Verkaufsdeutung: „Du zögerst, weil du Angst vor Größe hast.“ „Du hältst an deinem alten Selbst fest.“ „Das ist dein Trauma-Pattern.“ „Dein Nervensystem ist dysreguliert.“ Diese Sätze klingen, als seien sie Empathie. Sie können es sogar sein. Aber sie sind zugleich häufig Deutung ohne Verpflichtung: Es wird erklärt, ohne dass die Erklärung an einen Prozess gebunden ist, in dem sie revidiert werden könnte. Und genau das ist die Paradoxie: Es klingt nach Tiefe – und funktioniert oft als Abkürzung.
Freud bestand nicht zufällig darauf, dass Analyse nicht Suggestion ist. Sie ist – im Idealfall – ein Verfahren, das gerade nicht dadurch wirkt, dass der Analytiker „Recht hat“, sondern dadurch, dass das Subjekt seine eigenen Bedeutungen, Wiederholungen und Konflikte in Sprache bringen kann. Darum ist das Durcharbeiten so unerquicklich und so wichtig: nicht der Kick der schnellen Einsicht, sondern die geduldige Auseinandersetzung mit dem Wiederkehrenden, gerade dort, wo es sich der bewussten Kontrolle entzieht (Freud, 1914/1958). Ein Prozess, der Widerstand nicht „bricht“, sondern ernst nimmt, weil er weiß: Widerstand ist oft der Ort, an dem das Subjekt sich schützt – und an dem zugleich Veränderung möglich wird.
In der Grauzone hingegen wird häufig etwas verkauft, das wie Durcharbeiten klingt, aber suggestiv organisiert ist: „Commitment“, „Accountability“, „Trust the process“. Das ist die Rhetorik der Dauer – ohne die Ethik der Dauer. Denn Dauer in der Analyse heißt nicht: länger zahlen. Dauer heißt: länger aushalten, länger differenzieren, länger die Frage offen lassen, ob eine Deutung stimmt. Dauer heißt vor allem auch: die Möglichkeit des Nicht-Passens zuzulassen. In einem Verkaufsverhältnis wird Nicht-Passen schnell zur Störung, weil es Kaufbereitschaft gefährdet. Der Satz „Es passt nicht“ muss dann umgedeutet werden, damit der Prozess nicht endet.
Hier trifft Psychoanalyse auf Ökonomie. Die klassische Abstinenzregel (in ihrer technischen, nicht moralischen Bedeutung) ist eine Strukturidee: Der Analytiker soll nicht „wollen“ im Sinne eigener Zwecke; er soll nicht mit eigenen Interessen in die Deutung hineinziehen, sondern die Analyse dem Material des Patienten überlassen (Freud, 1912/1958). Natürlich will auch der Analytiker, dass die Arbeit gelingt. Aber er soll nicht am Gelingen verdienen müssen. Er soll nicht in die Versuchung geraten, Ambivalenz als „Problem“ zu behandeln, nur weil Ambivalenz Zeit kostet. Im Sales-Setting ist diese Versuchung eingebaut: Wer verdient, kann schwer „nicht wollen“. Der Coach, der im Call eine Deutung ausspricht, spricht sie nicht in einem leeren Raum. Er spricht sie in einem Raum, in dem diese Deutung – bewusst oder unbewusst – eine Funktion im Kaufprozess haben kann.
Das macht die Deutung nicht automatisch falsch. Aber es macht sie strukturell gefährlicher. Denn wo Deutung zugleich Nähe herstellt und Kauf plausibilisiert, wird Deutung zur Doppelhandlung: Sie ist nicht mehr nur ein Angebot, etwas zu verstehen, sondern auch eine Technik, etwas zu bewirken – nämlich Zustimmung. Und genau hier erinnert Psychoanalyse an etwas, das im Selbstoptimierungsdiskurs gern vergessen wird: Deutung ist nicht neutral. Sie ist immer auch ein Zugriff. Wenn sie nicht im Rahmen gebunden ist, kann sie zum Übergriff werden. Im Therapieschattenmarkt wird dieser methodische Skandal oft unsichtbar gemacht, weil Deutung in „Empowerment“ gekleidet ist. Man sagt nicht: „Ich weiß besser als du.“ Man sagt: „Ich sehe dein Potenzial.“ Aber der Effekt kann derselbe sein: Der Andere übernimmt die Deutungshoheit über das Subjekt – und verkauft sie ihm als Befreiung.
Ferenczi im Kennenlern-Call: Sprachverwirrung zwischen Zärtlichkeit und Imperativ
Wenn Freud der Architekt des Rahmens ist, dann ist Ferenczi derjenige, der die gefährliche Zartheit psychischer Situationen ausleuchtet: wie leicht Nähe in Macht kippt, wie leicht Vertrauen in Übergriff. Seine Idee der „Sprachverwirrung“ – die berühmte „confusion of tongues“ – ist für die Call-Szene erstaunlich präzise (Ferenczi, 1932/1949). Ferenczi beschreibt eine Situation, in der zwei Sprachen durcheinander geraten: die Sprache der Zärtlichkeit und die Sprache der Leidenschaft, des Anspruchs, der Macht. Wo die eine Seite Zuwendung erwartet, antwortet die andere nicht mit Zuwendung, sondern mit einem Imperativ – und dieser Imperativ tarnt sich als „Wahrheit“.
Genau dieser Affektmix ist im Therapieschattenmarkt so oft zu beobachten, ohne dass man ihn skandalisieren müsste. Der Coach spricht warm, sieht dich „wirklich“, erzählt vielleicht eine eigene Leidensgeschichte, erzeugt die intime Atmosphäre eines Beichtstuhls in modernem Design. Und im nächsten Moment kommt der Abschluss: „Dann lass uns das jetzt festmachen.“ „Wenn du es ernst meinst, investierst du.“ „Sonst bleibst du in deinem Muster.“ Zärtlichkeit und Imperativ verschmelzen. Der Ton bleibt weich, die Struktur wird hart.
Man kann diese Verschmelzung leicht als Marketing abtun – und übersieht dann, dass es psychoanalytisch um mehr geht: um eine Verführung im strukturellen Sinn. Nicht sexuelle Verführung, sondern die Verführung in eine Beziehung, die zugleich Nähe verspricht und Autonomie unterläuft. Der Coach bietet affektive Wärme als Eintrittskarte – und nutzt sie dann als Hebel. Das Problem ist nicht die Wärme. Das Problem ist die Kombination aus Wärme und Druck, die die kritische Instanz des Klienten schwächt. Es ist eine stille Gewalttat, nicht weil sie schreit, sondern weil sie freundlich umdeutet: Bedenkzeit wird nicht als legitime Grenze anerkannt, sondern als Defekt.
Ferenczi liefert dafür eine ethische Klinge, die sehr gegenwartsfähig ist: Wenn Nähe hergestellt wird, trägt derjenige, der Nähe herstellt, Verantwortung für den Zustand, den er erzeugt. In Therapie heißt das: Wenn Regression aufkommt, wird sie gehalten, nicht genutzt. Wenn Abhängigkeit entsteht, wird sie reflektiert, nicht monetarisiert. Im Vertriebssetting heißt es oft: Wenn Regression aufkommt, wird sie – ohne dass jemand es böse meinen muss – zur Ressource. Denn Regression erhöht Suggestibilität, erhöht Bindung, erhöht Konversion. Und damit sind wir wieder bei der grundlegenden Differenz: Im professionellen Rahmen ist Nähe nicht nur erlaubt, sie ist gebunden. Im Therapieschattenmarkt wird Nähe häufig als „Authentizität“ verkauft, ohne dass die Bindung dieser Nähe in Verantwortung sichtbar wäre.
Winnicott: Holding-Simulation, False Self und die Ästhetik der Compliance
Winnicott ist für unseren Zusammenhang deshalb so hilfreich, weil er die ethische Frage der Beziehung nicht als Moral predigt, sondern als Entwicklungsbedingung beschreibt. Bei ihm ist „Halten“ kein freundliches Add-on, keine atmosphärische Wärme, kein „safe space“ als Stil. Holding ist eine Funktion: ein Rahmen, der es dem Subjekt erlaubt, überhaupt zu sein – bevor es „werden“ soll. Er spricht vom „going on being“, von jener elementaren Kontinuität des Selbst, die nur entstehen kann, wenn die Umwelt nicht ständig einbricht, überfordert, beschämt oder instrumentalisiert (Winnicott, 1960). Das ist weit entfernt von den üblichen Coachingformeln. Und gerade deshalb ist es ein präzises Gegenlicht.
Denn im Therapieschattenmarkt begegnet uns häufig eine eigenartige Doppelung: Es gibt eine ästhetische und rhetorische Überbietung von Holding – „ich halte dich“, „ich begleite dich täglich“, „du bist nicht allein“, „ich bin immer da“ –, aber zugleich wird dieser Halt an Bedingungen geknüpft, die Winnicott als geradezu anti-haltend beschreiben würde: Leistung, Fortschritt, Positivität, „Commitment“. Man könnte es so zuspitzen: Halten wird angeboten, aber nur, solange du dich so verhältst, dass das Angebot nicht gestört wird. Das ist nicht Holding, das ist Vertrag; nicht Containment, sondern Konditionierung.
Winnicott unterscheidet – in verschiedenen Texten, aber als Grundmelodie – zwischen einem Umfeld, das Entwicklung ermöglicht, und einem Umfeld, das Anpassung erzwingt. Wenn das Umfeld „gut genug“ ist, muss das Kind nicht permanent reagieren; es kann spielen, es kann Übergänge bilden, es kann eine innere Realität entwickeln, die nicht sofort auf Außenanforderungen zugeschnitten ist (Winnicott, 1953; Winnicott, 1971). Wenn das Umfeld dagegen zu stark „impingiert“ – zu früh fordert, zu unberechenbar ist, zu intrusiv –, dann entsteht etwas, das Winnicott mit dem Begriff False Self beschreibt: ein Selbst, das primär darauf ausgerichtet ist, den Erwartungen der Umwelt zu entsprechen, um Beziehung nicht zu verlieren (Winnicott, 1965). Das False Self ist keine Lüge im moralischen Sinn. Es ist eine Überlebensleistung: Ich werde so, wie du mich brauchst, damit du mich nicht fallen lässt.
Genau diese Logik ist für das, was wir im Coaching-Ökosystem als „Accountability“ und „Community“ beschrieben haben, zentral. Denn viele Programme koppeln Zugehörigkeit und Wertschätzung an sichtbaren Fortschritt. Das geschieht oft subtil: durch Erfolgsposts, „Wins der Woche“, „Durchbrüche“, durch Rituale des Bekenntnisses („ich war im Widerstand, dann habe ich es gecheckt“), durch die implizite Norm, dass Zweifel ein „Pattern“ sei und Kritik „low vibe“. In einem solchen Klima wird Entwicklung performativ: Sie muss gezeigt werden, damit sie gilt. Und wer sie nicht zeigt, spürt – manchmal ohne ein einziges offenes Wort – den Verlust von Resonanz. Der Raum wird dann nicht zum Ort des Spielens, sondern zum Ort des Funktionierens.
Winnicott würde sagen: Ein Raum, in dem gespielt werden kann, ist der Ort, an dem das Selbst atmen kann. Spielen meint hier nicht Freizeit, sondern psychische Freiheit: die Fähigkeit, zwischen innerer und äußerer Realität zu vermitteln, ohne dass die eine die andere verschlingt (Winnicott, 1971). In vielen High-Ticket-Settings wird das Gegenteil kultiviert: Der Raum ist nicht „potential space“, sondern „performance space“. Er erlaubt nicht die Unsicherheit des Probierens, sondern verlangt die Sicherheit des Fortschritts. Und weil Fortschritt zur moralischen Währung wird, entsteht eine spezifische Form von Compliance: Ich mache mit, damit ich dazugehöre; ich glaube, damit ich nicht rausfalle; ich bekenne, damit ich Anerkennung bekomme. Genau so arbeitet das False Self: Es organisiert sich um Beziehungssicherung, nicht um Wahrheit.
Das lässt sich an einem scheinbar kleinen Unterschied festmachen: In einem haltenden Rahmen darf ein Subjekt auch negativ sein. Es darf müde sein, neidisch, wütend, unerquicklich, ambivalent. Es darf sogar den Rahmen in Frage stellen, ohne dass daraus sofort ein Makel wird. In vielen Coaching-Communities dagegen wird Negativität rasch umcodiert: als „Blockade“, „Widerstand“, „alte Identität“, „Selbstsabotage“. Der Effekt ist vorhersehbar: Negativität verschwindet nicht, sie wird verschoben – in Scham, in heimliche Aggression, in Rückzug. Winnicott hat diese Verschiebung in anderer Sprache beschrieben: Wenn der Raum nicht trägt, muss das Selbst sich organisieren, um nicht auseinanderzufallen. Das False Self wird dann zur Schutzschicht, während das „true self“ – nicht als romantischer Kern, sondern als lebendige Spontaneität – sich versteckt (Winnicott, 1965). Ein Markt, der „Authentizität“ verkauft, kann so paradoxerweise genau die Unauthentizität produzieren, die er dann als weiteren Mangel vermarktet.
Das zweite winnicottianische Moment, das hier oft übersehen wird, ist die Illusion von verfügbarer Nähe. Viele Programme versprechen dauerhafte Erreichbarkeit: Voice Messages, tägliche Check-ins, schnelle Antworten, „always on“. Das klingt fürsorglich, ist aber strukturell ambivalent. Winnicott betont nicht die Dauerpräsenz, sondern die Verlässlichkeit einer begrenzten Präsenz. Holding ist nicht „immer da“, sondern „so da, dass man nicht zerfällt“. Eine 24/7-Verfügbarkeit kann sogar anti-haltend wirken, weil sie Grenzen verwischt und Abhängigkeit strukturell begünstigt. In Therapie sind Grenzen nicht Kälte, sondern Schutz: Sie verhindern, dass Nähe zum Besitz wird. In vielen Vertriebssettings wird Nähe dagegen als Verkaufsargument produziert – und genau dadurch verliert sie den Charakter des Haltens und bekommt den Charakter des Lock-ins.
Hier könnte man Winnicotts berühmten Text über die Fähigkeit, allein zu sein ins Spiel bringen: Er beschreibt Alleinsein nicht als Isolation, sondern als Reifefähigkeit, die gerade aus einer guten inneren Erfahrung von Gehaltensein erwächst (Winnicott, 1958). Ein gutes Hilfeverhältnis sollte diese Fähigkeit stärken: dass der andere nicht als ständiger Regulator gebraucht wird. Ein Marktmodell, das „ständige Nähe“ verkauft, riskiert das Gegenteil: Es schwächt die Fähigkeit, allein zu sein, indem es Abhängigkeit als „Support“ legitimiert. Das ist keine Unterstellung, sondern eine strukturelle Möglichkeit, die aus dem Design entsteht: Wenn der Kunde bindungsbedingt bleibt, ist das ökonomisch nützlich. Winnicott würde sagen: Dann wird Beziehung nicht zur Ermöglichung von Selbst, sondern zur Sicherung von Beziehung benutzt – und das ist genau der Umschlagspunkt, an dem Hilfe kippt.
Der dritte Punkt, den Winnicott in die Kritik einführt, ist fast schon eine Ethik der Zumutung: Halten bedeutet auch, die Enttäuschung auszuhalten, die mit Realität einhergeht. Winnicott spricht in verschiedenen Kontexten davon, dass das Objekt „überlebt“ – dass es nicht zusammenbricht, wenn der Patient es angreift, und dass es dadurch als reales Objekt erfahrbar wird (Winnicott, 1969). Übertragen auf unseren Kontext heißt das: Ein seriöses Hilfeverhältnis muss Kritik überleben können, ohne den Kritiker zu pathologisieren. Es muss die Möglichkeit aushalten, dass etwas nicht passt. Der Therapieschattenmarkt hat hier ein strukturelles Problem, weil Kritik ökonomisch gefährlich ist und deshalb – wie wir gesehen haben – häufig immunisiert wird. Winnicott liefert dafür den präzisen Maßstab: Wenn ein System Kritik nicht „überlebt“, sondern sie moralisch vernichtet, ist es kein haltender Raum, sondern ein fragiler.
Damit wird auch sichtbar, warum die „Holding-Simulation“ so wirksam und so riskant ist. Sie wirkt, weil sie eine reale kulturelle Lücke trifft: Viele Menschen haben zu wenig Halt, zu wenig Resonanz, zu wenig geschützte Räume. Der Markt bietet einen Ersatz: den ästhetisch codierten Safe Space. Aber wenn dieser Safe Space an Performanz gebunden ist, wird er zu einem Raum, der zwar Zugehörigkeit verspricht, aber Lebendigkeit konditioniert. Er bietet Wärme, aber er verlangt Konformität. Und damit verschiebt er Entwicklung von innen nach außen: nicht „Was ist wahr für mich?“, sondern „Was muss ich zeigen, um zu gelten?“
Winnicott hilft, das ohne Polemik zu sagen: Es ist kein Vorwurf an einzelne Menschen, sondern ein Strukturproblem eines Rahmens, der Beziehung verkauft. Denn wo Beziehung Ware ist, wird auch das Selbst, das sich in Beziehung zeigt, zur Ware. Das False Self ist dann nicht nur individuelles Schicksal, sondern das passende Selbst für einen Markt, der Authentizität verkauft und zugleich den Zweifel sanktioniert, der Authentizität erst möglich macht.
Bion: Container/Contained – oder warum „Mindset“ so oft nur Rückgabe ist
Bion ist für die Kritik am Therapieschattenmarkt fast zu passend, weil er nicht mit moralischen Kategorien arbeitet, sondern mit einer Theorie dessen, was in einer haltenden Beziehung funktional geschieht: Affekte werden aufgenommen, transformiert, in Denkbares überführt – und erst dann zurückgegeben. Bion interessiert nicht das „richtige Gefühl“, sondern die Frage, ob ein Gefühl überhaupt psychisch verarbeitet werden kann. Seine berühmte Figur von Container und Contained meint zunächst etwas sehr Einfaches: Ein Kind (oder später ein Patient) erlebt Zustände, die sich noch nicht denken lassen – rohe Erregung, Angst, Scham, namenlose Überforderung. Wenn diese Zustände keinen Ort finden, an dem sie aufgenommen und in Bedeutung verwandelt werden, bleiben sie unverdaulich. Dann wird nicht gedacht, sondern agiert, abgespalten, projiziert (Bion, 1962).
In Bions Modell ist die „Mutter“ – später der Analytiker, später jeder Rahmen, der etwas hält – nicht einfach nett. Sie ist eine psychische Funktion: Sie nimmt das Unverdauliche auf (Bion nennt das Beta-Elemente), sie „verdaut“ es in ihrer Reverie, verwandelt es in Alpha-Elemente, also in etwas, das gedacht, erinnert, geträumt werden kann, und gibt es so zurück, dass das Subjekt nicht beschämt, sondern befähigt wird (Bion, 1962). Container/Contained ist damit keine Metapher für Geborgenheit, sondern eine Theorie darüber, wie Denken entsteht. Und Denken entsteht – das ist Bions radikale Pointe – nicht durch Disziplin oder Willenskraft, sondern durch Beziehung, die Affekt halten kann.
Warum ist das für unsere Szene so zentral? Weil im Therapieschattenmarkt oft das Gegenteil passiert: Affekte werden nicht contained, sondern zurückgegeben – aber nicht als Bedeutung, sondern als Defekt. Trauer wird zur „negativen Energie“, Angst zur „Blockade“, Scham zum „Mindset“, Erschöpfung zum „Widerstand“. Was nicht in die Erfolgsstory passt, wird nicht verdaut, sondern exportiert. Das Subjekt bekommt seine eigenen Affekte zurück – nicht symbolisiert, sondern moralisiert. Es ist, als würde man jemandem mit Fieber sagen: „Das ist deine falsche Einstellung zur Temperatur.“ Der Affekt wird privatisiert, nicht verstanden.
Das ist mehr als ein schlechter Ton. Es ist eine strukturelle Verschiebung von Verantwortung. In einem haltenden Rahmen gilt: Wenn ein Affekt auftaucht, ist er zunächst einmal ein Ereignis, das einen Ort braucht. Man prüft, was er bedeutet, was er schützt, was er wiederholt. Im Therapieschattenmarkt gilt häufig: Wenn ein Affekt auftaucht, ist er ein Hindernis für das Programm. Und Hindernisse müssen beseitigt, nicht verstanden werden. Positivität wird dann nicht als Hoffnung, sondern als Abwehrform betrieben: Sie hält nicht aus, dass Negatives existiert. Sie muss es umdeuten. Und diese Umdeutung ist ökonomisch kompatibel. Denn ein Affekt, der als Defekt gerahmt wird, erzeugt Bedarf. Bedarf erzeugt Nachfrage. Nachfrage erzeugt Upsell.
Hier berühren sich Bion und die kritische Theorie fast zwangsläufig. Denn das, was als individuelles „Mindset“ zurückgegeben wird, hat oft eine gesellschaftliche Vorgeschichte: Erschöpfung, Vereinzelung, Prekarität, Beschleunigung. Mark Fisher hat diese Bewegung als Privatisierung beschrieben: Das System bleibt unsichtbar, indem das Leiden psychologisiert wird – und die Lösung als private Willensleistung erscheint (Fisher, 2009). Rose hat das als Technik der Selbstregierung analysiert: Das Subjekt wird zum Projekt, und die Reparatur des Subjekts wird zur moralischen Pflicht (Rose, 1999). In dieser Konstellation wirkt „Mindset“ wie eine perfekte Rückgabeform: Es nimmt dem Affekt jede Außenreferenz und schreibt ihn ins Innere ein. Nicht „dieses Leben macht müde“, sondern „du bist noch nicht resilient genug“. Nicht „diese Arbeitswelt ist brutal“, sondern „du musst dich anders programmieren“. Bions Container fehlt – und an seine Stelle tritt eine Moralmaschine.
Das erklärt auch die besondere Aggressivität mancher Positivitätskulturen. Sie sind nicht einfach „optimistisch“. Sie sind oft anti-container: Sie können den negativen Affekt nicht halten, weil er das System stört. Der negative Affekt wird dann zum Feind erklärt, und der Feind muss bekämpft werden. „Klarheit“, „Alignment“, „100 Prozent Commitment“ sind in dieser Perspektive nicht nur motivierende Begriffe, sondern häufig der Versuch, Ambivalenz abzuschaffen. Ambivalenz ist schlecht skalierbar. Sie ist nicht programmatisch. Sie braucht Zeit. Sie braucht einen Raum, in dem man nicht sofort „umsetzt“. Genau deshalb wird Ambivalenz in der Szene oft zum Gegner markiert: als „Unklarheit“, als „Selbstsabotage“, als „Widerstand“. Psychoanalytisch erinnert das an jene manische Bewegung, die nicht Trauerarbeit leistet, sondern Trauer übertönt: durch Aktivität, Zielregime, Triumph. Der Gewinn ist ein Hochgefühl. Der Preis ist oft der Einbruch danach – wenn das Unverdaute zurückkehrt.
Bion macht an dieser Stelle eine unangenehme Wahrheit sichtbar: Wer „Halten“ durch „Rückgabe“ ersetzt, produziert nicht Entwicklung, sondern Kreisläufe. Affekt → Defekt → Produkt → kurzfristige Erleichterung → erneuter Affekt. Der Therapieschattenmarkt ist dann nicht einfach eine Industrie, die Menschen „ausnutzt“, sondern ein System, das psychische Verdauung durch ökonomische Zirkulation ersetzt. Die Frage ist nicht, ob das „hilft“. Die Frage ist, ob es Denken ermöglicht – oder ob es Denken durch Moral und Kauf ersetzt.
Kohut und Kernberg: Selbstobjekt, Idealisierung und die narzisstische Kollusion
Es wäre zu klein, den Therapieschattenmarkt nur als Verkauf zu deuten. Er verkauft nicht nur Programme. Er verkauft Identität – und er trifft damit eine Zeit, in der Identität selbst unter Druck steht: prekär, fragmentiert, ständig verglichen, ständig sichtbar. In einer solchen Zeit werden bestimmte psychische Bedürfnisse marktfähig, weil sie nicht „neu“ sind, aber neu adressiert werden: das Bedürfnis nach Spiegelung, nach Idealisierung, nach Zugehörigkeit. Hier sind Kohut und Kernberg keine Polemik, sondern präzise Werkzeuge.
Kohut beschreibt, dass Menschen sogenannte Selbstobjektfunktionen benötigen: Spiegelung („ich werde gesehen“), Idealisierung („ich darf mich an etwas Größerem orientieren“), und Zwillingschaft („jemand ist wie ich“) (Kohut, 1971). In seriösen therapeutischen Prozessen werden diese Bedürfnisse nicht erfüllt wie an einer Theke; sie werden verstanden, gehalten und nach und nach in die eigene Selbststruktur integriert. Die ideelle Richtung ist Autonomie: nicht im Sinne von Unabhängigkeit von Beziehung, sondern im Sinne eines Selbst, das nicht dauernd externe Bestätigung braucht, um sich zu tragen.
Im Therapieschattenmarkt werden diese Selbstobjektbedürfnisse häufig direkt bedient – und gerade dadurch stabilisiert. Das ist die Dynamik des Coach als Ich-Ideal auf Beinen. „So wie ich warst du auch – bis ich…“ ist nicht nur eine Story. Es ist ein Angebot: Du kannst dich an mir idealisieren, du kannst dich in mir spiegeln, du kannst dich mir angleichen. Dazu kommen die Plattformtechniken, die wir beschrieben haben: parasoziale Dauerpräsenz, strategische Verletzlichkeit, die Behauptung von Nähe („ich sehe dich“) bei struktureller Asymmetrie. Das Ergebnis ist eine Beziehung, die psychisch „viel“ tut, bevor überhaupt etwas sachlich geklärt ist.
Diese direkte Bedürfnisbedienung ist nicht automatisch Missbrauch. Sie kann sogar kurzfristig entlasten. Das Problem ist ihre Ökonomie: In einem Vertriebsmodell wird Idealisierung nicht nur in Kauf genommen, sondern zu einem Vermögenswert. Idealisierung bindet. Bindung erhöht Retention. Retention erhöht Upsell. Und genau hier ist Kohuts Modell so hilfreich: Er zeigt, dass Idealisierung nicht nur Bewunderung ist, sondern eine Selbstregulationsstrategie. Wer idealisiert, stabilisiert sich. Wenn diese Stabilisierung aber an eine Person und ein Produkt gekoppelt wird, entsteht Abhängigkeit nicht als moralische Schwäche, sondern als strukturelle Folge.
Kernberg ergänzt diese Perspektive um die dunklere Seite: narzisstische Organisationsformen, in denen Idealisation und Entwertung nahe beieinanderliegen und in denen Spaltung („wir gegen die“) als Stabilisierung dient (Kernberg, 1975). Man muss dafür niemanden als „Guru“ beschimpfen. Man kann schlicht feststellen: Wo ein Feld stark über Personenmarken funktioniert, entsteht eine Tendenz zur Charismatisierung. Und Charisma hat eine psychische Logik: Es verspricht Einheit, Klarheit, Erlösung. Es reduziert Ambivalenz. Es entlastet von Entscheidung, weil der Führer entscheidet – oder zumindest so spricht, als wüsste er, was für dich richtig ist.
In dieser Logik wird Kritik zu einer Gefahr, nicht zu einer Information. Denn Kritik bedroht das Idealobjekt. Darum muss Kritik umcodiert werden – genau wie wir es im Immunisierungskapitel gesehen haben: „Hater“, „low vibe“, „nicht coachable“, „du bist nicht bereit“. Kernberg würde sagen: Das System schützt das idealisierte Objekt durch Entwertung der Außenwelt. Die Szene produziert eine psychische Ökonomie, in der sie nicht nur verkauft, sondern sich selbst schützt. Und wer einmal in solchen Dynamiken war, weiß: Der Ausstieg ist nicht nur ökonomisch teuer. Er ist narzisstisch teuer. Er zwingt dazu, sich einzugestehen, dass man idealisiert hat. Und das ist – menschlich – ein schmerzhafter Akt.
Hier schließt sich der Kreis zur High-Ticket-Ökonomie. Festinger hat beschrieben, wie stark Menschen dazu neigen, Entscheidungen nachträglich zu rechtfertigen, um Dissonanz zu vermeiden (Festinger, 1957). Je höher der Preis, desto teurer wird die Einsicht „Das war nichts“. Dissonanz lässt sich leichter reduzieren, indem man die Gruppe stärker idealisiert, den Coach stärker bewundert, die Methode stärker verteidigt, als indem man sich selbst als getäuscht erlebt. Der hohe Preis ist damit nicht nur Preis, er ist Initiation – er macht Kritik psychologisch teuer. Und das ist eine perfekte Komplizenschaft zwischen Psychodynamik und Markt: Narzisstische Stabilisierung wird zur Kundenbindungsstrategie, ohne dass jemand diesen Satz aussprechen muss.
Damit wird Kohut/Kernberg zur Brücke zwischen Individuum und Ökosystem: Nicht nur einzelne Beziehungen sind aufgeladen; das Feld selbst ist ein Arrangement, das Idealisierung begünstigt, Entwertung stabilisiert und Kritik immunisiert. Und genau deshalb ist die Unterscheidung „seriöse Hilfe“ vs. „Therapieschattenmarkt“ so zentral: In seriösen Settings muss Idealisierung überlebt und bearbeitet werden können. Im Schattenmarkt wird sie häufig produziert und monetarisiert.
Laplanche: Das rätselhafte Versprechen und die Magnetik der Buzzwords
Warum sind Buzzwords so magnetisch? Warum wirkt „Alignment“ oft tiefer als es ist? Warum fühlt sich „Transformation“ manchmal wie Wahrheit an, obwohl es kaum Inhalt hat? Diese Fragen wirken auf den ersten Blick sprachkritisch. In Wahrheit sind sie trieb- und beziehungstheoretisch. Denn Worte ziehen nicht nur, weil sie etwas bedeuten. Sie ziehen, weil sie etwas versprechen.
Laplanche liefert dafür eine überraschend elegante Theorie, ohne dass man in Hermetik versinken muss. Seine allgemeine Verführungstheorie betont, dass Menschen von Anfang an Botschaften empfangen, die sie nicht vollständig verstehen: rätselhafte Signifikanten, die Begehren anstacheln und Übersetzungsarbeit erzwingen (Laplanche, 1987). Das Rätselhafte wirkt nicht, weil es klar ist, sondern weil es mehr verspricht als es sagt. „Du bist für Größeres bestimmt“ ist genau so ein Satz. Er ist nicht falsifizierbar, er ist nicht konkret – und genau deshalb trifft er. Er lässt Platz für Projektion. Er lädt das Subjekt ein, seine Hoffnung in den Satz zu legen.
In einem seriösen therapeutischen Prozess würde man genau hier ansetzen: Was heißt „Größeres“? Wer spricht da in dir? Wem willst du gefallen? Was wäre die Gefahr, wenn du „klein“ bleibst? Welche Kränkung wird abgewehrt? Welche Sehnsucht wird verhandelt? Der Therapieschattenmarkt stellt solche Fragen selten, weil Fragen die Aura schwächen. Stattdessen bleibt die Botschaft rätselhaft – und das Rätsel wird zum Motor. Du willst verstehen, du willst dazugehören, du willst das Geheimnis entschlüsseln. Und das nächste Programm verspricht, es zu entschlüsseln. Laplanches Theorie erklärt damit eine zentrale Markttechnik: Das Versprechen wird nicht eingelöst, es wird prolongiert. Es hält das Begehren in Bewegung.
Das ist auch die psychoanalytische Erklärung dafür, warum „pseudo-profound language“ so wirksam sein kann, ohne dass man die Konsumenten verächtlich machen müsste. Pennycook und Kolleg:innen zeigen, dass pseudo-profunde Aussagen durchaus als profund erlebt werden können; Profundität ist hier nicht ein objektives Merkmal der Aussage, sondern ein Erleben, das mit kognitiven Stilen und Kontexten zusammenhängt (Pennycook et al., 2015). Der Punkt ist nicht, dass Menschen dumm sind. Der Punkt ist, dass Profundität als Gefühl eine psychische Realität ist. Und der Markt nutzt diese Realität.
Laplanche hilft, diesen Mechanismus zu erden: Nicht Wahrheit zieht, sondern das Versprechen einer Wahrheit. Nicht Erkenntnis, sondern Verheißung. Und Verheißung ist eine Form von Verführung, die nicht zwingend lügt, aber oft die Arbeit am Konflikt ersetzt. Wo Verheißung regiert, wird Unverfügbarkeit nicht ausgehalten, sondern umgangen. Wo Verheißung verkauft wird, wird Ambivalenz zur Störung. Und wo Ambivalenz zur Störung wird, ist die wichtigste psychische Fähigkeit gefährdet, die eine seriöse Hilfe stärkt: die Fähigkeit, nicht sofort zu glauben, sondern zu denken.
So wird der Jargon – „Alignment“, „Transformation“, „Frequenz“, „Potenzial“ – zu einem ökonomischen Apparat: Er hält Begehren in Gang, ohne es aufzuklären; er produziert das Gefühl, dass etwas sehr Tiefes passiert, ohne dass etwas Konkretes benannt werden muss; er ermöglicht, dass der Klient im System bleibt, weil das Rätsel noch nicht gelöst ist. In einer psychoanalytischen Perspektive ist das keine Nebensache. Es ist der Ort, an dem Verführung und Markt zusammenfallen: Die Sprache wird zum Träger einer Wahrheit, die nie ganz kommt – und gerade deshalb immer wieder gekauft werden kann.
Lacan: Herrendiskurs, „Subjekt-supposé-savoir“ und der kapitalistische Kurzschluss
Wenn man die Szene noch schärfer lesen will, ist Lacan hilfreich – nicht als akademischer Schmuck, sondern als Strukturmodell. Denn Lacan hat Diskurse nicht als „Meinungen“ verstanden, sondern als Formen sozialer Bindung: Wer spricht? Von welchem Platz? Was wird im anderen produziert? Welche Art von Wahrheit wird organisiert – und welche Art von Subjekt entsteht dabei? (Lacan, 2007). Das ist für unseren Kontext deshalb so passend, weil Coaching-Calls, Funnels und Community-Formate weniger durch Inhalte wirken als durch Positionen: Wer darf definieren, was „los“ ist? Wer darf sagen, was „der nächste Schritt“ ist? Wer hat das Recht, Zweifel als Defekt zu benennen?
In vielen Coaching-Calls, jedenfalls in jenen, die in ihrer Struktur von Abschlusslogik dominiert sind, findet man eine Konstellation, die dem Herrendiskurs nahekommt. Der Coach spricht aus der Position des Wissens: Er benennt dein „Problem“, er benennt die „Lösung“, er benennt sogar deine Einwände als Symptom. Der Klient wird nicht zum Subjekt seines Sprechens, sondern zum Objekt einer Diagnose, die zugleich Verkauf ist. Das muss nicht laut passieren. Es genügt, dass jede Reaktion des Klienten in eine bereits vorbereitete Deutungsbahn eingespeist wird: Zögerst du, bist du „im Muster“. Fragst du nach Bedenkzeit, bist du „im Widerstand“. Fragst du nach Preis und Leistung, hast du ein „Selbstwertthema“. Ein Schema wie dieses ist nicht nur rhetorisch, sondern diskursiv: Es produziert ein Subjekt, das sich nicht mehr über Gründe und Realität orientiert, sondern über die Anerkennung durch den Anderen – und die Anerkennung ist an Kauf gekoppelt.
Lacan nennt die Figur, die diese Dynamik im analytischen Setting trägt, das Subjekt-supposé-savoir: das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird (Lacan, 1978). Der Analytiker wird – ob er will oder nicht – als wissend imaginiert; die Übertragung organisiert sich um diese Unterstellung. Die analytische Technik besteht gerade darin, diese Unterstellung nicht auszubeuten, sondern sie so zu behandeln, dass das Wissen an den Ort zurückkehrt, an den es gehört: in das Sprechen des Analysanden. Nicht im Sinne von „alles ist schon da“, sondern im Sinne einer Verschiebung: Der Analysand soll nicht Objekt eines Wissens werden, sondern Subjekt seiner eigenen Bedeutungsproduktion. Darum ist der Analytiker in der psychoanalytischen Ethik nicht derjenige, der „die Wahrheit“ liefert, sondern derjenige, der eine Form hält, in der Wahrheit sich als Prozess ereignen kann.
Genau hier liegt der fundamentale Unterschied zwischen Analyse und Therapieschattenmarkt. Nicht „Methode“ steht gegen „Methode“, sondern Diskurs steht gegen Diskurs. Im Herrendiskurs wird das Subjekt geführt, indem es einem Signifikanten unterstellt wird: „Commitment“, „Alignment“, „Mindset“, „Trauma“ – das sind moderne S1-Wörter, die eine Ordnung erzeugen, ohne dass sie erklärt werden müssen. Und wenn die Ordnung einmal steht, wird jedes Gegenargument zum Beweis ihrer Richtigkeit. Der Coach sagt nicht: „Ich habe eine Hypothese.“ Er sagt: „So ist es.“ Die Deutung wird nicht prüfbar gemacht, sondern performativ gesetzt. Das ist die diskursive Form dessen, was wir zuvor als Umcodierung von Bedenkzeit in Defekt beschrieben haben.
In der coachingbezogenen Lacan-Literatur wird genau dieser Punkt mit bemerkenswerter Klarheit herausgearbeitet: Arnaud beschreibt Executive Coaching als Feld, in dem der Coach leicht den Platz des Wissenden besetzt und damit unbewusst Herrschaftsstrukturen reproduzieren kann – gerade dann, wenn Coaching als „Problemlösung“ und „Optimierung“ verstanden wird (Arnaud, 2003). Vanheule und Arnaud entwickeln diese Perspektive weiter und zeigen, wie symbolische Übertragung im Coaching auftreten kann und warum ein reflektierter Umgang damit zentral ist: Wer die symbolische Dimension nicht versteht, rutscht in Kurzschlüsse – der Coach wird zum „Wissenden“, der Klient zum Objekt, das sich anpassen soll (Vanheule & Arnaud, 2016). Man muss diese Texte nicht als Autoritätsbeweis benutzen; man kann sie als Bestätigung einer Struktur lesen, die sich aus unserer bisherigen Analyse ohnehin ergibt: In einem Setting, das konvertieren soll, wird Nichtwissen zur Schwäche, Wissen zur Pose, Zweifel zur Störung.
Die psychoanalytische Situation versucht – idealtypisch – das Gegenteil. Sie arbeitet nicht mit dem Nichtwissen des Analytikers, weil er tatsächlich nichts wüsste, sondern weil er sein Wissen nicht als Herrschaft einsetzen soll. Das ist die unverkaufbare Tugend der Analyse: Sie erlaubt sich, nicht sofort zu schließen. Sie erlaubt Ambivalenz als Realität und nicht als Fehler. Sie erlaubt, dass die Wahrheit nicht im Abschluss liegt, sondern in der Arbeit, die Zeit braucht. In dieser Perspektive wird verständlich, warum der Therapieschattenmarkt so häufig anti-analytisch wirkt, selbst wenn er „tiefe“ Begriffe benutzt: Er kann die Zeit nicht ertragen, die Ambivalenz braucht. Er muss entscheiden. Und Entscheidung wird dort, wo sie nicht aus Gründen entsteht, schnell zur Unterwerfung unter die Stimme des Anderen.
Hier kommt Lacans Begriff des kapitalistischen Diskurses als Hintergrundfolie ins Spiel – weniger als Zitat, mehr als Diagnose einer Zeitform. In der Lacan-Rezeption wird der kapitalistische Diskurs oft als eine Logik beschrieben, die den Mangel nicht symbolisiert, sondern umgehen will: eine Maschine, die verspricht, dass es für jedes Begehren ein Objekt gibt, das den Mangel stillt, und dass man durch den richtigen Konsum die Grenze überholen kann (Vanheule, 2016). Der Therapieschattenmarkt ist eine fast exemplarische Ausprägung dieser Logik. Er verkauft Abkürzungen am Realitätsprinzip vorbei. Er verspricht, dass Entwicklung nicht Zeit braucht, sondern das richtige Programm. Nicht Durcharbeiten, sondern Toolset. Nicht Konflikt, sondern „Alignment“. Nicht Trauer, sondern „Reframing“. Das ist die kapitalistische Fantasie in psychologischer Sprache: Mangel wird nicht ausgehalten, er wird „gefixed“.
Dass diese Logik kulturell so anschlussfähig ist, liegt nicht an schlechten Menschen. Es liegt an einer Zeit, in der Mangel unerträglich geworden ist: Mangel an Zeit, an Sicherheit, an Zugehörigkeit, an Resonanz. Wenn Menschen in einer solchen Zeit nach Hilfe suchen, suchen sie nicht nur Veränderung, sie suchen Entlastung. Der Markt bietet eine Antwort: Mangel wird nicht bearbeitet, Mangel wird ersetzt. Die Psychoanalyse sagt dagegen: Mangel ist strukturell. Er ist Teil des Menschseins. Man kann ihn symbolisieren, man kann ihn in Sprache bringen, man kann ihn in Beziehung halten – aber man kann ihn nicht abschaffen, ohne dass etwas anderes kaputtgeht. Genau diese Zumutung macht Analyse unverkaufbar – und genau diese Unverkaufbarkeit macht sie heute so notwendig.
Man sieht das im Kleinen: Der Coach-Call, der „abschließt“, ist oft eine Szene, in der Mangel als Defekt moralisiert wird. „Du zögerst“ – also fehlt dir Mut. „Du fragst nach Zeit“ – also fehlt dir Commitment. „Du fragst nach Geld“ – also fehlt dir Selbstwert. Der Mangel wird nicht anerkannt als reale Begrenzung, sondern gedeutet als inneres Versagen. Lacan würde sagen: Das Subjekt wird nicht in seinem Begehren ernst genommen, sondern im Namen eines Signifikanten zur Leistung gezwungen. Der Herrendiskurs ist dabei nicht mehr der alte Patriarch, sondern die freundliche Stimme des „Empowerments“. Die Struktur bleibt: Es spricht einer, der weiß, und der andere soll liefern.
Die Pointe ist deshalb nicht „Lacan erklärt alles“, sondern: Lacan gibt uns eine Sprache, um zu sehen, dass hier nicht primär Inhalte kämpfen, sondern Positionen. Der Therapieschattenmarkt ist erfolgreich, weil er dem Subjekt eine Position anbietet, die es entlastet: die Position desjenigen, der sich endlich führen lässt, endlich nicht mehr zweifelt, endlich „ja“ sagt. Das ist psychisch verführerisch. Es ist auch gefährlich, weil es die Urteilskraft als Störung behandelt. Analyse besteht darauf, dass Urteilskraft Teil der Heilung ist – und nicht ihr Gegner.
Kritische Theorie als Rahmen: Warum diese Psychodynamik heute nicht zufällig ist
Bis hierhin haben wir die Szene von innen her betrachtet: die intime Mechanik von Übertragung, die schnellen Deutungen, die Ökonomie der Nähe, das Ausweichen vor Ambivalenz. Man könnte daraus den beruhigenden Schluss ziehen, es handle sich im Kern um ein psychologisches Missverständnisfeld: ein paar Anbieter, die ihre Grenzen nicht kennen, ein paar Klient:innen, die sich in der Not an die falsche Adresse wenden, ein Markt, der eben „wie Märkte“ ist. Das Problem an dieser Beruhigung ist, dass sie zu gut passt. Sie liefert eine Erklärung, die das Phänomen klein macht – und gerade dadurch den Blick dafür verliert, warum es so verlässlich wiederkehrt, warum es so anschlussfähig ist und warum es sich so oft nicht wie Verkauf anfühlt, sondern wie Schicksal. Kritische Theorie setzt an einer anderen Stelle an. Sie fragt nicht zuerst, welche Person „gute“ oder „schlechte“ Absichten hat, sondern welche kulturellen Bedingungen es plausibel machen, dass Hilfe heute im Modus eines Angebots erscheint – und dass dieses Angebot zugleich eine Moral, eine Sprache und eine Subjektform mitliefert. Der Therapieschattenmarkt ist dann kein Sonderfall, sondern eine symptomatische Verdichtung: eine Form, in der eine Gesellschaft die Zumutung ihrer eigenen Lebensverhältnisse in private Arbeit übersetzt. Nicht als heimlicher Plan, sondern als kulturelle Gewohnheit. Das Leiden wird nicht geleugnet, es wird umgedeutet: vom Ausdruck von Bedingungen zum Beweis persönlicher Defizite. Und genau das ist die Stelle, an der die psychodynamische Ebene in die gesellschaftliche kippt.
Am deutlichsten erkennt man diese Kippstelle an der Sprache – nicht, weil Sprache hier nur „Kommunikation“ wäre, sondern weil sie ein Instrument der Organisation ist. In vielen Coaching-Texten und -Calls wird Tiefe nicht hergestellt, sondern signalisiert. Das Signal reicht oft, um Wirkung zu entfalten: Man fühlt sich „gemeint“, „gesehen“, „erkannt“, bevor überhaupt klar ist, was eigentlich erkannt wurde. Diese Form von Sprache – die Aura erzeugt, ohne den Begriff zu klären – hat Adorno mit großer Schärfe beschrieben, als er vom „Jargon der Eigentlichkeit“ sprach (Adorno, 1973). Gemeint ist nicht ein falsches Vokabular, das man einfach durch ein richtiges ersetzen könnte. Gemeint ist eine Sprachform, die Erkenntnis durch Stimmung ersetzt: Sie klingt nach Wahrheit, ohne sich der Zumutung auszusetzen, Wahrheit begrifflich auszuarbeiten. In der Coaching-Sphäre ist diese Sprachform besonders wirksam, weil sie Elastizität mit Intimität verbindet. Begriffe wie „Authentizität“, „Potenzial“, „Transformation“, „Alignment“ sind nicht notwendig leer; aber sie sind oft so dehnbar, dass sie fast jede Lebenslage in sich aufnehmen können. Gerade dadurch eignen sie sich als Verkaufssemantik. Sie begrenzen nicht, sie öffnen. Sie stellen nicht fest, sie versprechen. Und jedes Versprechen, das semantisch offen bleibt, lässt sich in Etappen monetarisieren: Man ist immer noch nicht ganz „aligned“, immer noch nicht ganz „in der Fülle“, immer noch nicht ganz „bei sich“. Das ist die sanfte Grausamkeit der elastischen Tiefe: Sie produziert Bewegung, aber sie schließt nie ab. Adorno hätte gesagt: Der Jargon gibt nicht Klarheit, er gibt eine bestimmte Art von Ergriffenheit – und diese Ergriffenheit ersetzt das Urteil (Adorno, 1973). Genau das ist für den Therapieschattenmarkt zentral: Wer sich schon in Bedeutung geborgen fühlt, fragt weniger nach Verantwortung. Diese Sprachform gehört nicht nur zu einzelnen Anbietern; sie ist kulturindustriell verfügbar. Man kann sie kopieren, skalieren, in Templates pressen, in Reels schneiden, in Landingpages verteilen. Und damit sind wir bei der zweiten kritischen Linie: der Kulturindustrie. Horkheimer und Adorno beschrieben, dass Kulturindustrie nicht primär „Unterhaltung“ ist, sondern eine Produktionsweise von Sinn, die Vielfalt simuliert und Standardisierung reproduziert (Horkheimer & Adorno, 2002). Es gibt tausend Gesichter, aber die Versprechen ähneln sich. Es gibt tausend Stories, aber die Dramaturgie bleibt erstaunlich konstant: Erst die Krise, dann die Erkenntnis, dann die Methode, dann der Aufstieg – und am Ende die Einladung, denselben Weg zu kaufen. Es wirkt wie Individualität, ist aber oft die industrialisierte Form von Individualitätssehnsucht. Der entscheidende Punkt dabei ist: Standardisierung tritt nicht als Norm auf, sondern als Intimität. Der Satz „Du wirst du selbst“ klingt, als wäre er ein Gegenentwurf zur Anpassung. Tatsächlich trägt er häufig ein Ideal in sich, das gesellschaftlich hoch kompatibel ist: autonom, leistungsfähig, sichtbar, emotional kompetent, ständig in Entwicklung. Das Normative versteckt sich im Persönlichen. Der Markt verkauft das Ideal nicht als Pflicht, sondern als Befreiung. Genau darin liegt die Pseudo-Individualisierung: Man fühlt sich einzigartig, während man sich in ein Muster einschreibt, das auf breiter Front produziert wird.
Aber warum ist dieses Ideal so plausibel? Warum klingt es nicht wie Zumutung, sondern wie Hoffnung? Hier wird die Gouvernementalitätslinie wichtig. Nikolas Rose hat gezeigt, wie psychologische Sprache und psychologische Praktiken in modernen Gesellschaften zu Technologien der Selbstführung werden: Das Subjekt soll sich selbst beobachten, sich selbst regulieren, sich selbst optimieren – und es erlebt diese Selbstführung als Ausdruck von Freiheit (Rose, 1999). Wer sich „entwickelt“, erscheint nicht als Gehorsamer, sondern als Souverän. Die Forderung kommt nicht mehr von außen, sondern klingt wie die eigene Stimme. Das ist die moderne Eleganz der Macht: Sie muss nicht befehlen, wenn sie Ziele liefern kann, die man als eigene Ziele erlebt. In diesem Rahmen wird Coaching – gerade in seiner entgrenzten, therapienahen Form – zur Dienstleistung einer Subjektform. Es bietet nicht nur Hilfe, sondern eine Grammatik: So soll man sich zu sich selbst verhalten. Das Selbst ist ein Projekt, Probleme sind Bugs, Lösungen sind Protokolle. Der Mensch wird zu einer Art Start-up seiner selbst, ständig in Iteration, ständig in Launch, ständig in Performance. Bröckling hat diese Subjektform mit dem Begriff des „unternehmerischen Selbst“ beschrieben – nicht als Charaktermerkmal, sondern als Anforderung: Man soll nicht einfach leben; man soll sich als Projekt führen (Bröckling, 2007). Und das Entscheidende an dieser Anforderung ist ihre Unendlichkeit. Es gibt keinen Punkt, an dem man „fertig“ ist. Man kann immer noch effizienter, sichtbarer, resilienter, „authentischer“ sein. Der Therapieschattenmarkt ist ökonomisch deshalb so erfolgreich, weil er diese Unendlichkeit in Stufen verkauft. Programme sind die Produktform einer Existenz, die keinen Endpunkt mehr kennt.
Hier wird verständlich, warum in dieser Szene so häufig eine moralische Härte unter freundlichem Ton liegt. Denn wenn Selbstführung Pflicht ist, wird Scheitern nicht als Grenze gelesen, sondern als Schuld. Wer müde ist, hat nicht Pech – er hat „nicht richtig reguliert“. Wer zweifelt, hat nicht Gründe – er hat „ein Muster“. Wer nicht kauft, hat nicht abgewogen – er hat „Angst vor Größe“. Das ist die Psychomoral einer Kultur, die Autonomie zur Pflicht gemacht hat. Alain Ehrenberg hat Depression als Signatur dieser Pflichtkultur beschrieben: Wenn Autonomie nicht mehr Möglichkeit, sondern Erwartung ist, wird das Subjekt erschöpft von der Aufgabe, ständig Ursprung seiner Handlungen sein zu müssen (Ehrenberg, 2010). Der Therapieschattenmarkt verspricht, diese Erschöpfung zu beheben – aber er tut es oft, indem er die Pflicht verstärkt: Du musst committen, du musst investieren, du musst umsetzen. Selbst die Hilfe wird zur Leistung. Mark Fisher hat diese Bewegung in eine Formulierung gebracht, die für den Essay fast zu passend ist: Leid wird privatisiert (Fisher, 2009). Nicht im Sinne, dass es „eingebildet“ wäre, sondern im Sinne seiner Deutung: Stress, Überforderung, depressive Zustände erscheinen als persönliches Managementproblem, nicht als Ausdruck sozialer und ökonomischer Bedingungen. Der Therapieschattenmarkt ist eine Maschine dieser Privatisierung. Er nimmt die Spannung zwischen Subjekt und Welt und verschiebt sie ins Innere: Mindset, Blockaden, Frequenz, Selbstwert. Das System muss nicht erwähnt werden, damit es entlastet wird. Die Härte der Verhältnisse bleibt unsichtbar, weil sie psychologisch umgeschrieben wird. Und damit wird Hilfe unmerklich zur Stabilisierung: Wer an sich arbeitet, fragt weniger nach Bedingungen. Er arbeitet ja bereits – und die Arbeit an sich selbst gilt als moralisches Gut.
Diese Privatisierung wirkt nicht nur kognitiv, sondern affektiv. Sie produziert Scham. Denn wenn das Problem „in dir“ liegt, wird jeder Misserfolg zu einem Urteil über deine Person. Scham ist dabei kein Nebeneffekt; sie ist ein Motor. Sie bindet Menschen an Systeme, weil sie beweisen wollen, dass sie „es wert“ sind. Der Markt muss nicht offen drohen. Er muss nur die Idee etablieren, dass Zweifel und Scheitern Zeichen mangelnder innerer Qualität sind. Dann arbeitet die Kontrolle von innen. Byung-Chul Han hat die Form dieses inneren Drucks als Charakteristik der Gegenwart beschrieben: Nicht mehr das äußere Verbot dominiert, sondern die innere Aufforderung, alles zu können – und gerade dadurch entsteht ein Zwang, der keine Pause kennt (Han, 2015). In der Coaching-Sphäre sieht man diese Dynamik fast in Reinform: Positivität wird nicht als Hoffnung, sondern als Pflicht. Negativität wird nicht gehalten, sondern umcodiert. Trauer wird „low vibe“, Wut wird „toxisch“, Zweifel wird „Widerstand“. Das ist keine bloße Stimmungskultur. Es ist ein Affektregime, das Denken unter Bedingungen setzt: Denken darf nur stattfinden, solange es zu Handlung führt; Ambivalenz wird toleriert, solange sie schnell in Commitment umschlägt. Der Therapieschattenmarkt ist hier die Liturgie der Selbstausbeutung: tägliche Rituale, Mantras, Ziele, Accountability. Nicht mehr „du sollst nicht“, sondern „du kannst“ – und das „kannst“ wird zur moralischen Waffe.
Damit schließt sich die Brücke zur psychoanalytischen Kritik. Denn was in der Analyse als Material gilt – Zweifel, Ambivalenz, Widerstand, negative Affekte – wird im Schattenmarkt oft als Defekt behandelt, weil es die Maschine stört: Es verlangsamt, es relativiert, es macht unentschieden. Die kritische Theorie erklärt, warum genau diese Defektlogik so plausibel wirkt: weil sie zur Subjektform passt, die unsere Zeit bevorzugt. Sie erklärt auch, warum die Szene nicht nur „falsch“ ist, sondern attraktiv: Sie verspricht Entlastung von Unverfügbarkeit. Sie verspricht, dass das, was sich nicht herstellen lässt – Sinn, Resonanz, Zugehörigkeit, Selbstvertrauen – doch herstellbar sei, wenn man nur die richtige Methode kauft. Hier ist Hartmut Rosa ein wichtiger Gegenakzent. Er hat mit dem Begriff der Resonanz und der Unverfügbarkeit beschrieben, dass gelingende Weltbeziehungen sich nicht vollständig in Technik übersetzen lassen (Rosa, 2019). Man kann Bedingungen begünstigen, aber man kann Resonanz nicht erzwingen. Der Therapieschattenmarkt lebt jedoch davon, Unverfügbarkeit zu verkaufen, als wäre sie verfügbar: Resonanz als Produkt, Sinn als Toolset, Beziehung als Methode. Gerade weil die Welt für viele Menschen beschleunigt, hart und unzuverlässig geworden ist, ist das Versprechen der Verfügbarkeit so verführerisch. Und gerade weil es verführerisch ist, muss man es kritisieren – nicht als „naiv“, sondern als kulturelle Kompensation, die psychisch teuer werden kann. Reckwitz liefert dafür die Bühne, auf der dieses Versprechen glänzt. In einer Singularitätskultur wird Einzigartigkeit zur Norm: Man soll besonders sein, authentisch, unverwechselbar – und gerät dadurch in dauernden Vergleich und Selbstdarstellungsdruck (Reckwitz, 2020). Coaching wird in dieser Kultur nicht nur Hilfe, sondern Produktionsmittel der eigenen Singularität: Man wird nicht nur stabiler, man wird sichtbarer; nicht nur ruhiger, sondern marktfähiger. Die innere Arbeit bekommt eine äußere Prämie: Publikum. Und Publikum ist eine mächtige Droge. Es verstärkt die Tendenz, Entwicklung performativ zu organisieren: Man zeigt, dass man wächst. Man beweist, dass man „es verstanden“ hat. Das ist nicht nur Eitelkeit, sondern die logische Anpassung an eine Kultur, in der Sichtbarkeit zum Status geworden ist.
Wenn man diese Linien zusammennimmt, wird klar, warum die Psychodynamik des Therapieschattenmarkts nicht zufällig ist. Er ist das intime Gesicht einer Gegenwart, die Selbstführung zur Pflicht macht, Leid privatisiert, Positivität moralisiert und Unverfügbarkeit als Makel behandelt. Übertragung wird verwertbar, weil Subjekte nach Führung hungern. Ambivalenz wird zum Feind, weil Ambivalenz unproduktiv ist. Zweifel wird pathologisiert, weil Zweifel den Abschluss stört – und weil die Zeit Zweifel ohnehin als Schwäche liest. Scheitern wird zur Schuld, weil eine Kultur, die Autonomie zur Pflicht macht, Grenzen schwer erträgt.
Das bedeutet nicht, dass „alles das System“ ist und niemand Verantwortung trägt. Es bedeutet nur: Wer dieses Feld kritisiert, sollte nicht so tun, als läge die Ursache allein in einzelnen Biografien oder einzelnen Verkaufspraktiken. Die Ursache liegt auch in einer kulturellen Grammatik, die das Subjekt zur Firma macht und die Firma dann in einem warmen Ton anspricht. Genau hier wird psychoanalytische Kritik zu mehr als Berufsethik: Sie wird zur Gegenkultur im strengen Sinn. Sie besteht darauf, dass nicht alles machbar ist, dass nicht alles sofort verfügbar ist, dass nicht alles durch Programme ersetzt werden kann. Sie besteht darauf, dass Ambivalenz nicht „Unalignment“ ist, sondern Wirklichkeit. Und sie besteht darauf, dass Hilfe nicht nur ein Gefühl ist, sondern eine Struktur, die Verantwortung trägt – gerade dort, wo sie Nähe produziert.
Psychoanalytische Schluss-Pointe dieses Teils: Abkürzungen am Realitätsprinzip vorbei
Man kann die Szene des Calls noch einmal betrachten, jetzt mit all diesen Linsen. „Wenn du zögerst, ist das dein Muster“ ist dann nicht nur ein Satz. Es ist ein Mikromodell des Therapieschattenmarkts.
Freud würde darin Deutung ohne Rahmen erkennen und eine Verwechslung von Durcharbeiten mit Suggestion (Freud, 1910/1955; Freud, 1914/1958). Ferenczi würde die Zärtlichkeit als Anker sehen und den Imperativ als Haken – eine Zungenverwirrung, in der Nähe in Macht kippt (Ferenczi, 1932/1949). Winnicott würde die Holding-Ästhetik sehen, die Compliance produziert, und das False Self, das Fortschritt performt, um Beziehung zu sichern (Winnicott, 1965/1960). Bion würde erkennen, dass Affekte nicht verdaut, sondern als Schuld zurückgegeben werden: „dein Mindset“, „dein Widerstand“ (Bion, 1962). Kohut und Kernberg würden die Selbstobjekt- und Idealisierungsdynamik sehen, die Kritik nicht aushält und deshalb immunisiert, das „wir gegen die“, das Entwertungssystem (Kohut, 1971; Kernberg, 1975). Laplanche würde die rätselhafte Verheißung hören, die Begehren anzündet, ohne es zu klären, und die Buzzword-Magnetik, die mehr verspricht als sie sagt (Laplanche, 1987). Lacan würde den Herrendiskurs erkennen, der das Subjekt nicht sprechen lässt, und den kapitalistischen Kurzschluss, der Mangel überspringen will (Lacan, 2007; Vanheule, 2016). Adorno, Rose, Fisher und Han würden den Jargon, die Selbstregierung, die Privatisierung des Leids und die Selbstausbeutung als Kulturform benennen (Adorno, 1973; Rose, 1999; Fisher, 2009; Han, 2015).
Und damit schließt sich der Kern deiner Fundamentalkritik psychoanalytisch: Der Therapieschattenmarkt verkauft nicht einfach „Hilfe“. Er verkauft eine Abkürzung an der Zumutung vorbei, dass Leben ambivalent, kontingent, begrenzt ist. Er verkauft die Tilgung von Ambivalenz als Produkt. Er verkauft die Illusion, dass Konflikt durch Commitment ersetzbar sei. Und er verkauft diese Illusion in einer Beziehung, die Wärme erzeugt, ohne die Pflicht, diese Wärme zu halten, wenn sie in Regression umschlägt.
Psychoanalyse ist hier nicht das bessere Marketing. Sie ist die Gegenbewegung. Sie besteht darauf, dass Zweifel nicht Defekt ist, sondern Material. Dass Widerstand nicht „Blockade“ ist, sondern Schutz. Dass Ambivalenz nicht „Unalignment“ ist, sondern die Form, in der ein Subjekt ernst nimmt, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Und dass Verantwortung nicht nur ein Wort ist, sondern eine Struktur.
Vielleicht liegt darin die unerquicklichste, aber befreiendste Pointe: Ein Leben wird nicht dadurch besser, dass es perfekt wird, sondern dadurch, dass man die Unverfügbarkeit aushält, ohne sich von ihr verkaufen zu lassen.
Ich schreibe Kapitel 9 neu – mit der bewährten Struktur (9.1–9.6), sprachlich dicht, längere zusammenhängende Absätze, und so, dass es sich organisch aus dem psychoanalytischen Kapitel 8 entwickelt und nicht die Inhalte von Kapitel 6 und 7 wiederholt.
Wie Kritik ausgeschaltet wird – das Immunisierungs-System
Es gibt einen Moment, an dem sich entscheidet, ob ein Feld sich professionalisiert – oder ob es in Richtung Ideologie driftet. Dieser Moment ist nicht der Pitch, nicht die Preisliste, nicht einmal das Versprechen der „Transformation“. Es ist der Moment, in dem ein Mensch sagt: Das hat mir nicht geholfen. Oder: Das war zu viel. Oder: Ich fühle mich schlechter. Oder schlicht: Ich will raus.
In einem professionellen Hilfeverhältnis ist genau dieser Moment, idealtypisch, ein Arbeitsmoment. Er kann unangenehm sein, er kann narzisstisch kränken, er kann auch schlicht verwirren – aber er ist Teil der Sache. Therapie, in ihrer besseren Version, ist ein Setting, das negatives Feedback nicht als Störung, sondern als Material versteht: als Information über Passung, Technik, Beziehung, Tempo. Das gilt nicht nur für Psychotherapie, es gilt für jede ernstzunehmende Profession im Bereich von Vertrauensgütern – also dort, wo Laien die Qualität einer Leistung vorab kaum beurteilen können und wo sich Erfolg nicht wie ein kaputtes Ersatzteil prüfen lässt (Darby & Karni, 1973). Professionalisierung bedeutet in solchen Märkten: Kritik wird nicht einfach „ausgehalten“, sie wird institutionalisiert. Es gibt Standards, Supervision, Beschwerdewege, Rechenschaft. Im psychoanalytischen Setting, das wir im vorigen Kapitel beschrieben haben, ist die Fähigkeit, Kritik als Übertragungsmaterial zu lesen – statt als Angriff auf das eigene Selbstbild –, keine Nebensache, sondern Kernkompetenz. Sie setzt voraus, dass der Analytiker seine eigene Gegenübertragung kennt, dass er bereit ist, sich zu irren, und dass der Rahmen stabil genug ist, um auch das Unangenehme zu halten.
Im Therapieschattenmarkt ist dieser Moment gefährlich. Nicht weil jeder Coach zynisch wäre, sondern weil das System, in dem er arbeitet, Kritik ökonomisch und symbolisch als Risiko codiert: Refunds, Rücklastschriften, schlechte Reviews, öffentliche Threads, sinkende Conversion-Raten, ausbleibende Anschlusskäufe, ein Riss im Markenmythos. Wo Hilfe als Ware verkauft wird und Zugehörigkeit Teil des Produkts ist, wird Kritik nicht nur zu einer Meinung, sondern zu einer Ansteckungsgefahr – sie kann andere „entzaubern“. Und genau deshalb entwickelt der Therapieschattenmarkt, neben Bühne und Funnel, häufig etwas Drittes: ein Immunsystem. Ich nenne es „Immunisierung“, weil die Logik erstaunlich ähnlich ist: Kritik soll gar nicht erst als Kritik zirkulieren können. Sie wird umdefiniert, entwertet, in Scham verwandelt, moralisch gebrandmarkt, als Symptom etikettiert oder in eine Erzählung übersetzt, in der sie den Kritisierten am Ende bestätigt. Der elegante Zug dieser Verfahren ist, dass sie selten wie Zensur aussehen. Sie sehen aus wie Psychologie, wie Spiritualität, wie „Boundaries“, wie Empowerment. Und gerade deshalb wirken sie: nicht gegen das Subjekt, sondern durch das Subjekt.
Die Beobachtungen dieses Kapitels stützen sich auf eine systematische Korpusanalyse öffentlich zugänglicher Materialien aus Coaching-Ökosystemen – Posts, Reels, Lives, Podcastsegmente, Kommentarstränge, Community-Regeln, Antwortformate – mit deutlich über 250 Einheiten, in denen Coaches auf Kritik reagieren oder Community-Bindung und Loyalität explizit thematisieren (DeepResearches, siehe Anhang). Wo ich typisierte Formulierungen aus diesem Korpus verwende, sind sie als aggregierte Muster markiert; sie stehen nicht für „den einen Coach“, sondern für wiederkehrende Deutungs- und Sprachmuster. Der Befund lässt sich in einem Satz zuspitzen: Kritik wird selten widerlegt, sondern fast immer umdefiniert. Diese Umdefinition ist das, was ich hier „Immunisierung“ nenne.
Die Grundbewegung: Von der Sachebene in die Innerlichkeit
Die Grundbewegung der Immunisierung ist erstaunlich konstant: Kritik wird von der Sachebene in die Innerlichkeit verschoben. Das Feld antwortet nicht: „Lass uns prüfen, ob das Angebot unklar war, ob der Preis unverhältnismäßig ist, ob das Setting übergriffig wurde.“ Es antwortet: „Das ist dein Thema.“ Der Einwand wird nicht beantwortet, er wird diagnostiziert. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie die Guru-Übertragung funktioniert: Der Coach wird zur idealisierten Instanz, die nicht versagen kann, weil ihr Versagen das gesamte Selbstwertgerüst des Klienten bedrohen würde. Die Immunisierung ist die rhetorische Entsprechung dieser psychischen Dynamik – sie schützt das idealisierte Objekt, indem sie den Zweifel dem Zweifler zuschreibt.
Der Mechanismus wirkt banal, aber er ist strukturell mächtig. Denn wer diagnostiziert, besetzt einen höheren Platz im Verhältnis. Der Kritiker wird nicht mehr als jemand behandelt, der Gründe hat, sondern als jemand, der Symptome zeigt. Und Symptome sind, in der Logik des Systems, nicht zu diskutieren, sondern zu „durchbrechen“. Man kann das in seiner weichsten Form beobachten: das freundliche Lächeln, das schon urteilt. „Ich wünsche dir wirklich das Beste – aber du bist noch nicht ready.“ Ein Satz wie eine Umarmung mit eingebautem Abstand, der dem Kritiker die epistemische Würde entzieht, ohne offen aggressiv zu sein. Er hat die Eleganz einer Tür, die sich schließt, während sie noch „Herzlich willkommen“ sagt (DeepResearches, siehe Anhang).
Im Korpus taucht dieses Verschieben in vielen Varianten auf, die sich wie eine kleine Grammatik lesen lassen: Aus „zu teuer“ wird „Selbstwertthema“; aus „ich brauche Zeit“ wird „Overthinking“; aus „ich fühle mich unter Druck gesetzt“ wird „Wachstumsangst“; aus „ich bin überfordert“ wird „dein Nervensystem“; aus „ich will das nicht“ wird „Widerstand“. Der gemeinsame Nenner ist nicht der einzelne Begriff, es ist die Operation: Kritik wird so umcodiert, dass sie nicht mehr als Information über das Angebot erscheint, sondern als Information über die Person. Sozialpsychologisch lässt sich das als Mischung aus normativem Einfluss („dazugehören“) und informativem Einfluss („richtig liegen“) beschreiben: Menschen passen sich an, um sozial akzeptiert zu bleiben und um sich in unsicheren Situationen an vermeintlich kompetente Quellen zu orientieren (Cialdini & Goldstein, 2004). Wenn Kritik moralisch oder psychologisch abgewertet wird, wird nicht nur das Argument geschwächt – es wird auch das Risiko, es zu äußern, erhöht.
Die Verbindung zu Mark Fishers Diagnose der „Privatisierung von Leid“ ist hier unmittelbar: Strukturelle Missstände – Preis, Druck, Intransparenz, unklare Kompetenz – werden individualisiert, Leid wird in das Individuum zurückverlagert, während das System entlastet wird (Fisher, 2009). Wenn man das einmal gesehen hat, sieht man es überall. Der Satz „du bist nicht meine Zielgruppe“ kann ein legitimer Boundaries-Satz sein. In der Immunisierungslogik wird er oft zur moralischen Abwertung: Nicht mein Angebot ist unpassend, sondern du bist „zu wenig committed“, „zu wenig high vibe“, „zu viel im Opfermodus“. Kritik wird damit nicht nur abgewehrt, sie wird auch zur Identitätsmarkierung: Wer bleibt, ist „gut“; wer geht, ist „noch nicht so weit“.
Präventive Immunisierung: Das Hater-Narrativ als Vorab-Impfung
Ein bemerkenswertes Detail: Immunisierung beginnt oft nicht erst, wenn Kritik auftaucht – sie beginnt präventiv. Man wird gegen Kritik geimpft, bevor man sie überhaupt hört. Das geschieht durch eine Erzählung, die so alt ist wie charismatische Milieus: Wenn Gegenwind kommt, heißt das, dass du auf dem richtigen Weg bist. Im Material begegnet einem das als Hater-Narrativ. Es ist die rhetorische Umkehrung des Beweises: Der Einwand gilt nicht als Anlass zur Prüfung, sondern als Ausweis von Größe. Ein einschlägiger Coaching-Anbieter formuliert das explizit: Hass sei oft in „misunderstanding, fear, or jealousy“ verwurzelt (Scandal Coach, o.D.). Damit wird die Motivation der Kritiker erklärt, bevor man sich mit ihrem Inhalt befasst. Der Kritiker ist nicht jemand, der Gründe hat, sondern jemand, der Defizite hat.
Der Zirkelschluss ist elegant: Erfolg erzeugt Neider, Neider bestätigen den Erfolg. In so einem Kreis kann Kritik nicht mehr „stimmen“, selbst wenn sie stimmt. Sie kann höchstens zeigen, dass der Coach sichtbar geworden ist – und Sichtbarkeit ist in einem influencergetriebenen Markt bereits eine Währung. In der Praxis wirkt diese Vorab-Impfung wie eine kleine innere Polizei. Wer sich später unsicher fühlt oder einen skeptischen Artikel liest, erlebt den Zweifel nicht mehr als vernünftige Prüfung, sondern als Test. „Jetzt kommt der Widerstand. Jetzt muss ich committed bleiben.“ Das ist eine Art Selbstüberwachung, die man nicht anordnen muss, weil sie sich aus dem Narrativ ergibt.
Hier berühren wir eine Struktur, die Nikolas Rose im Kontext moderner Subjektivierungsformen beschrieben hat: Macht wirkt nicht nur durch Verbot, sondern dadurch, dass Subjekte sich selbst im Namen von Freiheit regieren (Rose, 1999). Immunisierung ist in diesem Sinn eine Technik der Selbstregierung: Man lernt, äußere Kritik als „nicht relevant“ zu klassifizieren und stattdessen die eigene Loyalität zu optimieren. Dass diese Loyalität dann ökonomisch verwertbar ist, ist kein Zufall, sondern Systemlogik. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie das Ich-Ideal des Klienten mit dem Coach fusioniert; hier sehen wir die rhetorische Entsprechung: Der Klient lernt, Kritik am Coach als Kritik an sich selbst zu erleben. Die Immunisierung ist dann nicht mehr extern, sie ist internalisiert.
Spiritualisierung und Psychologisierung: Zwei Wege der Entwirklichung
Die vielleicht radikalste Form der Immunisierung ist nicht aggressiv, sondern metaphysisch. Sie besteht darin, Kritik aus der Welt der Gründe hinauszuschieben – in die Welt der Energie. Dann muss man Kritik nicht widerlegen, man muss sie nur „nicht resonieren lassen“. In spirituell geprägten Kontexten findet sich dafür ein erstaunlich klares Beispiel. Ein Huna-Coach schreibt über Kritik: „Not only does it harm the person making the criticism, it sends out a very low vibration … and brings them down“ (Blackburn, 2015). Der Satz ist nicht nur ein Satz, er ist eine komplette Sozialtechnik. Wer kritisiert, schadet sich selbst. Wer kritisiert, zieht andere runter. Wer kritisiert, vergiftet die Gruppe. Die Pointe dieser Spiritualisierung ist, dass sie Kritik nicht als Gesprächsangebot behandelt, sondern als Kontamination. Das ist, in immunologischer Metaphorik, der Moment, in dem ein Feld nicht mehr argumentiert, sondern desinfiziert. Die Community wird zum Reinraum, der sauber bleiben soll – und wer in einem Reinraum lebt, wird mit der Zeit nicht nur still, sondern auch empfindlich: Schon ein skeptischer Kommentar fühlt sich an wie Smog.
Im Korpus tauchen entsprechende Regelwerke in variierenden Formen auf: „No negativity.“ – „Protect the container.“ – „Wir lassen keine low vibes rein.“ Entscheidend ist nicht die Wortwahl, sondern die implizite Norm: Kritik ist keine Ressource, sondern eine Gefahr. Und sobald Kritik als Gefahr gilt, wird Selbstzensur zum „spirituellen“ Akt. Man unterdrückt Zweifel nicht, weil man Angst hat, sondern weil man „die Energie schützen“ will. Damit wird der Raum nicht nur konfliktarm, sondern auch erkenntnisarm – denn Erkenntnis ist oft konfliktiv, sie hat etwas Unhöfliches, sie stört die Erzählung (DeepResearches, siehe Anhang).
Neben der Spiritualisierung gibt es eine zweite Form, die im gegenwärtigen Diskurs besonders anschlussfähig ist, weil sie modern, wissenschaftsnah und „traumasensibel“ klingt: die Psychologisierung. Hier wird Kritik nicht zur Schwingung, sondern zur Stressreaktion. Zweifel ist dann nicht mehr ein vernünftiger Gedanke, sondern ein dysregulierter Körper. Das ist deshalb so wirksam, weil es nicht vollständig falsch ist. Natürlich gibt es Angstreaktionen, natürlich gibt es Widerstände, natürlich kann ein Nervensystem bei Veränderung Alarm schlagen. Der Unterschied liegt im Gebrauch: Ob man diese Begriffe nutzt, um zu differenzieren – oder um zu schließen. In einem Beitrag über unqualifizierte Life-Coaches wird genau diese Schließungslogik beschrieben: Klienten würden in einer Art Pseudo-Therapie-Rhetorik abgefertigt, sinngemäß: Du bist nicht bereit, du widerstehst dem Prozess (Lee, 2023). Im Korpus zeigt sich diese Technik in unzähligen Nuancen, oft in freundlichster Sprache: „Wenn dich das triggert, ist das genau die Stelle, an der du wachsen musst.“ Oder: „Dass du dich unter Druck fühlst, ist dein altes System, das sich wehrt.“ Das klingt nach Begleitung, ist aber funktional häufig eine Kauf- und Bleibetechnik: Der Moment der Prüfung wird zum Moment der Pathologisierung (DeepResearches, siehe Anhang).
Das ist die perfekte Immunisierung, weil sie selbstbestätigend ist. Wenn du widersprichst, beweist du nur, dass du „im Widerstand“ bist. Wenn du schweigst, beweist du, dass du „ins Vertrauen“ gehst. Und wenn du gehst, beweist du, dass du „nicht bereit“ warst. Ein System, das so arbeitet, kann kaum falsifiziert werden – es kann nur wachsen oder sich moralisch verteidigen. Bachkirova und Borrington warnen in ihrer Analyse „schöner Ideen“ im Coaching davor, dass gut gemeinte Konzepte – Selbstverantwortung, Positivität, Wachstum – kippen können: dann nämlich, wenn sie Kontext, Macht und Grenzen ausblenden und Klienten subtil beschämen (Bachkirova & Borrington, 2020). Immunisierung ist genau so eine Kippfigur: Aus Selbstverantwortung wird Schuldzuweisung, aus Wachstum wird Abwertung, aus Prozess wird Endlosschleife.
Community als Immunorgan: Soziale Kosten und die Architektur der Bindung
Man versteht das Immunisierungs-System erst vollständig, wenn man aufhört, es als bloßes Sprechen zu betrachten. Es ist nicht nur Sprache, es ist Sozialform. Viele High-Ticket-Ökosysteme verkaufen nicht nur Inhalte, sondern Gemeinschaft: private Gruppen, Chats, Retreats, „Inner Circles“, Masterminds. Diese Community kann real helfen – sie kann entlasten, normalisieren, Resonanz geben. Aber genau diese Stärken sind ambivalent: Wo Zugehörigkeit zur Ressource wird, wird Kritik zur Gefahr, weil Kritik die Kohäsion bedroht.
Sozialpsychologisch ist das nüchtern erklärbar. Menschen definieren sich über Gruppen, und Gruppen stabilisieren sich über Abgrenzung (Tajfel & Turner, 1979). Wenn das Wir-Gefühl groß ist, wird derjenige, der zweifelt, nicht mehr als kritischer Denker erlebt, sondern als Störenfried. Schon Asch hat gezeigt, wie stark Gruppendruck Urteile verzerren kann – selbst dann, wenn die Sache objektiv klar ist (Asch, 1951). Man muss daraus keine Sekte machen, um zu sehen: Eine Gruppe produziert nicht nur Unterstützung, sondern auch Normen. Im Korpus finden sich dafür typische Mikrorituale, die man banal nennen könnte, wenn sie nicht so wirksam wären: tägliche Check-ins, öffentliche Commitments, „Accountability“-Partner, Erfolgsposts, „Wins“ am Freitag, Dankbarkeitsrunden. Das sind nicht per se schlechte Praktiken. Sie werden problematisch, wenn sie zu einer moralischen Architektur werden, in der Zugehörigkeit an sichtbare Entwicklung gebunden ist. Dann entsteht ein paradoxes Klima: Man darf schwach sein – aber nur in der richtigen Form. Nicht als Zweifel am Angebot, sondern als Zweifel an sich selbst (DeepResearches, siehe Anhang).
Das ist der Punkt, an dem die Community zum Immunorgan wird. Kritik wird nicht mehr nur vom Coach umgedeutet; sie wird von der Gruppe absorbiert. Und das macht den Ausstieg schwerer: Man verliert nicht nur Geld, sondern auch „Wir“. An diesem Punkt ist es sinnvoll, eine Kategorie einzuführen, die nicht skandalisieren muss, aber sehr gut beschreibt, was geschieht: bounded choice. Janja Lalich verwendet diesen Begriff, um Situationen zu fassen, in denen Menschen subjektiv frei entscheiden, aber in einem sozialen System leben, das Entscheidungen so strukturiert, dass bestimmte Optionen psychologisch extrem teuer werden (Lalich, 2004). Der Clou ist: Niemand muss jemanden festhalten. Die Bindung entsteht aus Investitionen, Normen, Loyalitätsritualen, Identität. Im Therapieschattenmarkt kann bounded choice entstehen, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen: hoher Preis, starke Community, charismatische Führung, ein moralisches Wachstumsvokabular, das Ausstieg als Defekt deutet, und eine Dramaturgie, die Kritik vorab als „Hater-Energie“ rahmt. Dann wird „gehen“ nicht nur schwer, sondern schambesetzt: Wer geht, ist nicht einfach jemand, für den es nicht passte – er ist jemand, der „nicht durchgehalten“ hat.
Die psychische Ökonomie der Loyalität: Scham, Dissonanz und die Unmöglichkeit, sich zu irren
Warum funktioniert diese Immunisierung so gut? Weil sie psychische Kosten erzeugt, die Menschen vermeiden wollen. Wer ein hochpreisiges Programm gekauft hat, hat nicht nur Geld ausgegeben – er hat eine Geschichte gekauft: „Ich investiere in mich.“ Wenn das Programm enttäuscht, entsteht nicht nur Ärger, sondern Dissonanz. Festinger hat beschrieben, wie stark Menschen dazu neigen, Dissonanz zu reduzieren, indem sie Entscheidungen nachträglich rechtfertigen (Festinger, 1957). Arkes und Blumer zeigen, wie Investitionen die Neigung erhöhen, an einer Entscheidung festzuhalten, selbst wenn die Lage dagegen spricht (Arkes & Blumer, 1985). In Communities wird diese Dissonanz nicht nur innerlich, sondern sozial bearbeitet: Man rechtfertigt sich nicht nur vor sich selbst, sondern vor anderen. Und das macht Zweifel noch einmal schwerer.
Wer zweifelt, bekommt nicht selten das Spiegelbild seiner Zweifel zurück – aber als Defekt. „Du bist im Widerstand.“ „Trust the process.“ So wird die innere Kritik nicht bearbeitet, sondern beschämt. Scham ist dabei der zentrale Affekt, weil sie nicht wie Schuld auf eine Handlung bezogen ist, sondern das Selbst trifft: „Mit mir stimmt etwas nicht.“ Genau deshalb ist Scham so bindend. Sie macht es schwer, öffentlich zu sagen: „Ich habe mich geirrt.“ Wer 10.000 Euro bezahlt hat, will nicht vor sich selbst und anderen derjenige sein, der sich hat überreden lassen. Die Immunisierungslogik bietet eine Ausflucht: Du hast dich nicht geirrt, du bist nur „in einem Prozess“. Oder: Es hat nicht geklappt, weil du nicht genug umgesetzt hast. In beiden Fällen bleibt das Angebot rein, und das Selbst wird zwar gekränkt, aber in einer Weise, die den nächsten Kauf plausibilisieren kann: „Dann muss ich noch mehr investieren.“
Das ist der Punkt, an dem der Therapieschattenmarkt nicht nur ökonomisch, sondern psychodynamisch rekursiv wird: Er erzeugt die Probleme, die er dann als Gründe für weitere Angebote verwendet. Im vorigen Kapitel haben wir das als Perversion der Abstinenz beschrieben – der Coach, der die Abhängigkeit nicht bearbeitet, sondern monetarisiert. Hier sehen wir die Entsprechung auf der Ebene der Kritikverarbeitung: Die Enttäuschung wird nicht als Anlass zur Revision gelesen, sondern als Bestätigung, dass man noch nicht fertig ist. Das System bleibt sauber, das Individuum wird schuldig. Und Schuld, anders als Scham, kann man bearbeiten – indem man zahlt.
Ein weiterer, fast zynisch eleganter Zug moderner Ökosysteme ist, dass Kritik nicht nur abgewehrt, sondern verwertet werden kann. Der Shitstorm wird zur Reichweite. Die Kritik wird zum Beweis, dass man „polarisiert“. Der Angriff wird zum Marketingmoment: „Jetzt erst recht.“ In digitalen Plattformlogiken ist das nicht überraschend – Aufmerksamkeit ist eine Währung, und Empörung ist eine Hochleistungsmaschine. Das Problem im Therapieschattenmarkt ist die spezifische Mischung: Es wird nicht irgendein Produkt verkauft, sondern Hoffnung, Selbstdeutung, Identität. Wenn Kritik dann als „Test“ gerahmt wird, wird der Markt immun gegen äußere Korrektur. Externe Warnungen – journalistisch, verbraucherschützend, klinisch – prallen ab, weil die Kundschaft bereits gelernt hat, sie als „Angriff“ zu lesen.
Überleitung: Warum Entgrenzung fast zwangsläufig wird
Das Immunsystem des Therapieschattenmarkts erklärt, warum das Feld so stabil ist. Es erklärt auch, warum Entgrenzung so wahrscheinlich wird. Wenn Kritik nicht als Information wirkt, sondern als Defekt umcodiert wird, dann gibt es wenig Anlass zur Selbstbegrenzung. Wenn das System gelernt hat, Ausstieg zu pathologisieren, wird es kaum lernen, zu verweisen. Und wenn der Markt Gewissheit belohnt und Zweifel bestraft, wird Kompetenzüberschätzung nicht korrigiert, sondern prämiert.
Vielleicht ist die schärfste Kritik an Immunisierung nicht moralisch, sondern methodisch: Ein Feld, das nicht kritikfähig ist, ist nicht lernfähig. Argyris und Schön haben Organisationslernen als die Fähigkeit beschrieben, nicht nur Handlungen zu korrigieren, sondern auch die zugrunde liegenden Annahmen zu prüfen (Argyris & Schön, 1974). Übertragen auf unseren Kontext heißt das: Professionalisierung setzt voraus, dass ein Setting nicht nur fragt „Wie halten wir Kunden?“, sondern „Welche unserer Praktiken erzeugen Schaden, Druck, Abhängigkeit – und wie korrigieren wir das?“ Im Therapieschattenmarkt wird diese zweite Frage oft durch eine erste ersetzt. Kritik wird dann nicht als Anlass zur Hypothesenprüfung verstanden, sondern als Gefahr für „Vibe“, Reputation, Umsatz.
Die Pointe ist unerquicklich: Das Immunsystem schützt nicht nur das Geschäftsmodell. Es schützt auch den Coach vor dem, was in professionellen Settings ein Pflichtteil wäre – nämlich die Kränkung, sich geirrt zu haben. In Therapie ist diese Kränkung eingebaut: Man arbeitet mit Gegenübertragung, mit Fehlern, mit dem, was nicht aufgeht. In immunisierten Ökosystemen ist sie optional. Und was optional ist, wird selten bezahlt.
Damit sind wir beim nächsten Kapitel: Warum so viel Anmaßung möglich ist – nicht als individuelles Charakterproblem, sondern als Strukturproblem. Es geht um Overconfidence, um Dunning-Kruger-Effekte, um „scope creep“: vom Kommunikationscoach zur Traumaheilung, vom Karrierecoach zum Seelenführer. Und es geht um den Mechanismus, durch den ein dereguliertes Feld genau jene auswählt, die am wenigsten Demut haben – weil Demut sich schlechter verkauft als Gewissheit.
Warum so viel Anmaßung möglich ist – Kompetenzüberschätzung als Struktur
Es gibt eine Erklärung für den Therapieschattenmarkt, die wie ein bequemer Mantel sitzt: „Da draußen sind halt viele unseriöse Leute.“ Sie klingt plausibel, weil sie moralisch sortiert. Man weiß sofort, wo man steht: drinnen, auf der „guten“ Seite; draußen, die Abgründe des Internets. Aber diese Erklärung hat zwei Schwächen. Erstens erklärt sie nicht die Masse. Ein paar unseriöse Akteure würden ein paar Skandale produzieren; sie würden nicht ein ganzes Ökosystem hervorbringen, das in so vielen Nischen zugleich wächst: Mindset, Trauma, Nervensystem, Beziehungen, „Business“, „Healing“. Zweitens unterschätzt sie, dass Anmaßung selten als Anmaßung erlebt wird. Der typische Fall ist nicht der zynische Betrug, sondern die seltsame, menschlich sehr verständliche Mischung aus Selbstgewissheit, partieller Erfahrung und fehlendem Korrektiv. Die Frage ist also nicht nur: Wer ist unseriös? Sondern: Welche Bedingungen machen es wahrscheinlich, dass Menschen sich kompetenter erleben, als sie sind – und dass genau diese Überzeugung dann auch noch belohnt wird?
Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie das Immunsystem des Therapieschattenmarktes funktioniert: Kritik wird nicht bearbeitet, sondern umcodiert, pathologisiert, in Scham verwandelt. Das erklärt, warum das Feld so stabil ist. Es erklärt aber noch nicht, warum so viel Anmaßung überhaupt entsteht. Denn Immunisierung setzt ja voraus, dass es etwas zu immunisieren gibt – einen Anspruch, der über das hinausgeht, was gedeckt ist. Woher kommt dieser Anspruch? Die Antwort liegt nicht im Charakter einzelner Coaches, sondern in einer Konstellation: ein Markt von Vertrauensgütern, in dem die Qualität der Leistung für Laien nur begrenzt prüfbar ist, während die Versprechen existenziell sind (Darby & Karni, 1973); ein Plattformsystem, das Gewissheit belohnt und Differenzierung bestraft; und eine menschliche Psychologie, die zur Selbstüberschätzung neigt, besonders dort, wo Rückmeldung unscharf ist und Statusgewinn hoch. In dieser Perspektive wird Kompetenzüberschätzung nicht zum Charakterfehler, sondern zur Strukturdiagnose. Man muss niemanden zum Monster erklären, um das Risiko zu sehen – es reicht, eine Konstellation zu beschreiben, in der Selbsttäuschung plausibel wird und in der genau diese Selbsttäuschung ökonomisch und sozial anschlussfähig ist.
Overconfidence und Dunning-Kruger: Das Problem beginnt vor der Bosheit
Kompetenzüberschätzung ist zunächst nichts Dämonisches. Sie ist eine kognitive Logik, die man sogar mit einer gewissen Sympathie betrachten könnte, wenn sie nicht in Machtverhältnisse hineinwächst. Der klassische Befund ist bekannt: Menschen, die in einem Bereich schlecht abschneiden, neigen dazu, ihre Leistung deutlich zu überschätzen – nicht bloß aus Eitelkeit, sondern weil ihnen die Kriterien fehlen, um ihre eigenen Fehler überhaupt zuverlässig zu erkennen (Kruger & Dunning, 1999). In späteren Arbeiten haben Dunning und Kolleg:innen diesen Punkt präzisiert: Wer zu wenig Kompetenz besitzt, hat oft auch zu wenig metakognitive Kompetenz, um die eigene Inkompetenz zu diagnostizieren. Das Problem ist doppelt: Fehler passieren, und sie bleiben unsichtbar (Dunning et al., 2003). Man könnte das als tragikomische Anthropologie lesen: Wir sind manchmal zu schlecht, um zu wissen, dass wir schlecht sind.
Nur: Im Therapieschattenmarkt ist diese Tragikomik nicht harmlos, weil sie sich mit einem Machtgefälle verbindet. Wer Hilfe sucht, ist nicht in neutraler Lage, sondern häufig in einem Zustand erhöhter Suggestibilität: erschöpft, verunsichert, beschämt, hoffnungsvoll. Und das Setting ist nicht die Universität, wo falsche Antworten eine Note kosten, sondern ein Markt, in dem falsche Antworten Geld, Lebenszeit, Selbstwert kosten können. Genau deshalb ist es entscheidend, Kompetenzüberschätzung nicht als Meme („Dunning-Kruger“) abzutun, sondern als Risikoform in einem Feld, das von Deutung lebt. Hinzu kommt, dass „Overconfidence“ nicht nur ein Fehler ist, sondern mehrere. Moore und Healy unterscheiden drei Formen: Menschen überschätzen ihre absolute Leistung (Overestimation), ihre relative Stellung im Vergleich zu anderen (Overplacement), und die Präzision ihres Wissens – also wie sicher sie sind, dass sie recht haben (Overprecision) (Moore & Healy, 2008). Gerade diese dritte Form ist in therapienahen Coaching-Settings besonders gefährlich: Nicht der Irrtum ist das Problem – Irrtum ist menschlich –, sondern die Sicherheit, mit der Irrtum vorgetragen wird. Denn Sicherheit wirkt wie Kompetenz, und in einem Feld ohne objektive Messpunkte wird „wirkt wie“ schnell zu „ist“.
Dass sich diese Tendenzen gerade in „Lebensfragen“ so leicht stabilisieren, hat auch mit einer bekannten Illusion zu tun, die Rozenblit und Keil beschrieben haben: Menschen überschätzen häufig, wie gut sie komplexe Phänomene verstehen, solange sie nicht gezwungen sind, sie im Detail zu erklären. Erst wenn man erklären muss, merkt man, wie viele Lücken es gibt – eine „illusion of explanatory depth“ (Rozenblit & Keil, 2002). Genau diese Illusion wird durch Social-Media-Formate systematisch begünstigt. Ein Reel verlangt keine Theorie, es verlangt Schlagkraft, Tempo, Gefühl. Man kann mit zwei Minuten „Trauma“ sagen, ohne jemals Differentialdiagnostik, Komorbidität oder Verlauf zu berühren. Und weil das Publikum die Erklärung nicht prüft, sondern resonant findet, bleibt die Illusion intakt: Man versteht, weil es sich nach Verstehen anfühlt. Das ist nicht Dummheit – es ist eine Kulturtechnik, die Komplexität semantisch reduziert und dabei die Reduktion als Erkenntnis verkauft.
Das peinliche Detail: Selbst Profis überschätzen sich – und gerade deshalb sind Rahmen nötig
Wer jetzt innerlich erleichtert denkt: „Gut, dann ist das eben das Problem der Unausgebildeten“, verpasst die unangenehmere Pointe. Selbstüberschätzung ist nicht das Monopol der Laien. Sie ist eine menschliche Grundtendenz – und sie tritt auch in hochqualifizierten Feldern auf. Gerade das macht die Strukturfrage so wichtig: Professionalisierung ist nicht die Garantie gegen Irrtum, sondern die institutionelle Antwort darauf, dass Irrtum und Selbsttäuschung auch bei Profis vorkommen.
Eine Studie von Walfish und Kolleg:innen zur Selbstbeurteilung von Mental-Health-Professionals ist hier lehrreich, weil sie ohne Polemik auskommt und gerade deshalb trifft: Viele Behandler schätzten sich in ihrer Wirksamkeit überdurchschnittlich ein; niemand ordnete sich unterdurchschnittlich ein (Walfish et al., 2012). Das ist kein Skandalbericht, sondern ein Hinweis auf ein bekanntes Muster: Der Mensch ist schlecht darin, sich selbst in komplexen, feedbackarmen Tätigkeiten realistisch einzuschätzen. Psychotherapie ist eine solche Tätigkeit; Coaching erst recht. Der Unterschied ist nicht, dass das eine Feld frei von Verzerrungen wäre. Der Unterschied ist, dass Psychotherapie – im Ideal – Korrekturmechanismen kennt, die Verzerrungen irritieren: Supervision, Selbsterfahrung, Fallkonferenzen, Leitlinien, Berufsrecht, Beschwerden. Diese Mechanismen sind nicht nur standespolitische Accessoires, sondern eine Kulturtechnik: Zweifel wird nicht als Schwäche, sondern als Professionalität organisiert.
Und genau deshalb ist der Sprung in den Therapieschattenmarkt so riskant. Wenn bereits ein reguliertes Feld zeigen kann, wie hartnäckig Selbstüberschätzung ist, dann ist es naiv zu glauben, ein dereguliertes Feld würde ausgerechnet durch die Kraft des guten Willens immun werden. Im Gegenteil: Ohne institutionalisierte Korrektur wird die Verzerrung nicht nur wahrscheinlicher, sondern stabiler. Selbstbilder bleiben unangefochten, weil es keine Instanz gibt, die sie prüfen muss. In der Supervisionsforschung zum Coaching wird Supervision als möglicher Schutz- und Qualitätsfaktor diskutiert – gerade, weil sie Reflexion, Grenzbewusstsein und Fehlerkultur stärken kann (Bachkirova et al., 2020). Das ist nicht nur eine akademische Debatte, es ist eine strukturelle Logik: Wo Arbeit am Menschen stattfindet, braucht es Arbeit am Helfer. Und wo diese Arbeit freiwillig bleibt, wird sie – marktförmig betrachtet – häufig zur ersten Position, die man „wegoptimiert“. Man könnte es drastisch sagen: Professionalisierung ist das Eingeständnis, dass der Helfer nicht nur helfen, sondern auch irren kann. Der Therapieschattenmarkt lebt oft davon, dieses Eingeständnis nicht machen zu müssen.
Zuständigkeitsdrift: Wie aus „Kommunikation“ plötzlich „Traumaheilung“ wird
Die sichtbarste Form von Kompetenzüberschätzung im Therapieschattenmarkt ist nicht die einzelne falsche Aussage, sondern ein schleichender Vorgang: die allmähliche Ausweitung des Zuständigkeitsanspruchs. Im Projektmanagement nennt man das „scope creep“ – die unmerkliche Erweiterung eines Projekts über den ursprünglich definierten Umfang, oft ohne dass Ressourcen, Zeit oder Kompetenzen entsprechend angepasst werden (Ahmed & Jawad, 2022). Im Coachingkontext könnte man dafür einen deutschen Begriff setzen: Zuständigkeitsdrift. Oder, etwas gröber und treffender: Zuständigkeitskriechen. Es ist das Kriechen in Bereiche hinein, die klinisch, ethisch und epistemisch anspruchsvoller sind als das, womit man begonnen hat.
Der Anfang wirkt oft harmlos, manchmal sogar sinnvoll: Kommunikation, Konfliktmanagement, Berufsentscheidungen, Selbstorganisation. Dann kommt eine zweite Schicht, die im Coachingfeld verbreitet ist: innere Haltungen, Selbstbilder, „Glaubenssätze“, der innere Kritiker. Auch das ist nicht automatisch unseriös; es kann reflektiert und begrenzt bearbeitet werden. Aber häufig bleibt es nicht dabei. Die Semantik wird tiefer, das Versprechen existenzieller: Bindung, „Trauma“, Nervensystem, Depression, „narzisstische Muster“, „Reparenting“, Heilung. Das Angebot wird nicht mehr nur beratungsnah, sondern therapienah. Und spätestens an diesem Punkt ist die Frage nicht mehr: Finde ich das inspirierend? Sondern: Welche Kompetenz deckt diesen Anspruch? Welche Verantwortung folgt aus der Sprache, die hier benutzt wird?
Diese Drift hat einen ökonomischen Motor. Je existenzieller das Versprechen, desto höher die Zahlungsbereitschaft. Für „bessere Kommunikation“ zahlt man; für „Auflösung deiner Bindungswunden“ zahlt man anders. Tiefensprache ist nicht nur rhetorisches Ornament, sondern eine Preiserhöhungsmaschine. Und sie hat einen plattformlogischen Motor: Tiefe erzeugt Resonanz, Resonanz erzeugt Reichweite. In einer Kultur, die ohnehin durch therapeutische Semantik geprägt ist – Gefühle als Projekt, Selbst als Optimierungsarbeit –, findet Tiefensprache leicht Publikum (Illouz, 2008). Das Publikum reagiert nicht nur auf Inhalte, sondern auf die Verheißung, endlich „wirklich verstanden“ zu werden. Hier trifft Zuständigkeitsdrift auf die Illusion der Erklärungstiefe: Wer ein komplexes Phänomen nur in Schlagworten berührt, erlebt sich schnell als jemand, der es „durchschaut“. Erst die konkrete Praxis würde zeigen, wie viele Gegenbeispiele, wie viele Grenzfälle, wie viel Nichtwissen zur Kategorie gehört (Rozenblit & Keil, 2002). Aber genau diese Praxis – mit dokumentierter Falldifferenzierung, mit Korrektur, mit dem Recht, nicht zu wissen – ist im Schattenmarkt nicht systematisch eingebaut. Stattdessen wird eine Semantik von „Ganzheitlichkeit“ zum Freibrief: Weil alles zusammenhängt, darf man überall hineinsprechen. Philosophisch wäre der angemessene Schluss aus Ganzheitlichkeit allerdings nicht Omnikompetenz, sondern Demut; klinisch nicht Allzuständigkeit, sondern Indikationsbewusstsein.
Im Korpus zeigt sich diese Drift in vielen Varianten: Ein Business-Coach, der plötzlich „Ahnenarbeit“ anbietet; eine Mentorin für Sichtbarkeit, die „Nervensystem-Regulation“ verspricht; ein Karriereberater, der „dein Trauma als Blockade“ diagnostiziert. Das sind keine Einzelfälle, sondern Muster – die logische Konsequenz einer Marktdynamik, die Tiefensprache belohnt und Begrenzung bestraft (DeepResearches, siehe Anhang). Dass Grenzen nicht nur „da“ sind, sondern sozial hergestellt werden, hatten wir bereits als boundary work beschrieben: Felder definieren Zuständigkeiten, um Legitimität und Verantwortung zu steuern (Gieryn, 1983). Professionen kämpfen historisch um ihre „Jurisdiktionen“, weil an ihnen nicht nur Status, sondern Haftung und Ethik hängen (Abbott, 1988). Zuständigkeitsdrift ist, wenn man so will, boundary work in umgekehrter Richtung: nicht Abgrenzung zur Klärung, sondern Entgrenzung zur Skalierung.
Warum der Markt Gewissheit belohnt und Demut bestraft
Man versteht Zuständigkeitsdrift erst vollständig, wenn man die Selektionslogik des Marktes ernst nimmt. Märkte sind keine moralischen Instanzen. Sie belohnen nicht das Gute, sondern das, was sich verkauft. Und in einem Aufmerksamkeitsmarkt verkauft sich Gewissheit besser als Differenzierung. Hier kommt ein sozialpsychologischer Befund ins Spiel, der wie gemacht ist für die Coaching-Ökonomie: Menschen lassen sich von der Sicherheit anderer beeindrucken – oft sogar dann, wenn diese Sicherheit nicht mit Genauigkeit einhergeht. Zarnoth und Sniezek haben gezeigt, wie stark die geäußerte Confidence die soziale Einflussnahme in Gruppenurteilen prägt: Wer sicher wirkt, wird als kompetenter behandelt und beeinflusst Entscheidungen (Zarnoth & Sniezek, 1997). Das ist kein moralischer Vorwurf, sondern ein realistischer Blick: In unsicheren Situationen verwenden Menschen Heuristiken. „Der klingt sicher“ ist eine solche Heuristik. Sie spart Zeit und kognitive Arbeit – und sie funktioniert oft genug, um sich im Alltag zu bewähren. Das Problem ist nur: In therapienahen Feldern ist „funktioniert oft genug“ ein dünner Standard.
Noch schärfer wird es, wenn man berücksichtigt, dass Overconfidence auch einen sozialen Nutzen haben kann. Anderson und Kolleg:innen argumentieren in einer statuspsychologischen Perspektive, dass Überconfidence als Signal dienen kann, das Status steigert – weil Sicherheit Dominanz, Kompetenz oder Führungsfähigkeit kommuniziert (Anderson et al., 2012). Man muss nicht jede Bühne als Dominanzspiel lesen, um den Mechanismus zu erkennen: In einem Feld, in dem Rollen nicht klar geregelt sind, wird Status über Performanz hergestellt. Wer überzeugend auftritt, wirkt autorisiert. Wer zögert, wirkt unsicher. Wer „es kommt darauf an“ sagt, wirkt weniger marktfähig als jemand, der „ich sage dir genau, was bei dir los ist“ verkündet. Das ist der Punkt, an dem Plattformlogik und menschliche Psychologie eine fast elegante Komplizenschaft eingehen. Der Algorithmus belohnt nicht Wahrheitsfähigkeit, sondern Interaktion. Interaktion wird durch Affekte, durch Identifikation, durch Klarheit erzeugt. Und Klarheit ist oft die Abkürzung, die Komplexität amputiert. Ein seriöser Behandler weiß, wie viele „es kommt darauf an“ in einer guten Fallarbeit stecken. Der Markt weiß, dass „es kommt darauf an“ schlecht konvertiert.
Paradox ist: Es gibt Forschung, die zeigt, dass Menschen bei genauerem Hinsehen nicht nur Confidence, sondern Kalibrierung schätzen – also die Passung zwischen Sicherheit und Genauigkeit. Tenney und Kolleg:innen konnten zeigen, dass in Fragen von Glaubwürdigkeit nicht die bloße Selbstsicherheit überzeugt, sondern die Fähigkeit, angemessen sicher zu sein: „Calibration trumps confidence“ (Tenney et al., 2007). Wer weiß, was er weiß, und zugleich spürbar weiß, was er nicht weiß, kann als besonders glaubwürdig erscheinen (Tenney et al., 2008). Das ist eine schöne, fast hoffnungsvolle Pointe – aber sie hat eine Bedingung: Kalibrierung muss sichtbar werden können. In einer Welt von Kurzformaten, Testimonials und performativer Nähe ist Kalibrierung schwerer zu erkennen als Confidence. Und deshalb gewinnt im Markt oft die falsche Währung. Damit entsteht eine strukturelle Verzerrung: Das Feld selektiert nicht zwingend die Kompetentesten, sondern die Sichersten. Und die Sichersten werden durch Sichtbarkeit wiederum sicherer: Reichweite erzeugt Selbstgewissheit; Selbstgewissheit erzeugt Reichweite. Ein Feedback-Loop, der keine externe Realität braucht, um sich zu verstärken.
Epistemische Arroganz als moralische Form: Wenn das Nichtwissen verschwindet
Kompetenzüberschätzung wird im Therapieschattenmarkt besonders gefährlich, wenn sie sich moralisch verkleidet. Denn dann geht es nicht mehr nur darum, dass jemand sich überschätzt; es geht darum, dass Zweifel und Kritik nicht als legitime Prüfprozesse gelten dürfen, sondern als Defekt. Genau hier kippt kognitive Verzerrung in Ethik – und hier schließt sich der Bogen zum vorigen Kapitel über Immunisierung.
Man erkennt diesen Kipppunkt daran, dass Nichtwissen nicht mehr vorkommt. Der Satz „Ich könnte mich irren“ ist in helfenden Beziehungen kein Schwächesignal, sondern eine Form von Respekt: Er lässt dem anderen Raum, er vermeidet Kolonisierung, er schützt vor Übergriff. In einem professionellen Setting wird dieses Nichtwissen nicht romantisiert, aber es wird kultiviert – als Teil einer Haltung, die die eigene Macht kennt. Im Schattenmarkt wird Nichtwissen häufig ersetzt durch performative Gewissheit. Und diese Gewissheit wird nicht selten zu einem moralischen Test: Wer zweifelt, gilt als „nicht bereit“. Wer nach Evidenz fragt, gilt als „verkopft“. Wer Grenzen setzt, gilt als „im Muster“. Hier verbindet sich Overprecision mit jener Rhetorik, die wir in den Kapiteln zuvor bereits als Signatur des Feldes beschrieben haben: Einwände werden nicht beantwortet, sondern psychologisiert. Das ist epistemische Arroganz in moralischer Form: Der Coach behauptet nicht nur ein Wissen über die Welt, sondern ein Wissen über deine Gründe – und er macht dieses Wissen immun gegen Widerspruch, indem er Widerspruch als Symptom deutet. In der Logik von Dunning-Kruger ist das ein perfektes System: Inkompetenz bleibt nicht nur unsichtbar; sie wird gegen Korrektur abgeschirmt (Kruger & Dunning, 1999; Dunning et al., 2003).
Im Korpus zeigt sich diese epistemische Arroganz in vielen Varianten: „Ich sehe sofort, wo dein Block liegt“ – ohne Diagnostik, ohne Prozess, ohne die Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte. „Du brauchst keine Therapie, du brauchst jemanden, der dir die Wahrheit sagt“ – als wäre Wahrheit etwas, das man hat, nicht etwas, das man gemeinsam sucht. „Ich weiß, dass das schwer zu hören ist, aber genau deshalb musst du es hören“ – die Härte wird zum Gütesiegel, der Widerstand zum Beweis (DeepResearches, siehe Anhang). Im psychoanalytischen Kapitel haben wir gesehen, wie die Guru-Übertragung funktioniert: Der Coach wird zur idealisierten Instanz, die nicht versagen kann. Epistemische Arroganz ist die kognitive Entsprechung dieser Dynamik auf Seiten des Anbieters. Er glaubt nicht nur, dass er recht hat – er glaubt, dass seine Gewissheit selbst ein Zeichen seiner Berufung ist. Und in einem Feld ohne Korrekturmechanismen wird diese Überzeugung nicht geprüft, sondern monetarisiert.
Überleitung: Vom Kompetenzproblem zur Reproduktionslogik
Wenn Kompetenzüberschätzung strukturell möglich und selektionsfähig ist, ergibt sich der nächste Schritt fast zwangsläufig: Wo Kompetenz unscharf bleibt, wird Zertifizierung selbst zur Ware. Wo Zuständigkeiten nicht professionell geklärt sind, werden sie marktförmig behauptet. Und wo ein Feld nicht über überprüfbare Zuständigkeit stabil wird, stabilisiert es sich über Rekrutierung: Coach-Ausbildungen, „Mentorings“, Lizenzmodelle, Masterminds.
Das ist nicht nur ein ökonomischer Nebeneffekt, sondern eine Reproduktionslogik. Der Markt hat ein Problem: Er kann Qualität schwer beweisen. Also verkauft er nicht nur Ergebnisse, sondern auch das Versprechen, Ergebnisse produzieren zu können – bei anderen, die dann wiederum dieselben Versprechen verkaufen. Hier schließt sich die Struktur, die wir als rekursiven Markt bereits angedeutet haben: Coaches coachen Coaches. Das nächste Kapitel wird diese Logik genauer untersuchen. Es geht dann nicht mehr primär um die Psychologie des einzelnen Anbieters, sondern um die Ökonomie eines Feldes, das sich selbst kopiert, weil Kopie skalierbarer ist als Expertise. Die Anmaßung ist dort nicht mehr bloß möglich, sondern systemisch produktiv.
Ich schreibe Kapitel 11 neu – sprachlich dicht, längere zusammenhängende Absätze, Struktur 11.1–11.6, organisch aus Kapitel 10 entwickelt.
Wenn das Produkt die Reproduktion ist – „Coaches coachen Coaches“
Es gibt eine einfache, aber harte Frage, an der man die Substanz eines Feldes erkennen kann: Womit hat es zu tun, wenn man seine eigene Rhetorik abzieht? Professionssoziologisch gesprochen: Eine Profession entsteht nicht, weil sie sich selbst hervorbringen will, sondern weil es „menschliche Probleme“ gibt, die als Aufgabenfeld anerkannt werden – Probleme also, „amenable to expert service“ (Abbott, 1988, S. 35). Das klingt trocken, ist aber als Diagnoseinstrument erstaunlich scharf. Denn es zwingt dazu, zwischen Infrastruktur und Produkt zu unterscheiden. Ausbildung, Zertifizierung, Nachwuchs – all das gehört zu Professionen; doch es ist Mittel, nicht Zweck. Es ist die Werkstatt, nicht das Werk. Cruess und Cruess rahmen Professionalisierung als „social contract“: Gesellschaft nutzt Professionen als Mittel, um komplexe Dienstleistungen zu organisieren, die sie benötigt – also wiederum: Außenproblem führt zu Zuständigkeitsarchitektur (Cruess & Cruess, 2004). Man kann das an Alltagsbeispielen sehen, ohne Pathos: Medizin existiert nicht, um Ärztinnen und Ärzte zu vermehren, sondern weil Krankheit, Schmerz, Verletzbarkeit und Sterblichkeit bearbeitet werden müssen. Recht existiert nicht, um Juristen zu reproduzieren, sondern weil Konflikte, Ansprüche und Gewalt reguliert werden müssen. Psychotherapie existiert – im guten wie im fragwürdigen Teil ihres Feldes – jedenfalls nicht primär, um Ausbildungsinstitute zu füttern, sondern weil Menschen leiden, scheitern, sich verstricken, Symptome entwickeln, Beziehungen zerstören und wieder aufbauen, weil sie an Grenzen geraten, die nicht einfach „wegzucoachen“ sind.
Diese Außenorientierung ist zugleich der Maßstab, an dem man erkennt, wenn ein Markt sich in eine Rekursion verkehrt. Und genau das ist in Teilen des heutigen Coaching-Ökosystems auffällig: Programme enden nicht selten dort, wo sie beginnen – beim Coaching selbst. Aus „Ich helfe dir, dein Leben zu verändern“ wird „Werde selbst Coach“. Aus „Ich zeige dir, wie du finanziell frei wirst“ wird „Starte dein Coaching-Business“. Aus „Transformiere dein Mindset“ wird „Baue dir ein Angebot und verkaufe es über DM“. Es ist, als würde ein Weg, der nach außen führen sollte, in einer Schleife zurückkehren: ein Escher’sches Bild von Händen, die sich gegenseitig zeichnen – nur dass hier nicht Kunst entsteht, sondern ein Markt, der seine eigene Nachfrage herstellt. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie Kompetenzüberschätzung strukturell möglich und selektionsfähig wird, weil der Markt Gewissheit belohnt und Demut bestraft. Die logische Konsequenz ist: Wo Kompetenz unscharf bleibt, wird Zertifizierung selbst zur Ware. Wo Zuständigkeiten nicht professionell geklärt sind, werden sie marktförmig behauptet. Und wo ein Feld nicht über überprüfbare Zuständigkeit stabil wird, stabilisiert es sich über Rekrutierung.
Damit ist nicht behauptet, dass jede Coaching-Ausbildung illegitim wäre. Es gibt seriöse, fachlich orientierte Weiterbildungen – etwa im organisationalen Coaching, im Bereich Consulting Psychology, im systemischen Feld oder als berufsnahe Fortbildung für Führung, Kommunikation, Konfliktmoderation. Es gibt Ausbildungsformate, die Grenzen, Ethik und Indikationsbewusstsein ernst nehmen, die Reflexion und Supervision nicht als Kür, sondern als Pflicht organisieren (Bachkirova et al., 2020). Der Punkt ist nicht „Coach-Ausbildung – ja oder nein“. Der Punkt ist: Welche Art von Ausbildung ist es? Dient sie der Kompetenzbildung für ein reales Außenproblem – oder dient sie primär der Reproduktion eines Vertriebsmodells? In dem Moment, in dem das Produkt nicht mehr Hilfe, sondern die Fähigkeit wird, Hilfe zu verkaufen, wird der Markt entlarvender als jede Polemik. Dann ist das Feld nicht zuerst ein Hilfesystem, sondern ein Distributionssystem. Es produziert weniger Expertise als Verkäufer. Und es stabilisiert sich, indem es immer neue Verkäufer hervorbringt.
Der Pipeline-Effekt: Wenn das Programm nur die Vorstufe zum nächsten Programm ist
Wer sich – notgedrungen – durch die Architektur vieler Angebote bewegt, erkennt eine Dramaturgie, die weniger nach individueller Passung aussieht als nach Stufenplan. Sie beginnt häufig mit einem Lockmittel, das als Diagnose und Trost zugleich auftritt: ein Post, ein Video, ein Webinar, eine Challenge. Das Problem wird existenziell benannt, nicht nur pragmatisch: nicht „du brauchst ein besseres Zeitmanagement“, sondern „du bist dysreguliert“; nicht „du musst Prioritäten setzen“, sondern „du sabotierst dich“; nicht „du hast Angst“, sondern „dein Nervensystem ist im Überlebensmodus“. Das ist bereits der erste Schritt der Überhöhung: Aus Lebensproblemen werden Innenwelt-Formeln, die tiefer klingen als sie begrifflich ausbuchstabiert sind. Dann folgt die erste Konversion: aus Aufmerksamkeit wird Kontakt, aus Kontakt wird Gespräch, aus Gespräch wird Kauf. An dieser Stelle haben wir im Essay bereits gesehen, wie Funnels arbeiten, wie Bedenkzeit pathologisiert und Einwände psychologisiert werden können. Entscheidend ist jedoch, was danach passiert.
In nicht wenigen Fällen erscheint – nach Kurs, Programm, Mentoring – der nächste logische Schritt nicht als Rückkehr in ein verbessertes Leben, sondern als Eintritt in die Reproduktionsstufe des Marktes: „Wenn du das wirklich verkörpern willst, werde Coach.“ Der Satz kann harmlos sein. Er kann aber, wenn er regelhaft wird, eine Struktur anzeigen: Das System löst nicht nur Probleme, es erzeugt eine Karriereoption innerhalb des Systems – und zwar genau dann, wenn die Frage nach externer Wirksamkeit am schwierigsten zu beantworten wäre. Im Korpus zeigt sich dieses Muster in vielen Varianten: „Ich war früher genau wie du – jetzt helfe ich anderen, denselben Weg zu gehen.“ Oder: „Wenn du tiefer gehen willst, komm in meine Ausbildung.“ Oder: „Du hast so viel Potenzial – hast du schon mal darüber nachgedacht, das auch anderen weiterzugeben?“ (DeepResearches, siehe Anhang). Man kann diese Bewegung in einem neutralen Raster beschreiben, ohne moralisch zu werden: Entsteht der Hauptwert eines Programms dadurch, dass es Menschen befähigt, außerhalb des Systems zu handeln – oder dadurch, dass es Menschen befähigt, innerhalb des Systems zu verkaufen? Wenn die zweite Option dominiert, ist das ein Substanzsignal. Dann wird Hilfe zur Einweisung in ein Ökosystem.
Die entscheidende Pointe des Pipeline-Effekts ist psychologisch subtil: Wer selbst Kunde war, wird später als glaubwürdiger Verkäufer eingesetzt. Er oder sie hat die „Origin Story“ bereits im Körper. Das Feld gewinnt dadurch eine Vertrauensressource, die sich kaum regulieren lässt: Zeugenschaft. Nicht im wissenschaftlichen Sinn, sondern im affektiven. „Ich war auch dort“ ist ein starkes Bindeglied, und genau deshalb ist es im Therapieschattenmarkt so wirksam: Es wirkt wie Empathie, kann aber zugleich als Vertriebshebel fungieren. Der Übergang vom Geholfenen zum Helfenden ist dann nicht Professionalisierung, sondern Monetarisierung von Erfahrung – und die Erfahrung muss nicht einmal besonders gut gewesen sein, solange sie erzählbar ist.
Rekursion als Marktlogik: Warum der Vergleich mit MLM zumindest heuristisch wird
An dieser Stelle wird oft entweder übertrieben (alles ist „Schneeballsystem“) oder verharmlost (alles ist „normales Online-Business“). Beides hilft nicht. Sinnvoll ist ein kühlerer, analytischer Zugriff: Welche Einnahmequelle ist primär – externer Absatz oder interne Rekrutierung? In der Forschung zu Multi-Level-Marketing und pyramidenartigen Systemen gibt es dafür eine nüchterne Heuristik. Vander Nat und Keep schlagen vor, MLM-Strukturen von Pyramidendynamiken danach zu unterscheiden, ob Vergütung und Wachstum vor allem aus dem Verkauf realer Produkte oder Dienstleistungen an externe Kunden entstehen – oder ob das System primär dadurch wächst, dass neue Teilnehmende rekrutiert werden, die dann innerhalb des Systems kaufen und wiederum rekrutieren (Vander Nat & Keep, 2002). Keep und Vander Nat zeigen in späteren Arbeiten, wie schwierig diese Grenzziehung in der Praxis sein kann, weil viele Modelle hybrid sind und sich rechtlich wie semantisch „legitim“ rahmen (Keep & Vander Nat, 2014). Das ist genau der Punkt, der für unsere Analyse interessant ist: Nicht die juristische Etikettierung ist entscheidend, sondern die Rekursionslogik.
Überträgt man diese Heuristik auf den Coachingmarkt, lautet die Frage: Wie groß ist der Anteil echter externer Nachfrage – Menschen, die wegen eines konkreten, begrenzten Problems Beratung suchen – im Verhältnis zu interner Nachfrage – Menschen, die vor allem lernen, das Modell weiterzuverkaufen? Je stärker der Markt sich über interne Nachfrage stabilisiert, desto eher ist er kein Hilfemarkt, sondern ein Reproduktionsmarkt. Und dann wird es auch verständlich, warum in solchen Ökosystemen Marketingcurricula – „Offer“, „Positionierung“, „Messaging“, „Closing“, „DM-Strategie“ – nicht Nebenfach, sondern Hauptfach sind. Das sind nicht Kategorien der Hilfeethik, sondern Kategorien der Konversion. Im Korpus zeigt sich, dass manche „Coach-Ausbildungen“ mehr Zeit auf Verkaufstechnik verwenden als auf Gesprächsführung, mehr auf „Sichtbarkeit“ als auf Grenzbewusstsein, mehr auf „Money Mindset“ als auf Indikation und Kontraindikation (DeepResearches, siehe Anhang).
Wichtig ist: Diese Diagnose ist kein moralischer Vorwurf und erst recht keine strafrechtliche Behauptung. Sie ist eine Strukturbeobachtung. Es gibt Märkte, in denen die „Ausbildung“ selbst das profitabelste Produkt ist. Das kann in manchen Branchen legitim sein. Im therapienahen Bereich jedoch ist es ethisch brisanter, weil die Reproduktion häufig genau dort ansetzt, wo Vulnerabilität im Spiel war: Wer aus Erschöpfung, Sinnkrise oder Not heraus Hilfe suchte, wird später als Ressource der Rekrutierung genutzt. Die Verbraucherzentrale Niedersachsen dokumentiert genau diesen Mechanismus in einem Fall, in dem eine Frau nach einem Webinar einen Vertrag über 4.000 Euro unterschrieb – und ihre „Aufgabe“ anschließend darin bestand, „neue Interessentinnen anzuwerben“ (Verbraucherzentrale Niedersachsen, 2025a). Das ist die Rekursion in ihrer reinsten Form: Das Produkt ist die Fähigkeit, das Produkt zu verkaufen.
Warum das so attraktiv ist: Status, Sinn und der Traum vom Ausstieg
Man muss verstehen, warum diese Struktur so magnetisch ist, sonst bleibt man bei Spott stehen – und Spott ist der billigste Schutz vor der eigenen Beunruhigung. Rekursive Märkte sind psychologische Maschinen. Sie verkaufen nicht nur Einkommensversprechen, sondern Identität. Und sie treffen damit einen historischen Moment, in dem Identität selbst prekär geworden ist: fragmentiert, vergleichbar, sichtbar, ständig unter Leistungsdruck. Wer „Coach“ wird, kauft nicht nur ein Tätigkeitsprofil; er kauft eine Rolle, die im kulturellen Imaginären hoch aufgeladen ist: Heiler, Mentor, Guide, jemand, der „es geschafft“ hat und nun anderen den Weg weist. Das ist keine Kleinigkeit. Es ist ein Identitätsangebot, das genau dort ansetzt, wo viele Menschen sich am verletzlichsten fühlen: bei der Frage, wer sie sind und was ihr Leben bedeutet.
Hier lässt sich eine Linie zu Mark Fisher ziehen: Wenn strukturelle Probleme – Prekarität, Erschöpfung, Sinnverlust – nicht politisch, sondern privat verarbeitet werden, entsteht eine Kultur, in der Lösungen als individuelle Projekte erscheinen. Fisher beschreibt diese „Privatisierung“ von Leid als zentrale Operation des gegenwärtigen Kapitalismus: Das System macht krank, aber die Krankheit wird als private Aufgabe gerahmt (Fisher, 2009). Das Coaching-Business ist eine besonders elegante Version dieser Privatisierung: Es verspricht nicht nur Besserung, sondern Ausstieg. „Mach dich selbstständig“ wirkt dann wie Befreiung aus einem krankmachenden Alltag. Dass es zugleich eine neue Zumutung erzeugen kann – Sichtbarkeit, Selbstvermarktung, ständiges Verkaufen – wird in der Euphorie der Erzählung oft verdrängt. Nikolas Rose liefert dazu den theoretischen Hintergrund: Moderne Macht operiert nicht nur durch Verbote, sondern durch Selbstführung; das Subjekt wird zum Unternehmer seiner selbst (Rose, 1999). Der rekursive Coachingmarkt bietet dafür ein fertiges Ritualsystem: Mindset-Arbeit, Manifestationsvokabular, „verkörpern“, „skalieren“, „Freiheit“. Er übersetzt ökonomische Not und kulturellen Druck in eine persönliche Mission.
Das kann sich für viele Menschen zunächst wirklich besser anfühlen – und genau darin liegt die Ambivalenz. Es ist nicht bloß Betrug, es ist oft eine psychische Lösung auf Zeit: eine Erzählung, die die Erfahrung von Ohnmacht durch die Erfahrung von Handlung ersetzt. Psychoanalytisch könnte man sagen: Es ist auch eine Abwehr gegen Kontingenz. Wenn das Leben unberechenbar ist, dann ist der Gedanke, man könne es „durch ein Modell“ beherrschen, tröstlich. Der Coach-Titel verleiht eine Form von Kontrolle, die man im eigenen Leben vielleicht vermisst. Die Rekursion ist dann nicht nur ökonomisch, sondern existenziell: Man wird Teil eines Systems, das Sinn verspricht, solange man drinbleibt. Nur: Ein tröstliches Modell wird gefährlich, wenn es sich selbst reproduziert, indem es die Tröstung verkauft.
Dissonanz, Sunk Cost und Initiation: Warum aus Kundschaft Multiplikation wird
Rekursive Märkte benötigen nicht nur neue Teilnehmer, sie benötigen auch Loyalität. Und Loyalität entsteht in diesen Systemen selten durch nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung. Sie entsteht durch psychische Mechanismen, die wir längst kennen – und die im Coachingmarkt nur besonders elegant genutzt werden. Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz beschreibt, wie stark Menschen dazu tendieren, Entscheidungen nachträglich aufzuwerten, wenn sie teuer waren – psychisch teuer, finanziell teuer, sozial teuer (Festinger, 1957). Je größer die Investition, desto stärker der Druck, sie als sinnvoll zu erleben. Der Sunk-Cost-Effekt beschreibt das verwandte Phänomen, dass Menschen an einer Entscheidung festhalten, gerade weil sie bereits investiert haben, selbst wenn neue Informationen dagegensprechen (Arkes & Blumer, 1985). Das ist keine Dummheit, sondern ein tief menschlicher Mechanismus der Selbstkohärenz.
In einem rekursiven Coachingmarkt kann aus dieser Logik ein Motor werden: Wenn ich schon so viel investiert habe, muss es „etwas“ gewesen sein. Und eine der stärksten Formen, diese Spannung zu reduzieren, besteht darin, das eigene Investment in Mission zu verwandeln. Nicht: „Ich habe gekauft.“ Sondern: „Ich habe verstanden.“ Und wenn ich verstanden habe, kann ich weitergeben. Der Schritt vom Coachee zum Coach ist dann nicht nur ökonomisch, sondern psychisch attraktiv: Er macht aus möglicher Enttäuschung eine Aufwertung. Er verwandelt die Frage „Hat es wirklich gewirkt?“ in die Behauptung „Ich bin jetzt jemand, der wirkt.“ Aronson und Mills haben zudem gezeigt, wie Initiationshärte die Bindung an eine Gruppe erhöhen kann: Wer einen hohen Preis zahlt – in welcher Form auch immer –, wertet die Zugehörigkeit auf (Aronson & Mills, 1959). Im High-Ticket-Coaching wird der Preis häufig explizit als Filter gerahmt. Das erzeugt eine moralische Differenz: Wer zahlt, ist „ernsthaft“; wer nicht zahlt, ist „nicht bereit“. Damit wird ökonomische Möglichkeit in Charakter übersetzt. Und wer einmal durch diese moralische Schleuse gegangen ist, hat nicht nur gezahlt, sondern sich als Person positioniert. Das macht Ausstieg nicht nur finanziell, sondern narzisstisch teuer.
Im Korpus zeigt sich, wie diese Dynamik sprachlich gerahmt wird: „Du bist nicht hier, weil du ein Problem hast – du bist hier, weil du bereit bist für mehr.“ Oder: „Die Investition zeigt, dass du es dir wert bist.“ Oder nach Abschluss der Ausbildung: „Du bist jetzt Teil einer Gemeinschaft von Menschen, die wirklich etwas bewegen wollen“ (DeepResearches, siehe Anhang). Hier berührt sich Psychologie mit Marktstruktur: Ein System, das Initiation, Dissonanz und Zugehörigkeit koppelt, produziert Multiplikation fast automatisch. Es braucht nicht einmal Zwang. Es braucht nur eine Erzählung, die den nächsten Schritt als Sinn präsentiert.
Affiliate-Ökonomie und die Verwandlung von Erfahrung in Werbematerial
Neben der Pipeline gibt es im Coachingmarkt häufig eine zweite Rekursionsform: Affiliate- und Empfehlungsökonomien. Empfehlungsprogramme sind an sich nicht verwerflich. Aber in therapienahen Kontexten verändern sie die Rolle des Empfehlenden. Wer Provision erhält, ist nicht mehr nur Zeuge, sondern Beteiligter. In professionellen Hilfesystemen ist genau diese Vermischung von Beratung und Eigeninteresse ein klassischer Interessenkonflikt – deshalb werden Kickbacks, verdeckte Provisionen und ähnliche Konstruktionen in vielen Professionen entweder verboten oder streng reguliert. Im Coaching-Schattenmarkt hingegen ist die Monetarisierung der Empfehlung oft integraler Bestandteil.
Das hat zwei Folgen. Erstens wird die Grenze zwischen authentischer Erfahrung und strategischer Erzählung unscharf: Testimonials sind dann nicht nur Mitteilung, sondern Asset. Zweitens wird Vulnerabilität zur Bühne: Wer aus Krise heraus „gerettet“ wurde, wird als Story-Baustein nutzbar – nicht notwendig zynisch, oft sogar in ehrlicher Dankbarkeit, aber strukturell problematisch. Denn sobald Dankbarkeit in Provision übersetzbar wird, ist die Beziehung nicht mehr nur Beziehung, sondern Vertriebskanal. Im Korpus finden sich typische Formulierungen: „Empfiehl mich weiter und erhalte X% Provision.“ Oder subtiler: „Wenn du jemanden kennst, für den das auch passen könnte…“ – wobei der finanzielle Anreiz oft erst später sichtbar wird (DeepResearches, siehe Anhang). Diese Struktur ist auch deshalb heikel, weil sie die Qualitätssicherung unterläuft. Wo professionelle Felder versuchen, Wirksamkeit und Risiko zumindest ansatzweise zu dokumentieren, ersetzt der rekursive Markt Dokumentation durch Erzählung. Die Wahrheit des Angebots liegt dann nicht in überprüfbaren Kriterien, sondern in der Menge und Intensität der Stories. Das ist nicht einfach „Marketing“ – es ist eine epistemische Ordnung: Testimonial ersetzt Evidenz, Aura ersetzt Begrenzung.
Überleitung: Von der Reproduktion zur rechtlichen Frage
Die Rekursion ist nicht nur ein ökonomisches Kuriosum. Sie ist ein Verstärker jener Entgrenzung, die im gesamten Essay zentral war. Denn ein Markt, der Coaches produziert, muss Nischen produzieren. Und Nischen, die Zahlungsbereitschaft erzeugen, liegen häufig dort, wo Not und Dringlichkeit spürbar sind: Trauma, Bindung, Depression, „Nervensystem“. Damit entsteht eine semantische Aufrüstung: Je näher das Angebot an existenzieller Not operiert, desto höher kann der Preis sein, desto stärker ist die Rechtfertigung „du musst investieren“, desto leichter lässt sich eine Pipeline speisen, in der die nächste Stufe „Zertifizierung“ oder „Coach-Ausbildung“ heißt. Man könnte sagen: Der Markt wird zur Maschine, die zugleich Problem, Lösung und Beruf erzeugt. Das wäre, wenn es nicht so intime Folgen hätte, fast elegant – eine Art wirtschaftliches Perpetuum mobile. Aber hier geht es nicht um Staubsauger oder Fitness-Abos. Es geht um Menschen, die oft in fragilen Lebenslagen Orientierung suchen. Und eine Struktur, die aus Orientierung Rekrutierung macht, verschiebt das Ethos: Nicht mehr „Was braucht dieser Mensch?“ wird zur Leitfrage, sondern „Wie bringe ich ihn in die nächste Stufe?“
An dieser Stelle lohnt ein kurzer Blick auf die Substanzfrage: Woran erkennt man, ob eine „Coach-Ausbildung“ inhaltliche Substanz hat oder primär Vertriebsschulung ist? Seriöse Ausbildungen – ob im Coaching, in Beratung oder in angrenzenden Feldern – haben typischerweise eine erkennbare Begrenzungsarchitektur. Sie sagen nicht nur, was man „kann“, sondern auch, was man nicht kann. Sie stellen nicht nur Werkzeuge bereit, sondern auch die Frage, wann Werkzeuge gefährlich werden. Sie arbeiten nicht nur mit Erfolgsstories, sondern auch mit Fehlerkultur. Und sie organisieren Reflexion nicht als freiwillige Option, sondern als Standard. Vertriebsdominierte Ausbildungen dagegen haben häufig eine andere Anatomie. Sie sind nicht auf das Außenproblem, sondern auf den Verkauf hin gebaut. Das Curriculum ist dann ein Markt-Curriculum: Sichtbarkeit, Reichweite, Positionierung, Preispsychologie, Closing. Damit kehrt die Ausgangsfrage dieses Kapitels wieder, nur präziser: Ein Feld zeigt seine Substanz daran, ob es sich am Außenproblem begrenzt – oder ob es sich an seiner eigenen Reproduktion entgrenzt.
Der Übergang zum nächsten Kapitel ist damit logisch. Denn sobald Programme didaktisch organisiert sind, Curricula anbieten, Aufgaben, Gruppensettings, Fortschrittslogiken und Zertifikate – und zugleich hochpreisig sind und über Funnels vertrieben werden –, berühren sie nicht nur „Coaching“, sondern Verbraucherschutz, Vertragsrecht und Fragen von Transparenz. Der Staat reguliert nicht „Seele“, aber er reguliert durchaus Unterrichtsformen, Verträge, Informationspflichten. Und genau dort kann ein Teil der Rekursion, die sich kulturell als „Mentoring“ tarnt, plötzlich sichtbar werden – nicht als Psychologieproblem, sondern als Strukturproblem, das rechtliche Fragen aufwirft.
Recht als Realitätsprinzip – wenn „Mentoring“ plötzlich Fernunterricht ist
Es gibt einen Moment, in dem ein Diskurs, der sich zuvor im warmen Nebel von „Transformation“, „Alignment“ und „Commitment“ bewegen konnte, an etwas stößt, das nicht mitschwingt, sondern prüft. Nicht prüft, ob jemand „bereit“ ist, sondern ob ein Vertrag eine bestimmte Struktur hat. Nicht prüft, ob ein Angebot „wirkt“, sondern ob es rechtlich als das gilt, was es faktisch ist. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie der Therapieschattenmarkt sich über Rekrutierung stabilisiert: Coaches coachen Coaches, Ausbildungen werden zum profitabelsten Produkt, die Pipeline endet dort, wo sie begonnen hat. Wir haben auch gesehen, dass diese Struktur sich kulturell als „Mentoring“ tarnt – und damit eine Frage aufwirft, die nicht mehr nur psychologisch oder soziologisch ist, sondern rechtlich: Was genau wird hier eigentlich verkauft?
Ausgerechnet das Fernunterrichtsschutzgesetz (FernUSG) spielt dabei eine Schlüsselrolle. Es stammt aus einer Epoche, in der „Fernunterricht“ nach Fernschule, Skript und Postversand klingt; in der Gegenwart trifft es jedoch auf eine Branche, die ihre Programme über Video-Libraries, Live-Calls, Communities und „Accountability“ organisiert – und gerade dadurch häufig die Struktur eines Lehrgangs annimmt, auch wenn sie ihn „Mentoring“ nennt. Das FernUSG reguliert nicht „Therapie“, nicht „Coaching“ als Lebenskunst und nicht die Freiheit der Selbstoptimierung. Es reguliert etwas viel Konkreteres: entgeltliche Lehrverhältnisse unter Bedingungen räumlicher Trennung, bei denen Lernerfolg überwacht wird. Und genau deshalb ist es für den Therapieschattenmarkt so gefährlich – weil es die semantische Tarnkappe ignoriert und stattdessen auf die Bauweise des Angebots schaut. Die Ironie ist dabei bemerkenswert: Das, was als besonders fürsorglich verkauft wird („ich halte dich dran“, „du bekommst Feedback auf deine Hausaufgaben“), ist rechtlich genau das Merkmal, das ein Programm vom bloßen Selbstlernkurs unterscheidet und in den Anwendungsbereich des Gesetzes zieht. § 7 FernUSG enthält die eigentliche Sprengkraft: Ein Fernunterrichtsvertrag, der ohne die erforderliche Zulassung geschlossen wird, ist nichtig. „Nichtigkeit“ holt jene moralische Rhetorik („du hast dich committed“, „du musst durchziehen“) in eine Rechtsrealität zurück, in der nicht Commitment zählt, sondern die Wirksamkeit eines Vertrages.
Wie konkret diese Rechtsfigur inzwischen in den Coachingmarkt hineinwirkt, zeigt das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Juni 2025 (III ZR 109/24). Es ging um ein hochpreisiges, neunmonatiges Online-Programm („Business-Mentoring“) mit einem Gesamtvolumen von rund 47.600 Euro; die Anbieterin verfügte über keine Zulassung nach § 12 FernUSG. Der BGH bestätigte, dass solche Programme bei Vorliegen der gesetzlichen Merkmale als Fernunterricht einzuordnen sind, selbst wenn sie als „Mentoring“ etikettiert werden. Besonders schmerzhaft für die Branche: Der BGH betonte, dass das FernUSG nicht nur Verbraucher schützt, sondern auch auf Unternehmer anwendbar sein kann. Damit wird die gängige Marktfolklore („B2B, also kein Verbraucherschutz“) deutlich relativiert. Die berühmte Checkout-Checkbox „Ich handle als Unternehmer“ erscheint dann nicht als saubere Einordnung, sondern als Versuch, sich per Selbstzuschreibung aus einer Schutzlogik herauszudefinieren, die gerade strukturell ansetzt (BGH, 2025; Verbraucherzentrale Sachsen, 2025; Legal Tribune Online, 2025).
Nicht jedes Online-Format ist Fernunterricht – reine Live-Seminare ohne Aufzeichnung oder Selbstlernkurse ohne individuelle Lernerfolgskontrolle fallen nicht zwingend in den FernUSG-Bereich. Aber diese Differenzierung ist für unsere Fundamentalkritik ein Gewinn, weil sie zeigt, dass das Recht genau an der Stelle ansetzt, die wir zuvor kulturkritisch beschrieben haben: dort, wo Programme nicht mehr bloß Inspiration oder Begleitung sind, sondern auf Dauer angelegte, strukturierte Lehrverhältnisse, die zugleich mit psychologischer Intimität und moralischem Druck verkauft werden. Das FernUSG zwingt den Markt, sich zu entscheiden: Entweder man verkauft tatsächlich Gesprächsbegleitung – dann muss man strukturell Abstand von curricularer Unterrichtsform halten. Oder man verkauft faktisch Unterricht – dann muss man sich den Regeln stellen, die für Unterricht gelten. Der Therapieschattenmarkt lebt von der gleichzeitigen Behauptung beider Seiten: „Wir sind kein Unterricht“ und „Wir liefern dir ein Programm, das dein Leben systematisch verändert“. Genau diese Doppelstrategie wird juristisch fragil, sobald jemand nicht mehr fragt, wie es heißt, sondern wie es gebaut ist. Man könnte es psychoanalytisch formulieren: Das Recht spielt in der Öffentlichkeit die Rolle, die das Realitätsprinzip in der Psyche spielt. Es ist nicht „gegen“ Wunsch, aber es verhindert, dass Wunschdenken allein die Rechnung schreibt.
Schluss mit Kriterien statt Empörung
Wer bis hierher gelesen hat, könnte versucht sein, einen Schlussstrich zu ziehen: „Dann ist Coaching eben gefährlich, fertig.“ Das wäre die falsche Konsequenz, und sie wäre auch die bequemste. Sie würde denjenigen helfen, die man kritisiert. Denn der Therapieschattenmarkt lebt nicht nur von naiven Konsument:innen, er lebt auch von plumpen Gegenreaktionen. Nichts stabilisiert eine Szene so sehr wie der Eindruck, sie werde von „Neidern“ oder „alten Systemen“ angegriffen. Eine moralische Empörung, die sich in Verachtung erschöpft, ist darum nicht nur unproduktiv – sie ist ein Geschenk an das Immunisierungs-System, das wir beschrieben haben.
Wenn dieser Essay etwas leisten soll, dann nicht Empörung, sondern Orientierung. Nicht die Pose der Überlegenheit, sondern ein Set von Kriterien, mit denen ein Publikum – und auch Betroffene in Krisen – unterscheiden kann: Wo ist seriöse Begleitung, wo beginnt der Therapieschattenmarkt? Was ist vielleicht hilfreich, was ist strukturell riskant? Und vor allem: Wie kann man sich in einer Kultur, die mit psychologischer Sprache und digitaler Nähe operiert, ein Stück Urteilskraft zurückholen, ohne zynisch zu werden? Ich möchte deshalb in diesem Schlusskapitel vier Dinge tun: Kriterien formulieren, die sich aus der bisherigen Analyse zwingend ergeben; Warnsignale nennen, die man im Alltag erkennen kann; fragen, was eine ernst gemeinte Kritik leisten sollte und was nicht; und eine psychoanalytische Pointe setzen – eine Frage nach Begehren und nach Macht, nicht als moralische Selbstgeißelung, sondern als Mittel gegen Verführung.
Was seriöse Begleitung auszeichnet: Minimalstandards, die nicht verhandelbar sein sollten
Man kann sich über Methoden streiten. Man kann sich über Schulen streiten. Man kann sich darüber streiten, ob Coaching überhaupt nötig ist. Doch es gibt ein paar Standards, die nicht davon abhängen, ob jemand „gute Energie“ hat oder ob ein Programm „sich richtig anfühlt“. Diese Standards betreffen nicht den Stil, sondern die Struktur. Und Struktur ist, wie wir gesehen haben, der Kern der Kritik.
Der erste Standard ist Begrenzung. Seriöse Begleitung ist nicht Allzuständigkeit. Sie benennt ihren Gegenstand: Was genau wird bearbeitet, in welchem Rahmen, mit welchem Ziel, und was ausdrücklich nicht. Diese Begrenzung ist nicht das Gegenteil von Tiefgang, sie ist seine Voraussetzung. Wer alles verspricht, kann nichts verantworten. Und wer bei therapienahen Themen arbeitet, muss umso klarer sagen, was er kann und was nicht. Damit hängt ein zweiter Standard zusammen: Indikationsbewusstsein und Referral-Kultur. In professionellen Hilfefeldern gehört es zur Ethik, zu erkennen, wann man nicht zuständig ist – und wann ein Referral nötig wird. Dass selbst Coachingverbände wie die ICF Referral-Guidelines veröffentlichen, zeigt, dass das Problem bekannt ist: Klient:innen bringen therapienahe Notlagen mit, und Coaches müssen wissen, was sie damit tun (International Coaching Federation, 2024). Wer mit „Trauma“, „Depression“, „Angst“ arbeitet, ohne diagnostische Kompetenz und ohne Verweislogik, arbeitet nicht „mutig“, sondern riskant.
Ein dritter Standard ist Transparenz. Nicht als moralisches Schlagwort, sondern als konkrete Praxis: Preis, Leistungsumfang, Laufzeit, Kündigungsbedingungen, Widerruf, was genau geliefert wird. Wenn Informationen erst im Checkout erscheinen oder in AGB versteckt sind, ist das kein Stilproblem, sondern ein Vertrauensproblem. O’Neill hat Vertrauenswürdigkeit mit Transparenz und überprüfbarer Verantwortung verknüpft (O’Neill, 2002). In einem Feld, das von Vertrauensgütern lebt (Darby & Karni, 1973), ist Transparenz nicht optional. Der vierte Standard ist kein Druck. Bedenkzeit ist kein Defekt, sondern eine Form der Autonomie. Wer „Nachdenken“ pathologisiert, hat ein Interesse daran, dass du nicht nachdenkst. Wer dir erzählt, dass ein guter Entscheid „im Körper“ sofort klar sei, tut so, als sei Ambivalenz ein psychologischer Fehler. Psychoanalytisch ist das das Gegenteil von Entwicklung, weil Entwicklung Ambivalenzfähigkeit braucht. Marketingpsychologisch ist es schlicht Konversionstechnik (Cialdini, 2007). Seriöse Begleitung kann motivieren, aber sie darf nicht überwältigen.
Ein fünfter Standard ist keine moralische Schuldumlenkung. Wenn etwas nicht funktioniert, muss die Möglichkeit offen bleiben, dass das Angebot unpassend war, dass die Methode begrenzt ist, dass der Rahmen falsch gewählt wurde. In der Nebenwirkungsforschung ist gerade dieser Punkt entscheidend: negative Effekte sind möglich, und sie müssen als solche erkannt werden (Schermuly & Graßmann, 2019). Wer Misserfolg systematisch in „du hast nicht umgesetzt“ übersetzt, immunisiert nicht nur sein Produkt; er erzeugt Scham. Und Scham ist kein Motor für Entwicklung, sondern ein Motor für Bindung. Ein sechster Standard ist professionelle Reflexionsinfrastruktur. In helfenden Berufen ist Supervision nicht Luxus, sondern Qualitätsbedingung. Die Coachingliteratur selbst betont Supervision als professionell relevanten Faktor (Bachkirova et al., 2020). Wer mit Menschen arbeitet, die in Krisen sind, braucht einen Raum, in dem er eigene Gegenreaktionen, Grenzen, Macht und mögliche Fehlleistungen reflektieren kann. Wer glaubt, das nicht zu brauchen, hat bereits ein Problem – nicht weil er böse wäre, sondern weil er den Kern des Helferberufs nicht verstanden hat: dass man selbst Teil des Geschehens ist. Diese Minimalstandards sind nicht die Garantie für gute Hilfe. Aber ihre Abwesenheit ist ein starkes Indiz für Schattenmarktlogik. Es ist wie bei Architektur: Man kann verschiedene Baustile mögen; aber wenn ein Haus keine tragenden Wände hat, ist es egal, wie schön es gestrichen ist.
Warnsignale, die man im Alltag erkennen kann
Viele Menschen, die sich in der Grauzone wiederfinden, sind nicht „naiv“. Sie sind erschöpft, allein, unter Druck, im Übergang. Die Warnsignale müssen deshalb so formuliert sein, dass sie auch in einem solchen Zustand erkennbar sind. Und sie müssen nicht moralisch sein. Sie müssen praktisch sein.
Ein erstes Warnsignal ist die Entwertung von Bedenkzeit. Sobald ein Angebot den Satz „Ich will darüber nachdenken“ nicht respektiert, sondern umdeutet – als „Widerstand“, „Mindset-Problem“, „du bist nicht ready“ –, sollte man hellhörig werden. Ein zweites Warnsignal ist moralischer Abschlussdruck: Wenn Kauf als Selbstwerttest gerahmt wird („du bist es dir wert“, „Investition in dich selbst“), wird die Sachebene verlassen. Das ist ein typischer Double Bind: Wer nicht kauft, verliert im Frame des Angebots Selbstachtung. Das ist keine Hilfe, das ist psychischer Druck. Ein drittes Warnsignal ist therapeutische Sprache ohne therapeutische Verantwortung. Wenn jemand mit „Trauma“, „Depression“, „Nervensystem“, „Bindung“ wirbt, aber weder Qualifikation noch klare Grenzen noch Referral-Praxis benennt, ist das strukturell riskant. Es bedeutet nicht, dass die Person „nichts kann“. Es bedeutet, dass sie sich in einem Feld bewegt, dessen Risiken sie möglicherweise unterschätzt. Kapitel 10 hat gezeigt, wie Kompetenzüberschätzung gerade dort wahrscheinlicher wird, wo Metakorrektur fehlt (Kruger & Dunning, 1999; Walfish et al., 2012).
Ein viertes Warnsignal ist Intransparenz bei Preis und Vertrag: Wenn du den Preis nicht klar findest, wenn du AGB erst im Checkout siehst, wenn Unternehmer-Checkboxen oder Widerrufsverzicht-Frames auftauchen, dann ist das zumindest ein Hinweis, dass hier nicht Hilfe, sondern Konversion priorisiert wird. Ein fünftes Warnsignal ist die Ideologie der Allmacht. Wenn ein Angebot suggeriert, dass materielle Realität, Körper, soziale Lage, Krankheit, Endlichkeit durch Willenskraft überschrieben werden können, dann ist das nicht Empowerment, sondern magischer Voluntarismus – eine Regression, die Hoffnung verkauft, aber Realitätsprinzip untergräbt. Mark Fisher hat beschrieben, wie solche Ideologien strukturelle Belastungen privatisieren und damit Systeme entlasten (Fisher, 2009). Wer dir sagt, alles sei Mindset, sagt damit auch: Die Welt ist nicht das Problem. Du bist es. Das ist eine gefährliche Botschaft für Menschen in Krisen. Ein sechstes Warnsignal ist Immunisierung gegen Kritik. Wenn Kritik systematisch als Neid, „low vibe“, Opferrolle oder „noch nicht bereit“ umcodiert wird, ist das ein Hinweis, dass das System nicht lernfähig, sondern geschlossen ist. Wer seriös arbeitet, muss Kritik nicht lieben – aber er muss sie als Information ernst nehmen können. Wer sie pathologisiert, schützt nicht dich, sondern sich.
Man könnte diese Warnsignale als „Verbrauchercheckliste“ lesen. Aber das wäre zu klein gedacht. Es geht nicht nur um Konsum, sondern um Subjektivität. Der Therapieschattenmarkt ist gefährlich, weil er die Selbstdeutung formatiert. Er verändert, wie du deine Zweifel interpretierst, wie du Grenzen erlebst, wie du dich selbst moralisch beurteilst. Er verkauft nicht nur Inhalte, er verkauft Deutungsrahmen. Und Deutungsrahmen sind mächtig. Hier liegt auch der Grund, warum gebildete Menschen keineswegs immun sind – manchmal sogar besonders anfällig. Die Szene bietet eine Form von Semantik, die gebildete Skepsis umgeht: Theoriebrösel wie „Nervensystem“ oder „wissenschaftlich erklärt“ ohne wissenschaftliche Verpflichtung; kulturelle Codes wie Minimalismus und Authentizität ohne ethische Rahmung; eine Sprache, die profund klingt, ohne überprüfbar zu sein. Pennycook und Kolleg:innen haben gezeigt, dass „pseudo-profound bullshit“ durchaus als profund erlebt werden kann; die Anfälligkeit hängt nicht nur von Intelligenz ab, sondern von der Bereitschaft, Sätze als tief zu akzeptieren, weil sie tief klingen (Pennycook et al., 2015). Wer gebildet ist, ist nicht immun gegen Bedeutungsästhetik. Er ist manchmal sogar besonders anfällig, weil er gelernt hat, dass Worte Gewicht haben.
Was eine ernst gemeinte Kritik leisten sollte – und was nicht
Die Kritik am Therapieschattenmarkt darf nicht zum Standesreflex werden. Sie darf nicht lauten: „Nur Psychotherapeuten dürfen über Psyche sprechen.“ Erstens wäre das faktisch falsch – es gibt viele Formen sinnvoller Begleitung jenseits der Psychotherapie. Zweitens wäre es politisch unerquicklich, weil es nach Monopolschutz riecht. Und drittens wäre es strategisch klug für die Szene, weil sie dann wieder das Hater-Narrativ bedienen könnte: „Die wollen nur ihr System schützen.“ Eine ernst gemeinte Kritik muss anders formuliert sein. Sie muss sagen: Wenn du therapienahe Themen bearbeitest, brauchst du therapienahe Verantwortung. Wenn du mit vulnerablen Menschen arbeitest, brauchst du Strukturen, die nicht nur Wirkung, sondern Nebenwirkung reflektieren. Wenn du vom Subjekt sprichst, darfst du seine Autonomie nicht in moralische Fallen treiben.
Insofern ist der Therapieschattenmarkt nicht nur ein Problem „unseriöser Anbieter“, sondern ein Problem einer Kultur, die Hilfe marktförmig organisiert. Illouz hat beschrieben, wie therapeutische Sprache in moderne Kultur eingewoben ist und Vulnerabilität selbst kultivieren kann (Illouz, 2008). Furedi hat gezeigt, wie eine „therapy culture“ Fragilität normalisiert (Furedi, 2004). Nikolas Rose hat analysiert, wie psychologische Diskurse in Regierungsformen des Selbst einfließen – das Subjekt wird zum Unternehmer seiner selbst, verantwortlich für sein eigenes Wohlbefinden, schuldig an seinem eigenen Scheitern (Rose, 1999). In dieser Kultur ist Coaching nicht nur ein Angebot, sondern eine Logik: Der Mensch soll sich permanent optimieren, und wer scheitert, ist schuld. Diese kulturelle Ebene ist wichtig, weil sie uns davor schützt, das Problem zu individualisieren. Der Therapieschattenmarkt ist nicht einfach „Betrug“. Er ist eine zeitgenössische Antwort auf reale Lücken und reale Sehnsüchte – aber eine Antwort, die in ihrer Struktur riskant ist. Die Lücken sind real: Das Gesundheitssystem hat Wartezeiten, die Menschen in Krisen nicht auffangen; die Arbeitswelt produziert Erschöpfung, die niemand behandelt; die Kultur verspricht Selbstverwirklichung, ohne die Mittel dafür bereitzustellen. Gerade deshalb genügt es nicht, „ein paar Coaches“ zu kritisieren. Man muss das Bedürfnis ernst nehmen, das sie bedienen. Und man muss zeigen, wie dieses Bedürfnis in ein System übersetzt wird, das Verantwortung verdünnt.
Die psychoanalytische Pointe: Wer verdient an meinem Begehren?
Am Ende steht eine Frage, die psychoanalytisch ist, ohne in Theorie zu fliehen. Wenn ich in Not bin, will ich nicht nur Hilfe, ich will Erlösung. Ich will, dass jemand mir sagt, was richtig ist. Ich will, dass Ambivalenz verschwindet. Ich will, dass die Welt weniger kompliziert ist. Das ist zutiefst menschlich. Und genau deshalb ist es gefährlich. Psychoanalyse hat nie behauptet, dass diese Wünsche falsch sind. Sie hat nur gezeigt, dass sie machtvoll sind – und dass sie sich an Objekte hängen können. Übertragung ist, in ihrer tiefsten Form, das Begehren nach einem wissenden Anderen. In Kapitel 8 haben wir gesehen, wie der Therapieschattenmarkt diese Dynamik nutzt: Der Coach wird zur idealisierten Instanz, die nicht versagen kann, die immer weiß, was richtig ist, die Zweifel als Schwäche deutet. Das ist nicht nur Marketing – es ist eine psychische Struktur, die auf beiden Seiten wirkt.
Der Therapieschattenmarkt verkauft dieses Begehren. Er verkauft dir nicht nur ein Programm, er verkauft dir die Figur, die du in deinem Inneren suchst: ein Ideal, ein Halt, ein Gesetz, ein Versprechen. Die Frage „Wer verdient an meinem Begehren?“ ist deshalb kein moralischer Vorwurf, sondern eine Schutzfrage. Sie bedeutet: In welcher Struktur wird mein Wunsch nach Halt organisiert? Wird er in einer Beziehung gehalten, die Grenzen kennt, die sich verantworten muss, die Zweifel zulässt? Oder wird er in einer Maschine organisiert, die Zweifel pathologisiert, Grenzen moralisiert, Kritik immunisiert und am Ende meine Hoffnung als Treibstoff nutzt? Wenn man diese Frage stellt, wird der Therapieschattenmarkt weniger verführerisch. Nicht, weil man zynisch wird, sondern weil man erwachsener wird. Man erkennt, dass Hilfe nicht dort beginnt, wo man „sich endlich wert ist“, sondern dort, wo man sich nicht mehr überwältigen lassen muss.
Es wäre leicht, diesen Essay mit einem Aufruf zur Regulierung zu beenden. Regulierung ist relevant, das haben wir in Kapitel 12 gesehen. Aber Regulierung ist langsam, und Märkte sind schnell. Die wichtigste Form von Schutz ist daher nicht nur Gesetz, sondern Urteilskraft. Urteilskraft bedeutet nicht, allem zu misstrauen. Sie bedeutet, die richtigen Fragen zu stellen: Wer ist hier wem rechenschaftspflichtig? Welche Grenzen werden benannt? Was passiert, wenn etwas schiefgeht? Und: Warum will ich gerade jetzt so dringend, dass jemand mir sagt, was richtig ist? Diese Fragen schützen nicht vor allem. Aber sie schützen vor dem Schlimmsten: vor der Verwechslung von Sehnsucht mit Lösung, von Aura mit Kompetenz, von Versprechen mit Verantwortung. Wenn ich einen Satz als Schluss stehen lassen müsste, wäre es dieser: Hilfe ohne Verantwortung ist keine Hilfe, sondern ein Angebot – und jedes Angebot, das deine Autonomie angreift, verdient deine Bedenkzeit.
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Fiktive Debatte
/topic/ Wie Lisa Berger in den Therapieschattenmarkt gerät – und wieder herausfindet
/scene/ Eine Fallgeschichte in neun Stationen. Lisa Berger, 34, Projektmanagerin in München, erschöpft und auf der Suche nach „mehr“, gerät in den Sog eines hochpreisigen Online-Coaching-Programms. Die Namen sind fiktiv, die Mechanismen nicht.
/note/ I. Der Feed
/note/ Es ist ein Sonntagabend im März, kurz nach 22 Uhr, als Lisa Berger zum ersten Mal auf Marie Sommer stößt. Lisa liegt auf dem Sofa ihrer Zweizimmerwohnung in München-Sendling, das Handy in der Hand, den Fernseher stumm im Hintergrund. Sie scrollt durch Instagram, ohne etwas zu suchen – jene Art von Scrollen, die keine Information will, sondern Betäubung. Draußen regnet es. Die Reste eines Fertiggerichts stehen auf dem Couchtisch. Es ist einer dieser Abende, an denen Lisa sich fragt, ob das jetzt ihr Leben ist.
/note/ Lisa ist 34, Projektmanagerin in einer mittelgroßen Digitalagentur, seit drei Jahren Single, seit einem Jahr in einem Zustand, den sie selbst nicht recht benennen kann. Nicht depressiv – sie funktioniert ja. Sie steht morgens auf, sie duscht, sie geht zur Arbeit, sie liefert ihre Projekte ab, sie bekommt gute Bewertungen. Nicht unglücklich – es gibt ja keinen konkreten Grund. Sie hat eine Wohnung, einen Job, Freundinnen, mit denen sie manchmal brunchen geht. Aber auch nicht lebendig. Eher wie unter einer Glasglocke, durch die alles gedämpft ankommt: Freude, Ärger, Hoffnung, sogar Trauer. Alles ist irgendwie beige.
/note/ Ihre Hausärztin hat ihr im Januar Antidepressiva angeboten, nachdem Lisa bei einer Routineuntersuchung erwähnt hat, dass sie „irgendwie erschöpft“ sei. Lisa hat abgelehnt. „Ich bin nicht krank“, hat sie gesagt, fast empört. „Ich bin nur müde. Das ist normal. Alle sind müde.“ Die Ärztin hat genickt, ein Rezept für Vitamin D ausgestellt und gesagt: „Melden Sie sich, wenn es schlimmer wird.“ Lisa hat sich nicht gemeldet.
/note/ Das Reel, das der Algorithmus ihr an diesem Abend zuspielt, dauert 47 Sekunden. Eine Frau Anfang vierzig, warme Stimme, direkter Blick in die Kamera. Nicht perfekt gestylt, aber gepflegt – das Haar leicht gewellt, ein schlichtes schwarzes Oberteil, minimaler Schmuck. Der Hintergrund ist sorgfältig arrangiert: weiße Wand, eine große Monstera in einem Terrakotta-Topf, gedimmtes Licht, das von irgendwo seitlich kommt. Es sieht aus wie eine Mischung aus Wohnzimmer und Therapiepraxis. Die Frau spricht ohne Schnitte, ohne „Ähms“, ohne den Blick von der Kamera zu nehmen.
Marie Sommer (Coachin, im Reel): Du funktionierst. Du machst deinen Job, du hältst dein Leben zusammen, du lächelst, wenn man dich fragt, wie es dir geht. Du sagst „gut, danke“ und meinst es fast. Aber abends, wenn du allein bist, wenn die Ablenkung wegfällt, dann fragst du dich: Ist das alles? Ist das wirklich mein Leben? Ist das alles, wofür ich hier bin?
/same/ Und dann schämst du dich für die Frage. Weil du ja weißt, wie privilegiert du bist. Weil andere es so viel schwerer haben. Weil du dankbar sein solltest. Also schiebst du die Frage weg, machst Netflix an, scrollst noch eine Stunde, und am nächsten Morgen funktionierst du wieder.
/same/ Aber die Frage geht nicht weg. Und diese leise Stimme in dir, die sagt, dass da mehr sein muss – die hat recht. Sie ist nicht undankbar. Sie ist nicht verrückt. Sie ist der gesündeste Teil von dir. Die Frage ist nur: Hörst du ihr zu? Oder lässt du sie noch ein Jahr warten? Noch fünf? Noch zehn?
/note/ Lisa starrt auf den Bildschirm. Ihr Herz schlägt schneller. Sie schaut das Reel noch einmal. Dann noch einmal. Bei der dritten Wiederholung merkt sie, dass ihre Augen feucht sind. Es ist, als hätte diese Frau – diese Fremde – direkt in sie hineingeschaut. Als hätte sie die Worte gefunden für etwas, das Lisa seit Monaten fühlt, aber nicht aussprechen kann.
/note/ Sie klickt auf das Profil: @marie.sommer.mentoring. 47.000 Follower. In der Bio steht: „Mentorin für Frauen, die mehr vom Leben wollen. Nervensystem-Expertin. Ex-Burnout-Überlebende. DM für Infos.“
/note/ Lisa scrollt durch den Feed. Reels, Karussell-Posts, Zitate auf pastellfarbenen Hintergründen. „Dein Körper hält die Wahrheit, die dein Verstand noch nicht hören will.“ „Heilung ist kein Ziel, sondern ein Weg.“ „Du bist nicht kaputt. Du bist nur noch nicht zu Hause angekommen.“ Jeder Satz klingt, als wäre er für sie geschrieben.
/note/ Lisa drückt auf „Folgen“.
/note/ In dieser Nacht schläft sie schlecht. Sie träumt wirr, wacht mehrmals auf, greift nach dem Handy. Um 3 Uhr morgens schaut sie das Reel noch einmal. Die Worte hallen nach: „Diese leise Stimme in dir – die hat recht.“
/note/ II. Die parasoziale Bindung
/note/ In den folgenden Wochen wird Marie Sommer zu einer festen Größe in Lisas Alltag. Es beginnt morgens, noch vor dem Aufstehen: Lisa greift zum Handy, öffnet Instagram, schaut Maries Stories. Das ist jetzt ihr Ritual, noch bevor sie aufsteht, noch bevor sie Kaffee macht.
/note/ Marie beim Journaling, in eine beige Decke gehüllt, eine Kerze im Hintergrund. Marie mit einer Tasse Tee am Fenster, dazu ein Textfeld: „Reminder: Du darfst langsam machen.“ Marie auf einem Spaziergang im Park, die Kamera auf ihr Gesicht gerichtet, während sie spricht. Marie in ihrer Küche, die einen grünen Smoothie macht und dabei erklärt, warum „Selbstfürsorge kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit“ ist.
Marie Sommer (Coachin, in einer Story): Ich wollte euch heute etwas mitgeben. Ich hab letzte Nacht schlecht geschlafen. Alte Sachen kamen hoch. Und früher hätte ich mich dafür verurteilt. Hätte gedacht: Was stimmt nicht mit mir? Warum kann ich nicht einfach funktionieren wie alle anderen?
/same/ Aber heute weiß ich: Das ist mein System, das verarbeitet. Das ist Heilung. Es sieht nicht immer schön aus. Es fühlt sich nicht immer gut an. Aber es ist real. Und real ist besser als perfekt.
/note/ Lisa nickt, während sie zusieht. Sie kennt das. Dieses Gefühl, dass nachts alles hochkommt. Dass der Schlaf keine Erholung ist, sondern Arbeit. Dass man morgens aufwacht und sich müder fühlt als am Abend zuvor.
/note/ Zweimal pro Woche kommt ein neues Reel. Immer mit diesem Blick, der durch den Bildschirm hindurch zu gehen scheint. Immer mit Sätzen, die Lisa das Gefühl geben, persönlich gemeint zu sein. „Wenn du das hier siehst, ist das kein Zufall.“ „Dein Algorithmus zeigt dir, was du brauchst.“ „Diese Nachricht ist für die Frau, die gerade überlegt, ob sie genug ist. Du bist es. Du warst es immer.“
/note/ Lisa kommentiert nicht. Sie schreibt keine DMs. Sie ist nur da, unsichtbar, eine von Tausenden, die zuschauen. Aber etwas verändert sich in ihr. Langsam, unmerklich, wie ein Farbton, der sich verschiebt.
/note/ Sie beginnt, die Welt durch Maries Vokabular zu sehen. Nach einem anstrengenden Meeting, bei dem ihr Chef sie vor dem Team kritisiert hat, denkt sie nicht mehr: „Das war unfair“ oder „Ich bin wütend.“ Sie denkt: „Mein Nervensystem ist dysreguliert. Ich bin im Kampf-oder-Flucht-Modus.“
/note/ Als sie am Wochenende keine Energie hat, ihre Wohnung aufzuräumen, denkt sie nicht: „Ich bin faul“ oder „Ich sollte mich zusammenreißen.“ Sie denkt: „Ich bin im Freeze. Mein System schützt sich.“
/note/ Wenn ein Date enttäuschend verläuft – der Mann redet nur von sich, fragt nichts, schaut auf sein Handy – denkt sie nicht: „Er ist ein Idiot“ oder „Ich habe Pech mit Männern.“ Sie denkt: „Das sind meine Bindungsmuster. Ich ziehe immer die Falschen an, weil ich unbewusst das Bekannte suche.“
/note/ Die Begriffe fühlen sich an wie Erklärungen. Wie Landkarten für ein Terrain, das Lisa immer gespürt, aber nie verstanden hat. Sie weiß nicht, dass diese Worte aus dem klinischen Vokabular stammen – aus der Traumatherapie, der Polyvagal-Theorie, der Bindungsforschung. Sie weiß nicht, dass „Nervensystem-Regulation“ ein komplexes Konzept ist, das in der Fachliteratur differenziert diskutiert wird, und nicht etwas, das man durch Instagram-Reels lernen kann. Für Lisa sind es einfach Maries Worte. Und Marie scheint zu wissen, wovon sie spricht.
/note/ Im April postet Marie ein längeres Video, fast zwanzig Minuten. Es ist anders als die Reels – intimer, langsamer. Marie sitzt in einem Sessel, die Beine angezogen, eine Tasse in der Hand. Sie trägt kein Make-up, ihre Haare sind zu einem lockeren Knoten gebunden. Sie wirkt verletzlich. Echt. Wie eine Freundin, die sich öffnet.
Marie Sommer (Coachin, im Video): Ich möchte euch heute etwas erzählen, das ich lange nicht öffentlich geteilt habe. Meine Geschichte. Wer ich war, bevor ich wurde, wer ich heute bin. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Aber ich glaube, es ist wichtig. Weil ich will, dass ihr wisst: Ich war da, wo ihr seid. Ich kenne diesen Ort.
/same/ Vor zehn Jahren war ich genau da, wo viele von euch jetzt sind. Ich habe in einer Agentur gearbeitet, ähnlich wie viele von euch. Projektmanagement, Kundenkontakt, Deadlines. Sechzig-Stunden-Wochen waren normal. Ich war stolz darauf. Ich dachte, das zeigt, wie engagiert ich bin, wie professionell. Ich habe mich über meine Arbeit definiert. Ich war „die, die alles schafft“. Die, auf die man sich verlassen kann.
/same/ Und dann bin ich zusammengebrochen. Nicht metaphorisch. Wörtlich. Ich stand eines Morgens auf, wollte zur Arbeit, und mein Körper hat einfach nein gesagt. Ich konnte nicht aufstehen. Meine Beine haben nicht gehorcht. Ich lag da und habe geweint, stundenlang, und ich wusste nicht mal, warum. Ich habe nur gespürt: Es geht nicht mehr. Es geht einfach nicht mehr.
/same/ Die Ärzte haben Burnout diagnostiziert. Depression. Angststörung. Sie haben mir Medikamente gegeben. Ich habe sie genommen. Sie haben geholfen, ein bisschen, für eine Weile. Aber ich wusste: Das ist nicht die Lösung. Das ist ein Pflaster auf einer Wunde, die viel tiefer geht.
/same/ Was dann kam, war die härteste Zeit meines Lebens. Ich nenne es meine dunkle Nacht der Seele. Alles, was ich für sicher gehalten hatte – meine Identität, mein Selbstbild, meine Beziehungen, mein ganzes Lebenskonstrukt – ist zerbrochen. Ich musste ganz von vorne anfangen. Ich musste lernen, wer ich wirklich bin, unter all den Schichten von Anpassung und Funktionieren und Gefallen-Wollen.
/same/ Und wisst ihr was? Es war das Beste, was mir je passiert ist. Weil ich auf der anderen Seite als transformierte Frau herausgekommen bin. Ich habe mich selbst gefunden. Ich habe gelernt, auf meinen Körper zu hören, auf mein Nervensystem, auf meine Intuition. Ich habe gelernt, Grenzen zu setzen. Ich habe gelernt, mich an die erste Stelle zu setzen. Und jetzt – jetzt begleite ich andere Frauen auf diesem Weg. Weil ich weiß, wie es sich anfühlt. Weil ich da war. Und weil ich weiß, dass es einen Weg raus gibt.
/note/ Lisa weint, während sie zusieht. Richtig weint, mit Schluchzen und Rotz und allem. Es ist das erste Mal seit Monaten, dass sie überhaupt weint. Sie hat gedacht, sie könnte gar nicht mehr weinen. Dass dieser Teil von ihr abgestorben ist. Aber hier ist er, lebendig, ausgelöst durch eine Frau auf einem Bildschirm, die sie nie getroffen hat.
/note/ Sie speichert das Video. Sie schaut es in den nächsten Tagen noch dreimal an. Jedes Mal weint sie. Jedes Mal fühlt sie sich danach seltsam erleichtert, als hätte sie etwas losgelassen, von dem sie nicht wusste, dass sie es festhielt.
/note/ Sie beginnt, Marie als etwas wie eine Mentorin zu sehen. Nein, mehr als das. Als eine Freundin, die sie noch nicht persönlich kennt. Als jemanden, der sie versteht, ohne sie zu kennen. Als jemanden, der den Weg schon gegangen ist und jetzt die Hand zurückreicht.
/note/ III. Der Funnel
/note/ Anfang Mai erscheint in Maries Story ein neuer Hinweis. Ein pastellrosa Hintergrund, weiße Schrift: „Ich habe etwas für dich. 🎁 Ein kostenloses PDF: 5 Fragen, die dir zeigen, ob du bereit bist für echte Veränderung. Kein Bullshit, nur Ehrlichkeit. Link in Bio.“
/note/ Lisa zögert einen Moment. Sie hat noch nie auf solche Links geklickt. Sie weiß, dass das Marketing ist, dass ihre E-Mail-Adresse dann in irgendeiner Datenbank landet, dass danach wahrscheinlich Newsletter kommen werden. Normalerweise ignoriert sie solche Angebote. Aber diesmal fühlt es sich anders an. Es ist ja Marie. Marie, die sie mittlerweile fast wie eine Freundin empfindet. Marie, die so ehrlich ist, so echt, so anders als all die anderen Influencerinnen mit ihren perfekten Leben.
/note/ Sie klickt.
/note/ Die Landingpage ist schlicht und elegant. Ein Foto von Marie, lächelnd, zugänglich, die Arme leicht geöffnet. Darunter ein Text: „Diese 5 Fragen haben mein Leben verändert. Sie haben mir gezeigt, wo ich stand – und wo ich hinwollte. Jetzt schenke ich sie dir. Trag deine E-Mail ein und ich schicke dir das PDF sofort.“ Ein Eingabefeld. Ein Button: „Ja, ich bin bereit.“
/note/ Lisa tippt ihre Adresse ein. Sie klickt auf den Button.
/note/ Das PDF kommt innerhalb von Sekunden. Es ist hübsch gestaltet, zwölf Seiten, mit Fotos und Zitaten und viel Weißraum. Es sieht professionell aus, aber nicht kalt. Eher wie ein Brief von einer Freundin, der zufällig sehr gut designed ist.
/note/ Die Fragen sind: Was würdest du tun, wenn Angst keine Rolle spielen würde? Welche Version von dir wartet darauf, gelebt zu werden? Was tolerierst du in deinem Leben, das du eigentlich nicht mehr tolerieren willst? Wenn du in fünf Jahren zurückschaust – was würdest du bereuen, nicht getan zu haben? Was wäre möglich, wenn du aufhören würdest, dich selbst kleinzuhalten?
/note/ Lisa setzt sich an ihren Küchentisch. Es ist Samstagvormittag, sie hat Zeit, sie hat sich einen Kaffee gemacht. Sie nimmt einen Stift und beginnt zu schreiben. Erst zögerlich, dann immer schneller. Die Worte fließen aus ihr heraus, als hätten sie nur auf diese Fragen gewartet.
/note/ Was würdest du tun, wenn Angst keine Rolle spielen würde? „Ich würde kündigen. Ich würde etwas ganz anderes machen. Ich weiß noch nicht was, aber etwas, das sich sinnvoll anfühlt. Etwas, das mehr ist als Projektpläne und Deadlines und Meetings über Meetings.“
/note/ Welche Version von dir wartet darauf, gelebt zu werden? „Eine Lisa, die morgens aufwacht und sich auf den Tag freut. Eine Lisa, die weiß, was sie will. Eine Lisa, die nicht mehr ständig müde ist.“
/note/ Was tolerierst du in deinem Leben, das du eigentlich nicht mehr tolerieren willst? „Meinen Job. Die Einsamkeit. Das Gefühl, dass ich immer allen gefallen muss. Dass ich nie gut genug bin, egal was ich tue.“
/note/ Wenn du in fünf Jahren zurückschaust – was würdest du bereuen, nicht getan zu haben? „Alles. Ich würde bereuen, dass ich immer nur gewartet habe. Auf den richtigen Moment, auf den richtigen Mann, auf den richtigen Job. Auf irgendeine äußere Erlaubnis, endlich zu leben.“
/note/ Was wäre möglich, wenn du aufhören würdest, dich selbst kleinzuhalten? „Alles. Alles wäre möglich.“
/note/ Als sie fertig ist, sitzt sie da und starrt auf die beschriebenen Seiten. Sie fühlt sich seltsam aufgewühlt – als hätte sie etwas zugegeben, das sie bisher vor sich selbst versteckt hat. Als hätte sie einen Brief an sich selbst geschrieben, den sie eigentlich nicht lesen wollte.
/note/ Sie schließt das PDF. Sie trinkt ihren kalten Kaffee. Sie denkt: Das war intensiv.
/note/ Drei Tage später kommt die erste E-Mail. Betreff: „Lisa, eine Frage…“
Marie Sommer (Coachin, per E-Mail): Hey Lisa, ich hoffe, die 5 Fragen haben etwas in dir bewegt. Bei mir haben sie damals alles verändert. Ich erinnere mich noch, wie ich sie zum ersten Mal beantwortet habe – allein in meiner Wohnung, mitten in meiner dunklen Nacht der Seele – und wie ich danach wusste: So kann es nicht weitergehen. Etwas muss sich ändern. Und dieses Etwas muss ich sein.
/same/ Ich wollte dir kurz schreiben, weil ich nächste Woche etwas Besonderes mache. Ein kostenloses Live-Webinar: „Raus aus dem Funktionieren, rein ins Leben.“ 90 Minuten, nur du und ich (und ein paar andere mutige Frauen). Ich werde über die drei größten Blockaden sprechen, die Frauen davon abhalten, ihr volles Potenzial zu leben – und wie du sie auflösen kannst. Keine Theorie, keine leeren Versprechen. Echte Tools, die ich selbst benutze. Jeden Tag.
/same/ Es gibt nur 50 Plätze. Ich halte die Gruppe bewusst klein, weil ich will, dass es persönlich bleibt. Dass ich jede von euch sehen kann. Dass es sich anfühlt wie ein Gespräch, nicht wie ein Vortrag.
/same/ Wenn du dabei sein willst, klick auf den Link unten und sichere dir deinen Platz. Es ist kostenlos, es ist unverbindlich, es könnte der erste Schritt sein.
/same/ Und Lisa? Wenn du das hier liest und eine kleine Stimme in dir sagt „Das ist was für mich“ – dann hör auf sie. Sie weiß mehr, als du denkst. Alles Liebe, Marie
/note/ Lisa liest die E-Mail zweimal. Dann klickt sie auf den Link. Sie meldet sich an.
/note/ In den Tagen bis zum Webinar kommen noch zwei E-Mails. Die erste erinnert sie an den Termin und enthält „drei Tipps, wie du das Maximum aus dem Webinar rausholst“ (Tipp 1: Sei pünktlich. Tipp 2: Schalte alle Ablenkungen aus. Tipp 3: Hab Stift und Papier bereit – du wirst dir Notizen machen wollen). Die zweite kommt am Tag des Webinars und wünscht ihr „eine transformative Erfahrung“.
/note/ Lisa merkt, dass sie sich auf das Webinar freut. Mehr als auf irgendetwas anderes in letzter Zeit.
/note/ Das Webinar findet an einem Dienstagabend statt, um 19 Uhr. Lisa hat sich extra früher von der Arbeit freigemacht, obwohl sie eigentlich noch etwas hätte fertig machen sollen. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, Kopfhörer auf, ein Glas Wasser neben sich, Stift und Papier bereit. Sie hat sogar kurz überlegt, ob sie ihre Kamera anmachen soll – hat sich dann aber dagegen entschieden. Zu intim. Zu früh.
/note/ Im Zoom-Raum sind 73 Teilnehmerinnen, fast alle mit ausgeschalteter Kamera. Nur kleine schwarze Kacheln mit Namen: Jennifer, Sabine, Anna-Lena, Kathrin, Melli_1987, SunflowerSoul, Neustart_mit_40. Lisa ist eine von vielen. Das fühlt sich seltsam beruhigend an.
/note/ Um 19:03 Uhr erscheint Marie auf dem Bildschirm. Sie strahlt, sie ist energetisch, sie trägt ein weißes Oberteil und große Kreolen. Hinter ihr derselbe Hintergrund wie immer – die Monstera ist gewachsen, fällt Lisa auf.
Marie Sommer (Coachin, im Webinar): Wow. Wow, wow, wow. Ich bin so happy, dass ihr alle hier seid. Ernsthaft. Ich schaue auf diese Namen und ich spüre die Energie. Ich spüre, dass da ganz viel Bereitschaft ist. Ganz viel Mut. Ganz viel Sehnsucht nach Veränderung.
/same/ Ihr seid hier, weil ihr bereit seid. Weil ihr mehr wollt. Weil diese leise Stimme in euch laut genug geworden ist, dass ihr ihr endlich zuhört. Und allein dafür – allein für diesen Schritt, hier zu sein, euch anzumelden, euch Zeit zu nehmen – möchte ich euch feiern. Gebt euch einen imaginären Applaus. Oder einen echten, mir egal. Ihr habt es verdient.
/same/ Ich werde heute Abend über etwas sprechen, das mir sehr am Herzen liegt. Es geht um das, was ich „das Funktionierens-Gefängnis“ nenne. Diesen Ort, an dem so viele von uns feststecken. Wo wir alles „richtig“ machen – und uns trotzdem leer fühlen. Wo wir alle Boxen abhaken – und trotzdem nicht wissen, wer wir sind. Kennt ihr das?
/note/ Im Chat scrollen Antworten vorbei: „Ja!“ „So true!“ „Das bin ich!“ „🙏🙏🙏“
/note/ Lisa nickt. Sie schreibt nichts, aber sie nickt. Sie kennt das.
/note/ Die nächsten sechzig Minuten spricht Marie. Sie erzählt wieder ihre Geschichte, diesmal noch ausführlicher, noch dramatischer. Der Zusammenbruch, der Moment auf dem Boden der Küche, die Monate der Dunkelheit, die Therapie, die nicht wirklich half, die Medikamente, die nur betäubten, die Suche nach etwas anderem, die Entdeckung der Körperarbeit, des Nervensystems, der „somatischen Intelligenz“. Und dann: die Transformation. Das Aufblühen. Das neue Leben.
/note/ Sie erklärt ihr „Transformationsmodell“ – drei Phasen, visualisiert auf bunten Slides. Phase 1: Erkennen. Verstehen, was dich zurückhält. Die alten Muster sehen, die Glaubenssätze, die Programme, die seit der Kindheit laufen. Phase 2: Auflösen. Die Blockaden lösen, das Nervensystem regulieren, den Körper einbeziehen. Nicht nur verstehen, sondern fühlen und loslassen. Phase 3: Verkörpern. Die neue Version von dir leben. Nicht nur wissen, wer du sein willst, sondern es sein. Jeden Tag.
/note/ Sie spricht über das Nervensystem, über „somatische Blockaden“, über „die Weisheit des Körpers“. Sie verwendet Begriffe wie „Vagusnerv“ und „Polyvagal“ und „Regulation“ und „Koregulation“. Lisa versteht nicht alles, aber es klingt wissenschaftlich. Es klingt, als wüsste Marie, wovon sie spricht.
/note/ Dann kommen die Testimonials. Videos von Frauen, die vorher müde aussehen und nachher strahlen. Die erste ist Mitte dreißig, blonde Haare, Augenringe – und dann, im Nachher-Video, dieselbe Frau, aber anders. Lebendiger. Präsenter.
Testimonial 1 (ehemalige Teilnehmerin): Ich hätte nie gedacht, dass ich so viel Kraft in mir habe. Vor Soul Shift war ich am Ende. Ich hab nur noch funktioniert. Und jetzt – jetzt lebe ich. Wirklich. Zum ersten Mal in meinem Leben.
/note/ Die zweite Frau weint vor Dankbarkeit.
Testimonial 2 (ehemalige Teilnehmerin): Marie hat mir mein Leben zurückgegeben. Ich weiß, das klingt dramatisch. Aber es ist wahr. Ich wusste nicht mehr, wer ich bin. Und sie hat mir geholfen, mich wiederzufinden.
/note/ Die dritte Frau lacht, entspannt, selbstbewusst.
Testimonial 3 (ehemalige Teilnehmerin): Ich hab vorher so viel Geld für Therapie ausgegeben, für Kurse, für Bücher. Nichts hat wirklich geholfen. Soul Shift war das Einzige, das wirklich etwas verändert hat. Es war die beste Investition meines Lebens.
/note/ Lisa merkt, dass sie sich nach vorne lehnt, dem Bildschirm entgegen. Ihr Herz schlägt schneller. Diese Frauen – die waren wie sie. Und jetzt sind sie anders. Besser. Lebendiger.
/note/ In den letzten zwanzig Minuten ändert sich der Ton. Marie wird ernster, langsamer. Sie schaut direkt in die Kamera.
Marie Sommer (Coachin, im Webinar): Ich möchte jetzt über etwas sprechen, das mir sehr am Herzen liegt. Etwas, das ich nur ein paarmal im Jahr anbiete, weil es so intensiv ist. Weil ich nur mit einer kleinen Gruppe arbeiten kann. Weil es echte Transformation erfordert – von euch und von mir.
/same/ Soul Shift. 12 Wochen intensive Begleitung für Frauen, die bereit sind, ihr altes Ich loszulassen. Nicht irgendein Kurs, den du alleine durcharbeitest und dann vergisst. Nicht irgendein Video-Programm, das auf deiner Festplatte verstaubt. Sondern echte Transformation. Mit mir. Mit einer Gruppe von Frauen, die denselben Weg gehen. Mit Struktur, Support und Tiefe.
/same/ Ich werde euch jetzt nicht den Preis nennen. Weil es bei Soul Shift nicht um Geld geht. Es geht um die Frage: Bist du bereit? Bist du bereit, ja zu dir selbst zu sagen? Bist du bereit, aufzuhören, dich selbst an die letzte Stelle zu setzen? Bist du bereit, endlich die Frau zu werden, die du sein sollst?
/same/ Wenn du spürst, dass das für dich ist – wenn da irgendwo in dir eine Stimme sagt „ja“, auch wenn dein Kopf „aber“ sagt – dann möchte ich, dass du mir eine DM schreibst. Nur ein Wort: „bereit“. Und dann sprechen wir. Ganz unverbindlich. Nur du und ich, in einem kostenlosen Kennenlerngespräch. Und danach entscheidest du.
/note/ Das Webinar endet. Lisa sitzt noch eine Weile vor dem Bildschirm, ihr Herz klopft. Sie denkt an die Frauen in den Testimonials. An ihr eigenes Leben. An die Frage, ob das alles ist.
/note/ Sie öffnet Instagram. Sie tippt eine Nachricht an @marie.sommer.mentoring:
Lisa Berger (Protagonistin, per DM): bereit
/note/ Die Antwort kommt nach zwanzig Minuten.
Marie Sommer (Coachin, per DM): Lisa! 💛 Ich freu mich so, von dir zu hören. Ich hab gespürt, dass du dabei warst heute. Dass da jemand ist, die wirklich bereit ist. Lass uns reden. Wann passt es dir diese Woche für einen kurzen Call? Ganz entspannt, nur zum Kennenlernen. Ich freu mich auf dich.
/note/ Sie vereinbaren einen Termin für Freitag, 18 Uhr.
/note/ IV. Das Kennenlerngespräch
/note/ Lisa ist nervös. Den ganzen Freitag über kann sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren. In Meetings driftet sie ab, bei E-Mails liest sie denselben Satz dreimal, ohne ihn zu verstehen. Ihre Gedanken kreisen um den Termin. Um Marie. Um die Frage, was sie eigentlich sagen soll.
/note/ Sie hat sich Fragen notiert, auf einem Post-it, das neben ihrem Laptop klebt: „Was genau passiert in dem Programm? Wie viel kostet es? Was, wenn es mir nicht hilft? Gibt es eine Geld-zurück-Garantie?“ Die Fragen wirken so nüchtern, so sachlich. Sie passen nicht zu dem Gefühl in ihrer Brust, dieser Mischung aus Hoffnung und Angst.
/note/ Um 17:30 Uhr macht sie Feierabend, obwohl sie eigentlich noch eine Präsentation hätte fertig machen sollen. Sie sagt sich: Das kann bis Montag warten. Das hier ist wichtiger.
/note/ Um 17:45 Uhr sitzt sie an ihrem Schreibtisch, frisch geschminkt, obwohl sie sonst im Homeoffice nie Make-up trägt. Sie hat sogar kurz überlegt, sich umzuziehen – ihr schönes blaues Oberteil, das sie sonst nur für Dates anzieht – und sich dann für albern gehalten. Es ist ja nur ein Zoom-Call. Mit einer Frau, die sie nicht kennt. Über ein Programm, das sie sich wahrscheinlich sowieso nicht leisten kann.
/note/ Aber sie hat sich trotzdem umgezogen.
/note/ Um 17:58 Uhr klickt sie auf den Link. Der Warteraum. Ein Bild von Marie, lächelnd, die Arme offen. Darunter der Text: „Du bist gleich dran. Atme tief durch. Du bist genau richtig hier.“
/note/ Lisa atmet. Ihre Hände sind feucht.
/note/ Um 18:03 Uhr öffnet sich der Raum.
/note/ Marie erscheint auf dem Bildschirm. Sie trägt ein schlichtes weißes T-Shirt, die Haare offen, goldene Ohrringe. Im Hintergrund dieselbe Monstera, dasselbe warme Licht. Sie lächelt, breit und warm, als würde sie eine alte Freundin begrüßen.
Marie Sommer (Coachin): Lisa! Da bist du ja. Endlich. Ich hab mich so auf dich gefreut.
Lisa Berger (Protagonistin): Hallo. Ja, ich… danke für deine Zeit.
Marie Sommer (Coachin): Ach, hör auf. Das ist keine „Zeit“, die ich dir „gebe“. Das ist ein Gespräch, das wir beide führen, weil es sich richtig anfühlt. Ich spüre schon jetzt, dass da was Besonderes ist bei dir. Aber erstmal: Wie geht’s dir heute? Erzähl mal. Wie war deine Woche?
/note/ Lisa ist überrascht. Sie hat erwartet, dass Marie sofort über das Programm sprechen würde. Dass es ein Verkaufsgespräch wird, mit Slides und Preisen und Rabatten. Stattdessen fragt sie nach ihrem Tag. Nach ihrer Arbeit. Nach ihrem Leben. Es fühlt sich an wie ein Gespräch unter Freundinnen.
Lisa Berger (Protagonistin): Die Woche war… anstrengend, ehrlich gesagt. Viel Stress auf der Arbeit. Ein Projekt läuft nicht gut, mein Chef macht Druck. Das Übliche eigentlich.
Marie Sommer (Coachin): Das Übliche. Aber das Übliche fühlt sich nicht mehr okay an, oder? Sonst wärst du nicht hier.
Lisa Berger (Protagonistin): Nein. Nein, es fühlt sich nicht okay an. Es fühlt sich an wie… ich weiß nicht. Wie ein Hamsterrad. Wie jeden Tag dasselbe, ohne dass es irgendwohin führt.
Marie Sommer (Coachin): Mhm. Das kenne ich. Das kenne ich so gut.
/note/ Marie nickt, langsam, verständnisvoll. Sie lehnt sich leicht nach vorne, näher an die Kamera.
Marie Sommer (Coachin): Erzähl mir mehr. Wie lange fühlst du dich schon so?
/note/ Und Lisa erzählt. Sie erzählt von der Erschöpfung, die nicht weggeht, egal wie viel sie schläft. Von dem Gefühl, dass alles grau ist, dass nichts mehr richtig Freude macht. Von der Glasglocke. Von der Frage, die sie sich abends stellt: Ist das alles?
/note/ Sie erzählt von ihrem Job, den sie eigentlich mal mochte, der jetzt aber nur noch Last ist. Von ihrer letzten Beziehung, die vor drei Jahren endete, und davon, dass sie seitdem niemanden mehr an sich herangelassen hat. Von ihren Freundinnen, die alle verheiratet sind, Kinder haben, ein Leben haben – während sie immer noch wartet. Auf was, weiß sie nicht.
/note/ Sie redet zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Marie unterbricht nicht. Sie nickt, macht „Mhm“-Geräusche, wiederholt manchmal Schlüsselworte.
Marie Sommer (Coachin): Also du funktionierst. Du machst alles, was man von dir erwartet. Du bist die, auf die man sich verlassen kann. Aber innerlich fühlst du dich leer. Als würdest du nur existieren, nicht wirklich leben.
Lisa Berger (Protagonistin): Ja. Genau so. Genau so ist es.
Marie Sommer (Coachin): Ich kenne das so gut, Lisa. So gut. Das war ich vor zehn Jahren. Ich saß da, in meinem Leben, das von außen perfekt aussah – guter Job, nette Wohnung, Freunde, alles – und innerlich bin ich gestorben. Tag für Tag ein bisschen mehr. Bis mein Körper irgendwann Stopp gesagt hat.
/note/ Pause. Marie schaut Lisa direkt an, durch die Kamera, mit diesem Blick, der durch den Bildschirm hindurch zu gehen scheint.
Marie Sommer (Coachin): Kann ich dir was sagen, Lisa? Etwas, das ich spüre?
Lisa Berger (Protagonistin): Ja. Ja, klar.
Marie Sommer (Coachin): Ich spüre, dass da ganz viel in dir ist, das rauswill. Ganz viel Kraft, ganz viel Potenzial, ganz viel Leben. Aber ich spüre auch etwas anderes. Etwas, das im Weg steht.
/note/ Lisa hält den Atem an.
Marie Sommer (Coachin): Ich spüre, dass du dich schon dein ganzes Leben lang klein machst. Dass du gelernt hast, nicht zu viel zu wollen. Nicht zu viel Raum einzunehmen. Nicht zu laut zu sein, nicht zu fordernd, nicht zu viel. Dass du irgendwo tief drinnen glaubst, du verdienst es nicht, wirklich glücklich zu sein. Dass Glück für andere ist, nicht für dich. Stimmt das?
/note/ Lisa schluckt. Ihr Hals ist plötzlich eng. Tränen steigen auf. Das ist so präzise. So genau. Woher weiß Marie das? Sie kennt sie doch gar nicht. Sie haben noch nie miteinander gesprochen. Und trotzdem – trotzdem sieht sie direkt in sie hinein.
Lisa Berger (Protagonistin): Ja. Ich glaube… ja. Vielleicht.
Marie Sommer (Coachin): Nicht vielleicht, Lisa. Ich sehe es. Ich sehe dich. Und ich sehe, wie viel Schmerz das verursacht. Dieses ständige Kleinmachen. Dieses ständige Zurückstecken. Dieses Gefühl, dass alle anderen ein Recht auf Glück haben, nur du nicht.
/note/ Lisa wischt sich über die Augen. Sie hat nicht bemerkt, dass sie weint.
Marie Sommer (Coachin): Das ist kein Zufall, dass du hier bist. Das ist keine zufällige DM, kein zufälliges Webinar, kein zufälliger Call. Dein System hat dich zu mir geführt. Deine Seele, wenn du so willst. Weil sie weiß, dass jetzt der Moment ist. Dass du bereit bist. Die Frage ist nur: Glaubst du ihr? Oder sagst du wieder: Noch nicht. Warte noch. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.
/note/ Stille. Lisa weiß nicht, was sie sagen soll. Also sagt sie nichts.
Marie Sommer (Coachin): Lass mich dir erzählen, was Soul Shift ist. Und dann entscheiden wir gemeinsam, ob es für dich passt. Kein Druck, kein Verkaufsgespräch. Nur Klarheit. Okay?
Lisa Berger (Protagonistin): Okay.
/note/ In den nächsten zwanzig Minuten beschreibt Marie das Programm. Ihre Stimme ist ruhig, aber enthusiastisch. Sie malt Bilder mit Worten, lebendige Bilder von Transformation und Aufbruch und Neuanfang.
Marie Sommer (Coachin): Soul Shift ist keine Coaching-Gruppe im klassischen Sinn. Es ist kein Kurs, den du alleine durcharbeitest. Es ist eine Transformationsreise. Zwölf Wochen, in denen du dich selbst auf eine Art kennenlernst, die du nie für möglich gehalten hättest.
/same/ Wir treffen uns einmal pro Woche in einer Gruppe, live auf Zoom. Das sind intensive Sessions – zwei Stunden, manchmal länger, wenn es fließt. Wir arbeiten mit dem Nervensystem, mit dem Körper, mit den Mustern, die dich zurückhalten. Ich bringe Übungen mit, aber es passiert auch viel spontan. Weil echte Transformation nicht nach Plan verläuft. Sie passiert, wenn man ihr Raum gibt.
/same/ Dazu bekommst du einmal pro Monat einen Eins-zu-eins-Call mit mir. Nur du und ich, dreißig Minuten, in denen wir ganz tief gehen können. Da schauen wir, was bei dir gerade los ist, was hochkommt, wo du feststeckst. Das ist der Raum, in dem die echten Durchbrüche passieren.
/same/ Und dann ist da die Community. Die Soul Sisters. Eine WhatsApp-Gruppe, in der du dich jederzeit melden kannst. Wenn du morgens aufwachst und es ist schwer – schreib rein. Wenn du einen Durchbruch hast – schreib rein. Wenn du einfach nur gehört werden willst – schreib rein. Da sind Frauen, die genau verstehen, was du durchmachst. Die denselben Weg gehen. Die dich halten, wenn du fällst.
/same/ Plus: Du bekommst Zugang zu meiner Video-Bibliothek. Über fünfzig Videos zu Themen wie Nervensystem-Regulation, Glaubenssatzarbeit, Körperarbeit, Grenzen setzen, authentisch leben. Du kannst sie in deinem Tempo durcharbeiten, wann immer du willst, so oft du willst.
Lisa Berger (Protagonistin): Das klingt… das klingt wirklich gut. Wirklich intensiv.
Marie Sommer (Coachin): Es ist intensiv. Ich werde dir nicht sagen, dass es leicht wird. Transformation ist nicht leicht. Du wirst Dinge fühlen, die du lange verdrängt hast. Du wirst Muster sehen, die dir nicht gefallen. Du wirst vielleicht weinen, schreien, zweifeln. Aber du bist nicht allein. Das ist der Unterschied. Du hast mich. Du hast die Gruppe. Du hast einen Rahmen, der dich hält.
/note/ Lisa nickt langsam. Es klingt wirklich gut. Wie genau das, was sie braucht. Ein Rahmen. Eine Begleitung. Jemand, der sie sieht.
/note/ Aber eine Frage brennt in ihr. Sie hat Angst, sie zu stellen. Aber sie muss.
Lisa Berger (Protagonistin): Und… was kostet das?
/note/ Marie lächelt. Nicht das strahlende Lächeln von vorher – ein ruhigeres, wissendes Lächeln. Als hätte sie diese Frage erwartet. Als wäre sie Teil des Prozesses.
Marie Sommer (Coachin): Ich sage dir gleich den Preis. Aber lass mich vorher eine Frage stellen. Eine wichtige Frage.
/note/ Pause.
Marie Sommer (Coachin): Wenn Geld keine Rolle spielen würde – wenn es überhaupt kein Thema wäre, wenn du unendlich viel hättest – würdest du dann dabei sein wollen?
Lisa Berger (Protagonistin): Ich… ja. Ja, ich glaube schon. Ja.
Marie Sommer (Coachin): Gut. Das ist wichtig. Weil der Preis ein Investment ist. Nicht in mich – in dich. In deine Zukunft. In die Frau, die du werden willst. Und bevor wir über Zahlen sprechen, muss klar sein, dass du es willst. Dass der Wunsch da ist. Sonst macht der Rest keinen Sinn.
/same/ Soul Shift kostet 5.400 Euro. Oder, wenn du in Raten zahlen möchtest, dreimal 1.900 Euro, also 5.700 Euro insgesamt.
/note/ Lisa spürt, wie sich ihr Magen zusammenzieht. 5.400 Euro. Das ist mehr als zwei Monatsmieten. Mehr als ihr Notgroschen. Mehr als sie jemals für irgendetwas ausgegeben hat, das man nicht anfassen kann.
Lisa Berger (Protagonistin): Das ist… das ist viel. Ich weiß nicht, ob ich mir das leisten kann. Ehrlich gesagt.
Marie Sommer (Coachin): Ich verstehe. Ich verstehe das total. Das ist viel Geld. Das ist eine echte Investition.
/note/ Marie lehnt sich zurück, seufzt leicht. Ihr Blick wird weicher, aber auch ernster.
Marie Sommer (Coachin): Kann ich ehrlich mit dir sein, Lisa? Wirklich ehrlich? Auch wenn es vielleicht unbequem ist?
Lisa Berger (Protagonistin): Ja. Ja, bitte.
Marie Sommer (Coachin): Dieses „Ich kann es mir nicht leisten“ – das ist ein Satz, den ich so oft höre. Jede Woche, in fast jedem Gespräch. Und in manchen Fällen stimmt er. Es gibt Frauen, die wirklich kein Geld haben. Die verschuldet sind, die am Existenzminimum leben, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen. Für die ist Soul Shift gerade nicht das Richtige. Das sage ich ganz klar.
/same/ Aber bei dir, Lisa – und ich sage das mit ganz viel Liebe und Respekt – bei dir glaube ich, dass es nicht wirklich ums Geld geht.
/note/ Lisa will protestieren, aber Marie hebt leicht die Hand.
Marie Sommer (Coachin): Hör mir kurz zu. Du hast einen Job. Du verdienst Geld. Du hast eine Wohnung, du bezahlst deine Miete, du lebst nicht auf der Straße. Du gibst Geld aus – für Dinge, die dich vielleicht nicht weiterbringen. Für Ablenkung, für Kompensation, für das kurze Gefühl, okay zu sein. Ein Restaurantbesuch hier, ein Online-Shopping-Spree dort, ein Streaming-Abo, das du kaum nutzt. Das summiert sich auch, oder?
Lisa Berger (Protagonistin): Ja, schon, aber…
Marie Sommer (Coachin): Die Frage ist nicht: Hast du das Geld? Die Frage ist: Wofür willst du es ausgeben? Für noch ein Jahr so wie bisher? Für noch mehr Ablenkung, noch mehr Betäubung, noch mehr Funktionieren? Oder für etwas, das dein Leben wirklich verändert?
/note/ Lisa schweigt. Sie fühlt sich ertappt. Marie hat recht. Sie gibt Geld aus für Unsinn. Für Lieferdienste, wenn sie zu müde ist zum Kochen. Für Klamotten, die sie einmal trägt und dann im Schrank vergisst. Für einen Fitnessstudio-Vertrag, den sie seit Monaten nicht nutzt.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich müsste trotzdem… ich müsste darüber nachdenken. Das ist eine große Entscheidung. Ich kann das nicht einfach so…
/note/ Jetzt verändert sich Maries Gesichtsausdruck. Nicht hart, nicht verärgert. Aber ernster. Besorgter. Mitleidiger fast.
Marie Sommer (Coachin): Lisa, ich sage dir jetzt etwas, das du vielleicht nicht hören willst. Aber ich wäre keine gute Mentorin, wenn ich es nicht sagen würde. Wenn ich dich einfach gehen lassen würde, ohne dir die Wahrheit zu sagen.
/note/ Pause. Marie schaut direkt in die Kamera. Direkt in Lisa.
Marie Sommer (Coachin): Dieses „Ich muss darüber nachdenken“ – das ist nicht dein rationales Selbst, das eine kluge Entscheidung treffen will. Das ist nicht die erwachsene Lisa, die verantwortungsvoll mit ihrem Geld umgeht.
/same/ Das ist dein Schutzprogramm. Das ist der Teil von dir, der seit Jahren – seit Jahrzehnten – verhindert, dass du wirklich etwas veränderst. Der dir einflüstert: Noch nicht. Warte noch. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Du bist nicht bereit. Du bist nicht gut genug. Du schaffst das eh nicht.
/same/ Kennst du diese Stimme?
Lisa Berger (Protagonistin): Ja. Ja, ich kenne sie.
Marie Sommer (Coachin): Und weißt du, was passiert, wenn du ihr zuhörst? Wenn du wieder wartest, wieder aufschiebst, wieder sagst „vielleicht später“?
/same/ Du landest in drei Monaten wieder genau hier. Auf dem Sofa. Müde. Leer. Scrollst durch Instagram, siehst vielleicht wieder ein Reel, spürst wieder dieses Ziehen – und sagst wieder: Vielleicht später. Nicht jetzt. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.
/same/ Und dann vergehen drei Monate. Und noch drei. Und noch drei. Und irgendwann sind es drei Jahre. Und du sitzt immer noch da. Und fragst dich immer noch: Ist das alles?
/note/ Lisa spürt Tränen aufsteigen. Sie weiß nicht, ob es Tränen der Rührung sind oder der Überforderung oder der Angst. Vielleicht von allem etwas.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich… ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll.
Marie Sommer (Coachin): Du weißt nicht, was du willst? Oder du hast Angst, es dir zu nehmen?
Lisa Berger (Protagonistin): Angst, glaube ich. Angst, dass ich das Geld ausgebe und dann… und dann passiert nichts. Dass ich wieder enttäuscht werde. Dass es nicht funktioniert. Dass ich nicht funktioniere.
Marie Sommer (Coachin): Das verstehe ich. Diese Angst kenne ich. Ich hatte sie auch, bevor ich in meine erste große Investition gegangen bin. In mich selbst. Damals, nach meinem Burnout, als ich noch nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
/same/ Aber lass mich dich etwas fragen: Was ist die Alternative?
Lisa Berger (Protagonistin): Dass ich… weitermache wie bisher.
Marie Sommer (Coachin): Genau. Dass du weitermachst wie bisher. Und wie fühlt sich das an, wenn du dir das vorstellst? Noch ein Jahr so? Noch fünf? Noch zehn? Wenn du in zehn Jahren zurückschaust und alles ist noch genauso – wie fühlt sich das an?
/note/ Lisa schließt kurz die Augen. Das Bild ist unerträglich. Zehn Jahre. Zehn Jahre Glasglocke. Zehn Jahre Funktionieren ohne zu leben. Zehn Jahre Warten auf etwas, das nie kommt.
Lisa Berger (Protagonistin): Schrecklich. Das fühlt sich schrecklich an.
Marie Sommer (Coachin): Ja. Weil es schrecklich wäre. Weil du nicht dafür gemacht bist, nur zu funktionieren. Weil da so viel mehr in dir ist. Ich sehe es. Ich spüre es. Die Frage ist nur: Siehst du es auch? Oder glaubst du immer noch, dass du es nicht verdienst?
/note/ Stille. Lisa atmet tief durch.
Marie Sommer (Coachin): Ich will dich zu nichts drängen, Lisa. Du bist erwachsen, du triffst deine eigenen Entscheidungen. Das ist dein Leben, dein Geld, deine Wahl. Ich respektiere das.
/same/ Aber ich wäre unehrlich, wenn ich nicht sagen würde: Ich sehe, wie viel Potenzial in dir ist. Ich sehe die Frau, die du sein könntest. Die Frau, die du im Inneren schon bist – die nur noch rauswill. Und ich sehe auch, wie gut du darin bist, dich selbst zu sabotieren. Wie oft du schon „nein“ zu dir selbst gesagt hast.
/same/ Die Frage ist: Wem gibst du heute Recht? Der Stimme der Angst? Oder der Stimme, die dich hergeführt hat?
/note/ Stille. Lange Stille. Lisa spürt ihr Herz klopfen.
Marie Sommer (Coachin): Ich mache dir ein Angebot. Weil ich spüre, dass du es wirklich willst, auch wenn dein System Angst hat. Auch wenn dein Schutzprogramm gerade alles tut, um dich zurückzuhalten.
/same/ Ich reduziere den ersten Monat auf 1.500 Euro statt 1.900. Du zahlst also 1.500 jetzt, dann 1.900, dann 1.900 – insgesamt 5.300 Euro statt 5.700. Das ist eine Ersparnis von 400 Euro.
/same/ Aber das Angebot gilt nur heute. Weil ich will, dass du eine Entscheidung triffst. Nicht morgen, nicht nächste Woche, nicht „irgendwann, wenn ich darüber nachgedacht habe“. Heute. Jetzt. In diesem Moment.
Lisa Berger (Protagonistin): Heute?
Marie Sommer (Coachin): Heute. Weil ich weiß, was passiert, wenn du wartest. Du gehst nach Hause, du denkst nach, die Angst wird lauter, und am Ende sagst du: Vielleicht später. Und „später“ kommt nie.
/same/ Und noch etwas: Es sind nur noch drei Plätze frei. Die aktuelle Runde startet am Montag. Wenn du bis morgen Mittag nicht zusagst, muss ich den Platz jemand anderem geben. Es gibt eine Warteliste.
Lisa Berger (Protagonistin): Okay. Ich… okay. Ich muss kurz… ich muss kurz durchatmen.
Marie Sommer (Coachin): Atme. Spür in dich rein. Nicht in deinen Kopf – in deinen Körper. Was sagt dein Körper?
/note/ Lisa schließt die Augen. Ihr Herz rast. Ihre Hände zittern leicht. Aber irgendwo darunter, unter der Panik, ist noch etwas anderes. Ein Ziehen. Eine Wärme. Ein Ja.
Lisa Berger (Protagonistin): Mein Körper sagt… ja. Glaube ich. Ja.
Marie Sommer (Coachin): Dann vertrau ihm. Er weiß mehr, als dein Kopf wahrhaben will. Der Körper lügt nicht, Lisa. Er spürt, was richtig ist.
/note/ Lisa öffnet die Augen. Marie lächelt sie an, warm und zuversichtlich. Siegessicher fast, aber auf eine sanfte Art.
Marie Sommer (Coachin): Ich schick dir jetzt den Link zur Anmeldung. Du füllst das Formular aus, trägst deine Zahlungsdaten ein, und dann bist du dabei. Dann beginnt deine Reise. Willkommen bei Soul Shift, Lisa. Du hast Ja zu dir gesagt.
/note/ Das Gespräch endet um 18:52 Uhr.
/note/ Lisa sitzt noch zehn Minuten vor dem dunklen Bildschirm, zitternd. Ihr Herz hämmert. Ihre Gedanken rasen. 5.300 Euro. Das ist wahnsinnig. Das ist unverantwortlich. Das ist…
/note/ Sie öffnet den Link, den Marie ihr geschickt hat. Ein Formular. Name, Adresse, E-Mail, Telefonnummer. Zahlungsoptionen: Einmalzahlung oder drei Raten. Ein Kästchen: „Ich habe die AGB gelesen und akzeptiere sie.“ Ein Button: „Jetzt verbindlich buchen.“
/note/ Sie füllt das Formular aus. Ihre Finger bewegen sich wie von selbst. Sie trägt ihre Kreditkartennummer ein. Sie klickt auf das Kästchen. Sie klickt auf den Button.
/note/ Die Bestätigungsseite zeigt ein Foto von Marie, die beide Daumen hoch hält, strahlend. Darunter steht: „Yes, Queen! 👑 Du hast es getan. Willkommen in deiner Transformation.“
/note/ Lisa starrt auf den Bildschirm. Dann fängt sie an zu weinen.
/note/ V. Der Kauf
/note/ In der Nacht nach der Buchung kann Lisa nicht schlafen. Sie liegt im Bett und starrt an die Decke. Ihr Herz wechselt zwischen rasendem Pochen und seltsamer Leere. 5.300 Euro. So viel hat sie noch nie für etwas ausgegeben, das man nicht anfassen kann. Nicht für eine Reise, nicht für Möbel, nicht für ein Auto. Für ein Online-Programm. Für Zoom-Calls und Videos und eine WhatsApp-Gruppe.
/note/ Aber es ist nicht irgendein Programm, sagt sie sich. Es ist Soul Shift. Es ist Marie. Es ist der erste Schritt in ihr neues Leben.
/note/ Um zwei Uhr morgens steht sie auf, weil sie nicht mehr liegen kann. Sie macht sich einen Tee, setzt sich an den Küchentisch, starrt aus dem Fenster in die dunkle Straße. Sie rechnet. Wenn sie den Streamingdienst kündigt, den sie sowieso kaum nutzt, sind das 13 Euro im Monat. Wenn sie das Fitnessstudio kündigt, in das sie nie geht, sind das 45 Euro. Wenn sie seltener auswärts isst, vielleicht 150 Euro. Wenn sie diesen Sommer keinen Urlaub macht – den sie sowieso nicht geplant hat –, dann… dann wird es gehen. Es wird knapp, aber es wird gehen.
/note/ Und außerdem: Das ist ein Investment. Marie hat es gesagt. Ein Investment in sich selbst. Das ist nicht wie Geld ausgeben – das ist wie Geld anlegen. In ihre Zukunft. In die Frau, die sie werden wird.
/note/ Um drei Uhr geht sie wieder ins Bett. Sie schläft unruhig, träumt wirr – von Marie, von ihrer Mutter, von einem Haus ohne Türen.
/note/ Am nächsten Morgen kommt eine E-Mail von Marie.
Marie Sommer (Coachin, per E-Mail): Lisa! 🌟 Ich sitze hier mit meinem Morgenkaffee und denke an dich. An diesen Moment gestern Abend, als du Ja gesagt hast. Als du dich entschieden hast.
/same/ Du hast etwas unglaublich Mutiges getan. Du hast Ja zu dir gesagt. Du hast dich entschieden, nicht mehr zu warten. Du hast dich entschieden, endlich an erste Stelle zu kommen. Das macht nicht jeder. Die meisten Menschen bleiben ihr ganzes Leben lang im Wartezimmer. Du nicht. Du bist aufgestanden. Du bist losgegangen.
/same/ Ich weiß, dass da vielleicht noch Zweifel sind. Das ist normal. Dein altes System wehrt sich. Es flüstert dir ein, dass du einen Fehler gemacht hast, dass du dir das nicht leisten kannst, dass du es nicht verdienst. Aber weißt du was? Genau das ist der Beweis, dass du richtig entschieden hast. Wenn dein System so laut wird, heißt das, dass echte Veränderung kommt. Die Angst ist nicht das Zeichen, dass du aufhören sollst – sie ist das Zeichen, dass du auf dem richtigen Weg bist.
/same/ Ich bin so stolz auf dich. Wir sehen uns am Montag zum ersten Call. Bis dahin: Atme. Sei sanft mit dir. Du bist genau richtig.
/same/ Love, Marie 💛
/note/ Lisa liest die E-Mail dreimal. Bei jedem Mal fühlt sie sich ein bisschen besser. Marie ist stolz auf sie. Marie sieht sie. Marie weiß, was sie durchmacht – und sagt ihr, dass es richtig ist.
/note/ Sie macht einen Screenshot der E-Mail und schickt ihn an ihre beste Freundin Sarah. Dazu schreibt sie: „Ich hab’s gemacht! Bin dabei! 💛“
/note/ Sarahs Antwort kommt nach einer halben Stunde.
Sarah (Freundin, per Chat): 5.400 Euro für ein Online-Programm?? Lisa, bist du sicher? Das klingt nach ziemlich viel Geld für Zoom-Calls…
Lisa Berger (Protagonistin, per Chat): 5.300 eigentlich, ich hab einen Rabatt bekommen. Und du verstehst das nicht. Das ist nicht irgendein Kurs. Das ist Begleitung. Das ist Transformation. Marie sagt, das ist das Beste, was ich je für mich tun konnte.
Sarah (Freundin, per Chat): Wer ist Marie? Und woher kennt sie dich gut genug, um zu wissen, was das Beste für dich ist? Habt ihr euch mal getroffen?
Lisa Berger (Protagonistin, per Chat): Sie ist Mentorin. Sie hat selbst einen Burnout gehabt und sich komplett transformiert. Sie versteht, was ich durchmache. Mehr als manche Leute in meinem Leben, offensichtlich.
Sarah (Freundin, per Chat): Lisa, ich will nicht gemein sein. Ich mache mir nur Sorgen. Das ist wirklich viel Geld. Und du kennst diese Frau nur von Instagram.
Lisa Berger (Protagonistin, per Chat): Ich kenne sie von ihren Videos, von ihrem Webinar, von unserem Gespräch. Sie hat mir Dinge gesagt, die noch nie jemand so klar gesagt hat. Sie SIEHT mich, Sarah. Das ist mehr, als die meisten Menschen können.
Sarah (Freundin, per Chat): Okay. Ich hoffe, es ist gut für dich. Pass auf dich auf, ja?
/note/ Lisa antwortet nicht mehr. Sie legt das Handy weg, irritiert. Ein Teil von ihr weiß, dass Sarah es gut meint. Aber ein anderer Teil – der größere Teil – denkt: Sie versteht es halt nicht. Sie ist noch nicht so weit. Manche Menschen haben Angst vor Veränderung. Das ist nicht mein Problem.
/note/ Sie öffnet Instagram. Marie hat eine neue Story gepostet. Ein Sonnenaufgang über dem Meer, goldenes Licht, dazu der Text: „Heute beginnt jemandes neues Leben. Vielleicht deins. 🌅“
/note/ Lisa lächelt. Ja, denkt sie. Meins. Heute beginnt meins.
/note/ VI. Das Programm
/note/ Der erste Gruppen-Call findet am Montagabend statt, um 19 Uhr. Lisa hat den ganzen Tag darauf hingefiebert. Sie hat früher Feierabend gemacht, hat geduscht, hat sich umgezogen – diesmal wirklich, nicht nur für den Oberkörper, den man in der Kamera sieht, sondern komplett. Als würde sie zu einem wichtigen Termin gehen. Als würde ihr neues Leben beginnen.
/note/ Um 18:50 Uhr sitzt sie vor dem Laptop, Kopfhörer auf, Notizbuch bereit, ein Glas Wasser neben sich. Sie ist aufgeregt wie vor einem ersten Date.
/note/ Der Zoom-Raum öffnet sich. Achtzehn Kacheln. Achtzehn Frauen, diesmal fast alle mit eingeschalteter Kamera. Lisa sieht Gesichter: jung und älter, geschminkt und ungeschminkt, lächelnd und nervös. Namen darunter: Julia, Stefanie, Melanie, Anna, Caro_Newstart, TransformationJourney_Lea. Und ganz oben, in der großen Kachel: Marie.
Marie Sommer (Coachin): Willkommen, ihr Wundervollen. Willkommen bei Soul Shift. Willkommen in eurem neuen Leben.
/note/ Maries Stimme ist warm, fast feierlich. Sie trägt ein cremefarbenes Oberteil, große goldene Ohrringe, ihr Haar fällt offen über die Schultern. Hinter ihr brennen Kerzen.
Marie Sommer (Coachin): Ich schaue in eure Gesichter und ich spüre so viel. So viel Mut, so viel Bereitschaft, so viel Sehnsucht. Ihr seid hier, weil ihr Ja gesagt habt. Zu euch selbst. Zu eurer Transformation. Das ist nicht selbstverständlich. Die meisten Menschen sagen ihr ganzes Leben lang Nein zu sich selbst. Ihr habt Ja gesagt. Dafür möchte ich euch feiern.
/note/ Im Chat erscheinen Herzen und Emojis. 💛 🙏 ✨
Marie Sommer (Coachin): Die nächsten zwölf Wochen werden intensiv. Ich werde euch nicht anlügen: Es wird nicht immer leicht sein. Ihr werdet an Grenzen stoßen. Ihr werdet Dinge fühlen, die ihr lange verdrängt habt. Ihr werdet Muster sehen, die ihr nicht sehen wolltet. Aber ihr werdet nicht allein sein. Ihr habt mich. Ihr habt euch gegenseitig. Ihr habt die Soul Sisters.
/same/ Lasst uns mit einer kleinen Vorstellungsrunde beginnen. Jede von euch sagt kurz, wer sie ist, warum sie hier ist, und was sie sich von den nächsten zwölf Wochen erhofft. Wer möchte anfangen?
/note/ Die nächste Stunde hört Lisa zu, wie Frau nach Frau sich vorstellt. Die Geschichten ähneln sich auf eine fast unheimliche Weise. Erschöpfung. Leere. Das Gefühl, nur zu funktionieren. Beziehungen, die nicht funktionieren. Jobs, die nicht erfüllen. Die Frage: Ist das alles?
/note/ Eine Frau, Mitte dreißig, Marketingmanagerin, erzählt von ihrer Scheidung und davon, dass sie sich selbst verloren hat. Eine andere, Anfang fünfzig, sagt, ihre Kinder seien ausgezogen und sie wisse nicht mehr, wer sie ohne die Mutterrolle sei. Eine dritte, kaum älter als Lisa, weint, während sie von ihrer Angststörung erzählt, von den Panikattacken, die niemand versteht.
/note/ Lisa fühlt sich gesehen. Diese Frauen – sie sind wie sie. Sie verstehen. Sie urteilen nicht. Sie nicken, wenn sie spricht. Sie schreiben Herzen in den Chat.
/note/ Als Lisa an der Reihe ist, räuspert sie sich.
Lisa Berger (Protagonistin): Hi, ich bin Lisa. Ich bin 34, ich arbeite als Projektmanagerin in München. Und ich bin hier, weil… weil ich das Gefühl habe, dass ich mein eigenes Leben verpasse. Dass ich nur funktioniere, aber nicht lebe. Ich hoffe, dass ich in den nächsten zwölf Wochen herausfinde, wer ich eigentlich bin. Unter all dem Funktionieren.
Marie Sommer (Coachin): Danke, Lisa. Danke, dass du dich zeigst. Ich sehe dich. Wir sehen dich. Du bist genau richtig hier.
/note/ Im Chat erscheinen Herzen. „Willkommen Lisa! 💛“ „Du schaffst das!“ „So mutig!“
/note/ Lisa spürt etwas in ihrer Brust. Wärme. Zugehörigkeit. Das Gefühl, angekommen zu sein.
/note/ Nach der Vorstellungsrunde führt Marie eine Übung durch. Sie nennt sie „Ankommen im Körper“. Alle sollen die Augen schließen, tief atmen, die Füße auf dem Boden spüren. Marie spricht mit langsamer, hypnotischer Stimme.
Marie Sommer (Coachin): Spüre deinen Atem. Spüre, wie er kommt und geht. Du musst nichts tun. Du musst nichts leisten. Du darfst einfach sein. Hier. Jetzt. In diesem Moment bist du sicher. In diesem Moment bist du gehalten. In diesem Moment bist du genug.
/note/ Lisa sitzt mit geschlossenen Augen vor ihrem Laptop und merkt, wie sich ihre Schultern senken. Wie die Anspannung nachlässt. Wie etwas in ihr weich wird.
/note/ Am Ende des Calls gibt Marie „Hausaufgaben“: jeden Tag zehn Minuten Journaling, jeden Morgen die Atemübung, und ein Video aus der Bibliothek anschauen – „Das Nervensystem verstehen“.
Marie Sommer (Coachin): Und vergesst nicht: Schreibt in die WhatsApp-Gruppe. Teilt, was hochkommt. Ihr seid nicht allein. Nie wieder.
/note/ Lisa geht an diesem Abend ins Bett mit einem Gefühl, das sie lange nicht hatte: Hoffnung.
/note/ Die ersten zwei Wochen sind intensiv. Lisa schaut jeden Tag Videos aus der Bibliothek. „Dein Nervensystem verstehen.“ „Glaubenssätze erkennen und auflösen.“ „Die Weisheit des Körpers.“ „Warum du dich klein machst – und wie du aufhörst.“ Sie füllt Arbeitsblätter aus, sie schreibt in ihr Journal, sie macht morgens die Atemübungen.
/note/ Sie schreibt in die WhatsApp-Gruppe, die „Soul Sisters 💛“ heißt, und bekommt sofort Zuspruch. Wenn sie morgens schreibt „Heute ist ein schwerer Tag“, antworten innerhalb von Minuten drei, vier, fünf Frauen. Herz-Emojis, „Du schaffst das“, „Wir sind bei dir“, „Fühl dich gedrückt“.
/note/ Als sie von einem Konflikt mit ihrem Chef erzählt, schreibt eine Frau namens Stefanie: „Das triggert dein Nervensystem. Dein System geht in den Schutzmodus. Mach die Atemübung aus Modul 3, das hilft.“ Lisa macht die Übung. Es hilft. Oder sie glaubt, dass es hilft. Jedenfalls fühlt sie sich besser.
/note/ Die Gruppen-Calls sind jede Woche der Höhepunkt. Marie führt durch Übungen, beantwortet Fragen, arbeitet manchmal live mit einzelnen Teilnehmerinnen. „Hot Seats“ nennt sie das – eine Frau teilt ein Thema, Marie stellt Fragen, alle anderen schauen zu. Es ist intim, fast voyeuristisch, aber auch bewegend. Lisa weint oft, wenn sie zusieht. Die Geschichten berühren sie. Die Tränen der anderen fühlen sich an wie ihre eigenen.
/note/ Nach drei Wochen hat Lisa ihren ersten Eins-zu-eins-Call mit Marie. Dreißig Minuten, nur sie beide. Sie ist nervös, aber auch aufgeregt. Endlich Zeit allein mit Marie. Endlich die volle Aufmerksamkeit.
/note/ Marie fragt, wie es ihr geht. Lisa erzählt von den Übungen, die sie macht, von den Erkenntnissen, die sie hat. Dass sie Muster sieht, die sie vorher nicht gesehen hat. Dass sie versteht, warum sie sich immer klein macht. Dass sie anfängt, anders mit sich zu sprechen.
Marie Sommer (Coachin): Das ist wunderbar, Lisa. Ich spüre, wie viel sich bei dir bewegt. Du bist auf einem guten Weg.
Lisa Berger (Protagonistin): Danke. Ich… ich habe nur manchmal das Gefühl, dass es nicht schnell genug geht. Dass ich immer noch so müde bin. Dass sich im Außen noch nichts verändert hat.
Marie Sommer (Coachin): Das Außen kommt später. Erst muss sich das Innen verändern. Du legst gerade das Fundament. Das sieht man nicht sofort. Aber es ist da. Vertrau dem Prozess.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich versuche es.
Marie Sommer (Coachin): Versuch es nicht. Tu es. Vertrauen ist eine Entscheidung, kein Gefühl.
/note/ Lisa nickt. Sie schreibt sich den Satz auf: „Vertrauen ist eine Entscheidung, kein Gefühl.“
/note/ Der Call endet. Lisa fühlt sich seltsam. Gesehen, ja. Aber auch… sie weiß nicht. Ein bisschen leer. Sie hatte erwartet, dass Marie tiefer geht. Dass sie Fragen stellt, die niemand sonst stellt. Dass sie sieht, was niemand sonst sieht. Stattdessen waren es dreißig Minuten freundlicher Ermutigung. Nett, aber… oberflächlich?
/note/ Sie schiebt den Gedanken beiseite. Das ist nur ihr Schutzprogramm, das sabotiert. Marie hat es im Webinar erklärt: Das Ego wehrt sich gegen Veränderung. Es findet immer Gründe, warum es nicht funktioniert. Das muss man erkennen und loslassen.
/note/ Sie macht die Atemübung. Sie schreibt in ihr Journal: „Ich vertraue dem Prozess.“
/note/ VII. Die ersten Zweifel
/note/ In Woche fünf passiert etwas.
/note/ Es ist Dienstagabend, Gruppen-Call wie jede Woche. Marie führt durch eine Übung, die sie „Timeline-Arbeit“ nennt. Alle sollen sich ihr Leben als Linie vorstellen, von der Geburt bis heute, und die Momente markieren, in denen sie gelernt haben, sich klein zu machen. „Die Ursprungswunden“, sagt Marie. „Die Momente, in denen ihr euch entschieden habt, nicht mehr voll zu leuchten.“
/note/ Eine Frau namens Melanie meldet sich für den Hot Seat. Sie ist Ende dreißig, Krankenschwester, alleinerziehend. Sie hat in den letzten Wochen oft in der Gruppe geschrieben, immer sehr offen, sehr verletzlich. Lisa mag sie.
/note/ Melanie erzählt von ihrer Kindheit. Von einem Vater, der trank. Von einer Mutter, die wegschaute. Von Momenten der Angst, der Scham, der Hilflosigkeit. Sie weint, während sie spricht. Ihre Stimme zittert.
Melanie (Teilnehmerin): Und ich glaube… ich glaube, deshalb fällt es mir so schwer, jemandem zu vertrauen. Deshalb sabotiere ich jede Beziehung. Weil ich gelernt habe, dass die Menschen, die mich lieben sollten, mich verletzen.
/note/ Marie nickt mitfühlend.
Marie Sommer (Coachin): Das ist eine tiefe Erkenntnis, Melanie. Ich spüre, wie viel Schmerz da ist. Und ich spüre auch, wie mutig du bist, das mit uns zu teilen.
/same/ Aber ich möchte dich etwas fragen, und ich möchte, dass du ehrlich antwortest. Nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Körper.
Melanie (Teilnehmerin): Okay.
Marie Sommer (Coachin): Glaubst du, dass du die Liebe verdienst, die du dir wünschst? Tief drinnen, wirklich, wahrhaftig – glaubst du, dass du es verdienst, geliebt zu werden?
/note/ Stille. Melanie schluckt. Ihre Augen sind rot.
Melanie (Teilnehmerin): Ich… ich weiß nicht. Manchmal ja. Manchmal nein.
Marie Sommer (Coachin): Das „Nein“ – das ist nicht du. Das ist dein Trauma, das spricht. Das ist die kleine Melanie, die gelernt hat, dass sie nicht gut genug ist. Aber diese kleine Melanie ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist: Du verdienst Liebe. Du verdienst alles, was du dir wünschst. Du musst nur aufhören, dich selbst im Weg zu stehen.
/note/ Lisa schaut zu. Sie kennt diese Sätze mittlerweile. Sie hat sie in den Videos gehört, in den Calls, in der Gruppe. „Du verdienst es.“ „Du bist genug.“ „Dein Trauma ist nicht deine Wahrheit.“ Es sind gute Sätze. Ermutigende Sätze. Aber irgendwas… irgendwas fühlt sich heute anders an.
/note/ Sie schaut auf Melanie, die weint, die nickt, die „Danke, Marie“ flüstert. Und sie denkt: Das reicht doch nicht. Diese Frau hat gerade von Missbrauch erzählt – emotionalem Missbrauch, Vernachlässigung, Trauma. Und die Antwort ist „Du verdienst Liebe“?
/note/ Sie schiebt den Gedanken beiseite. Das ist ihr Schutzprogramm. Das ist ihr Widerstand.
/note/ Aber der Gedanke kommt wieder. In dieser Nacht, während sie wach liegt. In den nächsten Tagen, während sie die Videos schaut. In der WhatsApp-Gruppe, während sie die Nachrichten liest.
/note/ Sie beginnt, Dinge zu bemerken.
/note/ Sie bemerkt, dass Marie in jedem Call dieselben Phrasen verwendet. „Ich spüre…“ „Dein System…“ „Das ist nicht du, das ist dein Trauma…“ „Vertrau dem Prozess.“ Es klingt immer noch schön, aber es klingt auch… formelhaft. Wie ein Skript, das sie abspult.
/note/ Sie bemerkt, dass die Übungen sich wiederholen. Atemarbeit, Journaling, Visualisierung, Körperübungen. Alles nett, alles vielleicht hilfreich, aber nichts wirklich Neues nach Woche fünf.
/note/ Sie bemerkt, dass die Eins-zu-eins-Calls kurz sind – dreißig Minuten, einmal im Monat. Bei achtzehn Teilnehmerinnen macht das neun Stunden pro Monat. Plus die wöchentlichen Gruppen-Calls, vielleicht zehn Stunden. Dafür zahlen achtzehn Frauen zusammen fast 100.000 Euro.
/note/ Sie bemerkt, dass die WhatsApp-Gruppe zwar aktiv ist, aber hauptsächlich mit Ermutigung und Emojis gefüllt. Wenn jemand ein echtes Problem postet – einen Konflikt, eine Krise, einen Zusammenbruch –, kommen Herzen und „Du schaffst das“ und „Fühl dich gedrückt“, aber keine wirklichen Lösungen. Keine Nachfragen. Keine Tiefe.
/note/ Sie bemerkt, dass Marie in der Gruppe kaum präsent ist. Ein paar Sprachnachrichten pro Woche, ein paar Kommentare unter besonders emotionalen Posts. Aber keine echte Begleitung. Keine Antworten auf konkrete Fragen. Keine Interventionen, wenn jemand offensichtlich kämpft.
/note/ Eines Abends postet eine Frau namens Caro in die Gruppe. Sie klingt verzweifelt.
Caro (Teilnehmerin, in der Gruppe): Ich weiß nicht, ob ich weitermachen kann. Ich habe heute den ganzen Tag geweint. Alles kommt hoch – die Kindheit, die Ehe, alles. Ich fühle mich, als würde ich auseinanderfallen. Ich habe Angst, dass ich nicht stark genug bin für diesen Prozess.
/note/ Innerhalb von Minuten kommen Antworten.
Andere Teilnehmerin 1 (in der Gruppe): Du schaffst das, Caro! Wir sind bei dir! 💪💛
Andere Teilnehmerin 2 (in der Gruppe): Das Auseinanderfallen ist Teil des Prozesses. Danach kommt das Zusammensetzen. Besser. Stärker. ✨
Andere Teilnehmerin 3 (in der Gruppe): Mach die Atemübung aus Modul 4, die hilft mir immer, wenn ich mich so fühle! 🙏
/note/ Lisa liest die Antworten. Sie fühlen sich falsch an. Diese Frau schreibt, dass sie auseinanderfällt, dass sie Angst hat – und die Antwort ist eine Atemübung?
/note/ Sie wartet, ob Marie antwortet. Eine Stunde vergeht. Zwei. Drei.
/note/ Am nächsten Morgen kommt eine Sprachnachricht von Marie in die Gruppe.
Marie Sommer (Coachin, Sprachnachricht): Guten Morgen, ihr Lieben! Ich habe gestern Abend eure Nachrichten gelesen. Caro, ich sehe dich, ich halte dich im Herzen. Was du erlebst, ist normal. Das ist dein System, das sich reinigt. Alte Energie, die rauswill. Lass es zu. Wehr dich nicht dagegen. Auf der anderen Seite wartet die Frau, die du sein sollst.
/note/ Lisa starrt auf ihr Handy. Das ist alles? Diese Frau hatte gestern Abend eine Krise – und die Antwort kommt fünfzehn Stunden später, als Sprachnachricht, mit allgemeinen Phrasen?
/note/ Sie schreibt eine private Nachricht an Caro.
Lisa Berger (Protagonistin, private Nachricht): Hey Caro, ich hab deinen Post gestern gelesen. Wie geht es dir heute? Ich bin da, wenn du reden willst.
/note/ Caro antwortet nach einer Stunde.
Caro (Teilnehmerin, private Nachricht): Danke Lisa 💛 Geht schon besser. War wohl einfach ein harter Tag. Aber Marie hat recht, das ist der Prozess. Man muss durch, um rauszukommen.
/note/ Lisa liest die Nachricht. Caro wiederholt Maries Worte, als wären es ihre eigenen. „Das ist der Prozess.“ „Man muss durch.“ Als hätte sie ein Skript internalisiert.
/note/ Lisa fragt sich, ob sie dasselbe tut.
/note/ VIII. Die Immunisierung
/note/ In Woche sieben meldet sich Lisa für einen Hot Seat. Sie hat lange gezögert, aber sie muss es wissen. Sie muss verstehen, ob ihre Zweifel berechtigt sind – oder ob sie sich selbst sabotiert, wie Marie es sagen würde.
/note/ Der Call beginnt wie immer. Marie strahlt, die Gruppe ist energetisch, es gibt Atemübungen und Check-ins. Dann fragt Marie, wer für einen Hot Seat bereit ist. Lisa hebt die Hand.
Marie Sommer (Coachin): Lisa! Schön, dass du dich meldest. Was beschäftigt dich?
/note/ Lisa atmet tief durch.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich… ich habe in letzter Zeit Zweifel gehabt. Nicht an mir – also, doch, auch an mir. Aber auch an… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. An dem Prozess vielleicht.
Marie Sommer (Coachin): Erzähl mehr. Was für Zweifel?
Lisa Berger (Protagonistin): Ich frage mich manchmal, ob das hier… ob das genug ist. Für das, was wir durchmachen, meine ich. Manche von uns haben echte Themen – Trauma, Angst, Depression. Und ich frage mich, ob Atemübungen und Journaling und Zoom-Calls wirklich reichen, um das zu bearbeiten. Ob wir nicht… ich weiß nicht… professionelle Hilfe bräuchten. Therapie oder so.
/note/ Stille im Call. Lisa spürt, wie ihr Herz rast. Hat sie zu viel gesagt? Hat sie alles kaputt gemacht?
/note/ Marie nickt langsam. Ihr Gesichtsausdruck ist ruhig, aber ihre Augen sind wachsam.
Marie Sommer (Coachin): Ich danke dir für deine Ehrlichkeit, Lisa. Es braucht Mut, das auszusprechen. Und ich möchte dir eine ehrliche Antwort geben.
/same/ Erstens: Ja, es gibt Fälle, in denen Therapie sinnvoll ist. Ich sage niemandem, dass sie keine Therapie machen soll. Wenn jemand schwere psychische Erkrankungen hat – klinische Depression, schwere Traumafolgestörungen, Suizidgedanken –, dann gehört das in professionelle Hände. Das habe ich immer gesagt und das sage ich auch jetzt.
/same/ Aber – und das ist wichtig – die meisten Menschen, die zu mir kommen, sind nicht „krank“ im klinischen Sinn. Sie sind erschöpft. Sie sind unglücklich. Sie haben den Kontakt zu sich selbst verloren. Und dafür ist Therapie oft nicht der richtige Weg.
Lisa Berger (Protagonistin): Warum nicht?
Marie Sommer (Coachin): Weil Therapie dich oft in der Vergangenheit festhält. Du redest über deine Kindheit, über deine Eltern, über alles, was schiefgelaufen ist – und am Ende weißt du zwar, warum du so bist, wie du bist, aber du bist immer noch so, wie du bist. Verstehst du, was ich meine?
/same/ Coaching ist anders. Wir schauen nach vorne. Wir fragen nicht nur „Warum bist du so?“, sondern „Wer willst du sein?“ Wir arbeiten mit dem Körper, mit dem Nervensystem, mit der Energie. Wir lösen Blockaden auf einer anderen Ebene als nur der kognitiven.
/same/ Therapie hat ihren Platz. Aber sie ist nicht für jeden das Richtige. Und viele Menschen – ich war selbst eine davon – haben Jahre in Therapie verbracht, ohne dass sich wirklich etwas verändert hat. Erst als ich zu anderen Methoden gekommen bin, ist etwas passiert.
/note/ Lisa schweigt. Es klingt logisch. Es klingt überzeugend. Aber irgendwo in ihr ist eine kleine Stimme, die sagt: Das stimmt nicht. Das ist nicht, was Therapie ist. Das ist eine Karikatur.
/note/ Sie ignoriert die Stimme.
Marie Sommer (Coachin): Und Lisa – ich möchte dich noch etwas fragen. Diese Zweifel, die du hast… wann sind sie aufgetaucht? Am Anfang, oder erst jetzt, nach ein paar Wochen?
Lisa Berger (Protagonistin): Erst in letzter Zeit. In den letzten zwei Wochen vielleicht.
Marie Sommer (Coachin): Das ist kein Zufall. Weißt du, was in Woche sechs und sieben passiert? Das ist die Zeit, in der das Ego am lautesten wird. Die Zeit, in der das alte System merkt, dass echte Veränderung kommt – und alles tut, um sie aufzuhalten.
/same/ Die Zweifel, die du hast, Lisa – das bist nicht du. Das ist dein Schutzprogramm. Das ist der Teil von dir, der Angst vor Veränderung hat. Der lieber alles beim Alten lassen will, weil das Alte zwar schmerzhaft, aber wenigstens bekannt ist.
/same/ Ich sage nicht, dass deine Fragen dumm sind. Sie sind berechtigt. Aber frag dich: Kommen sie aus einem Ort der Neugier – oder aus einem Ort der Angst?
/note/ Lisa spürt, wie ihr Widerstand bröckelt. Marie hat recht. Natürlich hat Marie recht. Die Zweifel sind aufgetaucht, als es schwieriger wurde. Das ist doch verdächtig. Das ist doch genau das, was das Ego machen würde.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich… ja. Wahrscheinlich hast du recht. Ich glaube, ich hatte einfach Angst.
Marie Sommer (Coachin): Natürlich hattest du Angst. Wir alle haben Angst vor Veränderung. Aber du bist mutiger als deine Angst, Lisa. Sonst wärst du nicht hier. Sonst hättest du nie Ja gesagt.
/same/ Ich lade dich ein, deine Zweifel nicht als Feind zu sehen – sondern als Information. Sie zeigen dir, wo noch alte Muster sind. Wo noch Arbeit ist. Und das ist gut. Das bedeutet, dass du auf dem richtigen Weg bist.
/note/ Lisa nickt. Sie fühlt sich erleichtert und beschämt zugleich. Erleichtert, weil Marie nicht wütend ist, nicht defensiv, nicht gekränkt. Beschämt, weil sie gezweifelt hat. Weil sie fast etwas kaputt gemacht hätte – die Gruppe, das Vertrauen, den Prozess.
Lisa Berger (Protagonistin): Danke, Marie. Danke, dass du so geduldig mit mir bist.
Marie Sommer (Coachin): Immer. Ich sehe dich, Lisa. Und ich glaube an dich. Auch wenn du gerade nicht an dich selbst glaubst.
/note/ Der Call geht weiter. Lisa sitzt vor dem Bildschirm und lächelt, während die nächste Teilnehmerin drankommt. Aber tief in ihr, ganz tief, ist ein kleiner Knoten, der sich nicht auflöst. Eine Frage, die sie nicht stellen durfte: Warum fühlt sich die Antwort an wie ein Skript? Warum hat Marie auf keine ihrer konkreten Punkte geantwortet? Warum wurde aus „Ich habe Zweifel am Programm“ plötzlich „Du hast Angst vor Veränderung“?
/note/ Sie schiebt die Frage beiseite. Sie macht die Atemübung. Sie schreibt in ihr Journal: „Ich vertraue dem Prozess. Meine Zweifel sind mein Ego.“
/note/ Aber der Knoten bleibt.
/note/ IX. Der Riss
/note/ In Woche neun passiert etwas, das Lisa nicht mehr ignorieren kann.
/note/ Es ist Dienstagabend, Gruppen-Call. Marie hat eine neue Übung angekündigt, etwas Besonderes für die fortgeschrittene Phase des Programms. Sie nennt es „Inneres-Kind-Arbeit“. Die Idee: Man soll in einer geführten Meditation zurückgehen zu einem Moment in der Kindheit, in dem man verletzt wurde. Man soll das innere Kind finden, es trösten, ihm sagen, was es damals nicht gehört hat.
Marie Sommer (Coachin): Das ist eine der kraftvollsten Übungen, die ich kenne. Sie hat mein Leben verändert. Aber ich warne euch: Sie ist auch intensiv. Es kann sein, dass starke Gefühle hochkommen. Das ist normal. Das ist sogar gut. Es bedeutet, dass alte Energie freigesetzt wird. Dass Heilung passiert.
/same/ Wenn es zu viel wird, könnt ihr jederzeit die Augen öffnen und euch erden. Füße auf den Boden, tief atmen, euch umschauen. Aber ich lade euch ein, so weit zu gehen, wie ihr könnt. Das ist der Ort, wo die echte Transformation passiert. Am Rand der Komfortzone.
/note/ Lisa ist skeptisch, aber sie macht mit. Sie schließt die Augen, folgt Maries Stimme, die sie zurückführt in die Vergangenheit. „Stell dir vor, du gehst einen Weg entlang… einen Weg in deine Kindheit… du siehst ein Haus… das Haus, in dem du aufgewachsen bist…“
/note/ Lisa sieht das Reihenhaus in Augsburg, in dem sie groß geworden ist. Sie sieht sich selbst als Kind, acht oder neun Jahre alt, in ihrem Zimmer. Sie spürt… nicht viel, ehrlich gesagt. Ein bisschen Nostalgie. Ein bisschen Traurigkeit. Aber nichts Dramatisches.
/note/ Dann hört sie einen Laut. Ein Schluchzen, durch die Laptop-Lautsprecher. Jemand weint.
/note/ Sie öffnet die Augen und schaut auf den Bildschirm. Eine Teilnehmerin – Saskia, Anfang dreißig, stille Frau, die selten spricht – sitzt vor ihrer Kamera und weint. Nicht leise, sondern heftig, mit Schluchzern, die ihren ganzen Körper schütteln. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Hände zittern.
/note/ Marie sieht es auch.
Marie Sommer (Coachin): Saskia. Ich sehe dich. Du bist sicher. Was auch immer hochkommt, lass es zu. Du bist nicht allein. Wir halten dich.
/note/ Aber Saskia hört nicht auf zu weinen. Im Gegenteil – es wird schlimmer. Sie fängt an zu hyperventilieren. Ihre Hände greifen ins Leere. Sie murmelt etwas, das Lisa nicht verstehen kann, aber es klingt wie „Nein, bitte nicht, bitte nicht.“
/note/ Lisa spürt Alarm in ihrem Körper. Das ist keine normale Reaktion. Das ist keine „Energie, die freigesetzt wird“. Das sieht aus wie eine Panikattacke. Oder schlimmer.
/note/ Andere Teilnehmerinnen öffnen die Augen, schauen besorgt. Im Chat erscheinen Nachrichten: „Ist alles okay mit Saskia?“ „Sollen wir was tun?“ „💛💛💛“
Marie Sommer (Coachin): Saskia, hörst du mich? Ich möchte, dass du tief atmest. Einatmen, zwei, drei, vier. Ausatmen, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Du bist hier. Du bist sicher. Das ist die Vergangenheit, nicht die Gegenwart.
/note/ Saskia reagiert nicht. Sie weint weiter, hyperventiliert weiter, scheint in einer anderen Welt zu sein.
/note/ Lisa greift nach ihrem Handy. Sie überlegt, ob sie den Notruf rufen soll – aber sie weiß ja nicht mal, wo Saskia wohnt. Sie ist irgendwo in Deutschland, aber wo?
/note/ Nach fünf Minuten – fünf Minuten, die sich anfühlen wie eine Stunde – beruhigt sich Saskia langsam. Ihre Atmung wird regelmäßiger. Sie öffnet die Augen, verwirrt, als würde sie nicht wissen, wo sie ist.
Saskia (Teilnehmerin): Ich… was ist passiert?
Marie Sommer (Coachin): Du hattest einen Durchbruch, Saskia. Dein Körper hat alte Energie freigesetzt. Das war mutig. Das war kraftvoll. Wie fühlst du dich jetzt?
Saskia (Teilnehmerin): Ich weiß nicht. Leer. Erschöpft.
Marie Sommer (Coachin): Das ist normal nach so einer tiefen Arbeit. Ruh dich heute Abend aus. Trink viel Wasser. Sei sanft mit dir. Du hast heute etwas Großes geleistet.
/note/ Der Call geht weiter. Marie führt die Gruppe durch eine „Erdungsübung“, dann gibt es Check-ins, dann endet der Abend mit den üblichen Worten der Ermutigung und Zugehörigkeit.
/note/ Lisa sitzt vor dem Bildschirm und fühlt sich krank.
/note/ Das war kein „Durchbruch“. Das war eine dissoziative Episode. Oder eine Retraumatisierung. Oder beides. Lisa hat keine psychologische Ausbildung, aber sie hat genug gelesen, genug Videos geschaut – ironischerweise auch Maries Videos –, um zu wissen, dass das nicht normal war. Dass das nicht heilsam war. Dass Saskia gerade etwas Schlimmes widerfahren ist, live auf Zoom, vor achtzehn Frauen, die zusahen und Herz-Emojis schickten.
/note/ Sie schreibt Saskia eine private Nachricht.
Lisa Berger (Protagonistin, private Nachricht): Hey Saskia, ich wollte nur fragen, wie es dir geht. Das war heute intensiv. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um dich.
/note/ Saskias Antwort kommt erst am nächsten Mittag.
Saskia (Teilnehmerin, private Nachricht): Danke Lisa 💛 Mir geht es gut. Marie hat mir heute Morgen eine Sprachnachricht geschickt. Sie sagt, das war ein wichtiger Durchbruch. Dass alte Traumaenergie meinen Körper verlassen hat. Ich soll die nächsten Tage viel ruhen und die Atemübungen machen.
Lisa Berger (Protagonistin, private Nachricht): Das ist gut. Aber… hast du vielleicht auch jemanden, mit dem du persönlich reden kannst? Eine Therapeutin oder so?
Saskia (Teilnehmerin, private Nachricht): Ich war mal in Therapie. Hat nicht wirklich geholfen. Deshalb bin ich ja hier. Marie sagt, manchmal muss man die alten Methoden loslassen, um neue Wege zu finden.
/note/ Lisa starrt auf ihr Handy. Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Also antwortet sie nicht.
/note/ X. Der zweite Riss
/note/ Drei Tage später postet Caro in die WhatsApp-Gruppe. Es ist spät abends, kurz vor Mitternacht.
Caro (Teilnehmerin, in der Gruppe): Ich weiß nicht, ob ich das hier schreiben soll. Aber ich brauche gerade jemanden. Mir geht es nicht gut. Mir geht es schon die ganze Woche nicht gut. Seit der Inneren-Kind-Übung. Ich habe Gedanken… nicht gute Gedanken.
/note/ Lisa liest die Nachricht und spürt sofort Alarmglocken. „Nicht gute Gedanken.“ Das klingt nach etwas Ernstem.
/note/ Andere Teilnehmerinnen antworten innerhalb von Minuten.
Andere Teilnehmerin 1 (in der Gruppe): Caro, wir sind da für dich! Was brauchst du gerade? 💛
Andere Teilnehmerin 2 (in der Gruppe): Mach eine Atemübung. Oder leg dich hin und spür deinen Körper. Das hilft, wenn das Nervensystem überlastet ist.
Andere Teilnehmerin 3 (in der Gruppe): Das ist der Prozess, Caro. Es wird schlimmer, bevor es besser wird. Du bist so mutig! 🙏
/note/ Lisa wartet. Sie wartet auf jemanden, der fragt: Was für Gedanken? Sie wartet auf jemanden, der sagt: Vielleicht solltest du mit einem Arzt sprechen. Sie wartet auf Marie.
/note/ Caro schreibt weiter.
Caro (Teilnehmerin, in der Gruppe): Ich habe mich heute geritzt. Das erste Mal seit Jahren. Ich weiß nicht, warum. Ich habe gedacht, ich hätte das hinter mir. Aber es kam einfach. Nach der Übung am Dienstag ist alles wieder da. Die Dunkelheit. Die Gedanken. Alles.
/note/ Lisa starrt auf ihr Handy. Ihr Herz rast.
/note/ Im Chat ist kurz Stille. Dann kommen Antworten.
Andere Teilnehmerin 1 (in der Gruppe): Oh Caro 💔 Das tut mir so leid. Aber das ist dein altes System, das sich wehrt. Das ist keine Rückfall, das ist dein Körper, der alte Energie entlässt.
Andere Teilnehmerin 2 (in der Gruppe): Sei sanft mit dir. Verurteile dich nicht. Du bist nicht kaputt, du bist im Prozess.
Andere Teilnehmerin 3 (in der Gruppe): Vielleicht hilft dir die Übung „Körper spüren“ aus Modul 5? Die hat mir geholfen, als ich mich dissoziiert gefühlt habe.
/note/ Lisa kann nicht glauben, was sie liest. Eine Frau hat sich gerade geritzt – zum ersten Mal seit Jahren – und die Antworten sind Emojis und Modul-Empfehlungen?
/note/ Sie tippt eine Nachricht, löscht sie, tippt sie neu.
Lisa Berger (Protagonistin, in der Gruppe): Caro, ich mache mir Sorgen um dich. Selbstverletzung ist ernst. Bitte ruf jemanden an – eine Krisenhotline oder einen Arzt. Das ist keine Schwäche, das ist Selbstfürsorge. Die Telefonseelsorge ist kostenlos und 24/7 erreichbar0800 1110111 oder in Bayern auch der Krisendienst0800 / 655 3000.
/note/ Stille in der Gruppe. Für einen Moment schreibt niemand.
/note/ Dann kommt eine Sprachnachricht von Marie. Es ist 00:47 Uhr.
Marie Sommer (Coachin, Sprachnachricht): Caro, ich habe gerade deine Nachricht gelesen. Ich halte dich. Ich sehe dich. Was du erlebst, ist real und es ist schwer. Aber es ist auch ein Zeichen, dass tiefe Heilung passiert. Manchmal müssen alte Muster noch einmal auftauchen, bevor sie gehen können. Das Ritzen war ein Ventil, das du früher gebraucht hast. Dass es jetzt wieder aufgetaucht ist, zeigt, dass dein System noch Arbeit hat. Das ist keine Schande. Das ist Information.
/same/ Ich möchte, dass du heute Nacht gut auf dich aufpasst. Mach die Erdungsübung. Leg dich ins Bett. Morgen früh melde ich mich bei dir und wir sprechen. Du bist nicht allein. Du bist nie allein.
/note/ Lisa hört die Sprachnachricht und fühlt Wut aufsteigen. Echte Wut, zum ersten Mal in diesem Programm.
/note/ „Tiefe Heilung“? „Information“? Eine Frau mit offensichtlicher Selbstverletzungshistorie – wahrscheinlich Borderline-Symptomatik, denkt Lisa, obwohl sie keine Diagnose stellen kann – ritzt sich nach einer Übung, die explizit darauf ausgelegt ist, traumatische Erinnerungen zu aktivieren, und die Antwort ist: Das ist Teil des Prozesses?
/note/ Sie schreibt eine private Nachricht an Caro.
Lisa Berger (Protagonistin, private Nachricht): Caro, bitte ruf die Nummer an, die ich gepostet habe. Oder geh morgen zu deinem Hausarzt. Oder in eine psychiatrische Notaufnahme, wenn es heute Nacht schlimmer wird. Ich meine das ernst. Das ist nicht nur „Prozess“. Das ist dein Körper, der Hilfe braucht. Echte, professionelle Hilfe.
/note/ Caro antwortet nach zehn Minuten.
Caro (Teilnehmerin, private Nachricht): Danke Lisa. Ich glaub, du übertreibst ein bisschen. Ich hab das früher öfter gemacht, ich weiß, wie ich damit umgehe. Und Marie sagt, Therapie hat mir damals auch nicht geholfen. Vielleicht ist das hier ja der Weg, das wirklich zu heilen. Anders.
Lisa Berger (Protagonistin, private Nachricht): Caro, du hast dich gerade verletzt. Das ist keine Heilung. Das ist ein Rückfall. Bitte, bitte such dir Hilfe.
Caro (Teilnehmerin, private Nachricht): Ich denk drüber nach. Gute Nacht, Lisa. 💛
/note/ Lisa liegt in dieser Nacht wach. Sie starrt an die Decke und denkt an Caro. An Saskia. An alle Frauen in der Gruppe, die mit echten Problemen zu einer Frau gekommen sind, deren Qualifikation darin besteht, dass sie vor zehn Jahren selbst einen Burnout hatte.
/note/ Sie denkt an sich selbst. An die Glasglocke. An die Erschöpfung. An die Frage, ob sie depressiv ist.
/note/ Und sie denkt: Vielleicht brauche ich auch Hilfe. Echte Hilfe. Von jemandem, der dafür ausgebildet ist.
/note/ XI. Das Erstgespräch
/note/ Am nächsten Tag, in ihrer Mittagspause, sucht Lisa im Internet nach Psychotherapeuten in München. Es ist ein Impuls, fast wie ein Reflex – als hätte die Nacht etwas in ihr gelöst, eine Blockade, einen Widerstand.
/note/ Sie findet eine Praxis, nicht weit von ihrer Wohnung. Analytische Psychotherapie steht da. Kassenärztlich zugelassen. Erstgespräche nach Vereinbarung.
/note/ Sie ruft an. Eine freundliche Stimme am Telefon, eine Sprechstundenhilfe. Ja, es gibt einen Termin für ein Erstgespräch. Nächste Woche Mittwoch, 17 Uhr. Ob ihr das passt?
/note/ Es passt.
/note/ Die Woche bis zum Termin ist seltsam. Lisa macht weiter mit Soul Shift – sie geht zu dem Gruppen-Call, sie schreibt in die WhatsApp-Gruppe, sie macht ihre Übungen. Aber es fühlt sich an, als würde sie von außen zuschauen. Als wäre sie nicht mehr ganz dabei.
/note/ Caro scheint es besser zu gehen. Sie postet wieder in der Gruppe, erzählt von kleinen Erfolgen, schickt Emojis. Niemand erwähnt das Ritzen. Es ist, als wäre es nie passiert.
/note/ Saskia ist stiller geworden. Sie kommt zu den Calls, aber sie schaltet ihre Kamera aus. Sie meldet sich nicht mehr für Hot Seats.
/note/ Am Mittwoch um 17 Uhr sitzt Lisa in einem Wartezimmer. Es ist klein, schlicht eingerichtet. Ein paar Stühle, ein Beistelltisch mit Zeitschriften, ein Ficus in der Ecke. Keine inspirierenden Zitate an den Wänden. Keine Kerzen, keine Monstera, kein gedimmtes Licht.
/note/ Eine Tür öffnet sich. Ein Mann Mitte fünfzig, graue Haare, Brille, ruhiger Blick. Er trägt ein Sakko und eine Stoffhose. Er sieht aus wie ein Lehrer oder ein Bibliothekar.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Frau Berger? Kommen Sie herein.
/note/ Das Sprechzimmer ist noch schlichter als das Wartezimmer. Ein Schreibtisch, zwei Sessel, eine Couch an der Seite. Bücherregale an den Wänden. Ein Fenster mit Blick auf einen Hinterhof.
/note/ Lisa setzt sich. Sie ist nervös, aber anders nervös als vor dem Call mit Marie. Nicht aufgeregt-nervös. Eher vorsichtig.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Ich bin Dr. Weber. Schön, dass Sie da sind. Erzählen Sie mir, was Sie herführt.
/note/ Lisa erzählt. Von der Erschöpfung. Vom Gefühl, nur zu funktionieren. Von der Glasglocke. Sie erzählt auch – zögernd, fast widerwillig – von Soul Shift. Von Marie. Von dem, was in den letzten Wochen passiert ist.
/note/ Dr. Weber hört zu. Er unterbricht nicht, er nickt kaum, er macht keine „Mhm“-Geräusche. Er sitzt einfach da und hört zu, mit einer Aufmerksamkeit, die Lisa seltsam berührt. Es ist eine andere Art von Zuhören als bei Marie. Weniger performativ. Weniger reaktiv. Einfach… da.
/note/ Als sie fertig ist, schweigt er einen Moment. Dann sagt er:
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das klingt nach einer belastenden Zeit. Die Erschöpfung, die Sie beschreiben – seit wann erleben Sie die?
Lisa Berger (Protagonistin): Seit etwa einem Jahr. Vielleicht länger. Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Und gab es etwas, das es ausgelöst hat? Eine Veränderung, einen Verlust, ein Ereignis?
Lisa Berger (Protagonistin): Nicht wirklich. Es kam einfach… schleichend.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das ist häufig so. Manchmal sammelt sich etwas an, über Jahre, und irgendwann ist das Fass voll. Ohne dass man einen klaren Auslöser benennen kann.
/note/ Er stellt weitere Fragen. Konkrete Fragen. Wie sie schläft. Wie ihr Appetit ist. Ob sie Gedanken hat, sich selbst zu verletzen. Ob sie Suizidgedanken hat. Die Fragen sind direkt, fast nüchtern, aber nicht kalt. Eher wie ein Arzt, der eine Anamnese macht.
Lisa Berger (Protagonistin): Nein, keine Suizidgedanken. Ich bin nicht… ich bin nicht so weit. Ich bin nur müde. Und leer.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das ist wichtig zu unterscheiden. Müdigkeit und Leere können Symptome einer Depression sein – aber sie können auch andere Ursachen haben. Dafür sind wir hier. Um zu verstehen, was bei Ihnen los ist.
/note/ Lisa nickt. Sie spürt etwas in ihrer Brust. Erleichterung? Es ist, als hätte jemand endlich ein Licht angemacht in einem dunklen Raum. Nicht die warmen Kerzen von Marie, die alles in weiches, schmeichelndes Licht tauchen. Sondern eine nüchterne Deckenlampe, die einfach zeigt, was da ist.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Sie haben erwähnt, dass Sie in den letzten Wochen an einem Coaching-Programm teilgenommen haben. Darf ich fragen, was Sie dort erlebt haben?
/note/ Lisa erzählt von den Übungen. Von der Inneren-Kind-Arbeit. Von Saskia, die dissoziiert hat. Von Caro, die sich geritzt hat. Von den Antworten in der Gruppe. Von Marie, die alles als „Prozess“ deutet.
/note/ Dr. Weber hört zu. Sein Gesicht bleibt neutral, aber Lisa meint, etwas in seinen Augen zu sehen. Eine Reaktion, die er kontrolliert.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das, was Sie beschreiben – diese Innere-Kind-Übungen, die ohne professionelle Begleitung durchgeführt werden, mit Menschen, die möglicherweise traumatische Erfahrungen haben –, das ist nicht ungefährlich. Traumaarbeit erfordert eine sehr sorgfältige Herangehensweise. Einen geschützten Rahmen. Jemanden, der weiß, wie man mit Dissoziation umgeht, mit Flashbacks, mit dem, was wir Retraumatisierung nennen.
Lisa Berger (Protagonistin): Retraumatisierung?
Dr. Weber (Psychotherapeut): Wenn jemand ein Trauma hat – sei es aus der Kindheit oder später – und dann durch eine Übung oder eine Situation wieder in dieses Erleben hineinkommt, ohne die Möglichkeit, es zu verarbeiten, kann das den ursprünglichen Schaden verstärken. Statt zu heilen, wird die Wunde wieder aufgerissen.
/same/ Das ist das Risiko bei Methoden, die auf schnelle emotionale Durchbrüche abzielen. Sie können bei manchen Menschen kurzfristig Erleichterung bringen. Bei anderen – besonders bei denen mit komplexen Traumageschichten – können sie erheblichen Schaden anrichten.
/note/ Lisa schweigt. Sie denkt an Saskia, die geweint hat wie ein Kind. An Caro, die sich geritzt hat. An Marie, die gesagt hat: „Das ist der Prozess.“
Lisa Berger (Protagonistin): Die Frau, die das Programm leitet… sie sagt, sie hat selbst einen Burnout gehabt. Dass sie sich selbst geheilt hat. Dass Therapie ihr nicht geholfen hat.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das mag ihre persönliche Erfahrung sein. Aber persönliche Erfahrung ist keine Qualifikation. Ich habe selbst einmal eine Grippe gehabt – das macht mich nicht zum Arzt.
/same/ Und was die Aussage betrifft, dass Therapie nicht hilft… Therapie ist kein monolithisches Ding. Es gibt viele verschiedene Formen, viele verschiedene Ansätze. Manche passen besser zu bestimmten Menschen als andere. Wenn jemand sagt „Therapie hat mir nicht geholfen“, kann das viele Dinge bedeuten. Es kann bedeuten, dass sie die falsche Therapieform hatte, den falschen Therapeuten, dass sie nicht bereit war – oder auch, dass sie nicht lange genug dabei geblieben ist.
/same/ Was es nicht bedeutet, ist, dass Therapie grundsätzlich nicht funktioniert. Dafür gibt es zu viel Evidenz.
/note/ Lisa nickt langsam. Sie spürt, wie etwas in ihr sich ordnet. Wie Puzzleteile zusammenfallen.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich habe mich gefragt… ich meine, ich habe angefangen zu zweifeln an dem Programm. Aber dann hat Marie gesagt, dass meine Zweifel mein „Schutzprogramm“ sind. Mein Ego, das sich gegen Veränderung wehrt.
/note/ Dr. Weber nickt, fast unmerklich.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das ist eine Argumentation, die ich oft höre, wenn Menschen mir von solchen Programmen erzählen. Sie hat eine elegante Logik: Wenn Sie glauben, funktioniert das Programm. Wenn Sie zweifeln, beweist das, dass Sie noch mehr Programm brauchen. Es gibt keine Möglichkeit, aus dieser Logik auszusteigen. Jeder Einwand wird zum Beweis für seine eigene Entkräftung.
Lisa Berger (Protagonistin): Ein Double Bind.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Genau. Sie kennen den Begriff?
Lisa Berger (Protagonistin): Ich habe ihn irgendwo gelesen.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Die Frage, die Sie sich stellen sollten, ist nicht: Hat mein Ego Angst vor Veränderung? Die Frage ist: Sind meine Zweifel berechtigt? Und das lässt sich relativ nüchtern prüfen. Welche Qualifikation hat die Person, die das Programm leitet? Gibt es Evidenz für die Methoden, die verwendet werden? Wie wird mit Krisen umgegangen? Was passiert, wenn es jemandem schlechter geht?
/same/ Wenn die Antworten auf diese Fragen Sie beunruhigen, dann sind Ihre Zweifel wahrscheinlich keine Sabotage Ihres Egos. Dann sind sie Ihr Verstand, der seine Arbeit tut.
/note/ Lisa sitzt da und spürt, wie ihr Tränen in die Augen steigen. Aber es sind andere Tränen als die, die sie bei Soul Shift geweint hat. Nicht die kathartischen Tränen eines „Durchbruchs“. Eher die Tränen von jemandem, der aufwacht aus einem seltsamen Traum.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich habe 5.300 Euro bezahlt. Für zwölf Wochen. Wir sind jetzt in Woche neun.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das ist viel Geld.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich weiß. Und ich weiß nicht, ob ich es zurückbekomme. Aber ich glaube… ich glaube, ich kann nicht weitermachen. Ich kann nicht dasitzen und zuschauen, wie Frauen verletzt werden, und so tun, als wäre das Heilung.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das klingt nach einem klaren Gefühl.
Lisa Berger (Protagonistin): Ja. Ja, es ist klar.
/note/ Stille. Dr. Weber wartet. Er drängt nicht, er füllt die Stille nicht mit Ratschlägen oder Ermutigung. Er lässt sie einfach da sein.
Lisa Berger (Protagonistin): Was machen wir jetzt? Ich meine, hier. Mit mir.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Das Erstgespräch dient dazu, dass wir uns kennenlernen. Dass Sie sehen, ob Sie sich hier vorstellen können, zu arbeiten. Und dass ich einschätze, ob ich der Richtige für Sie bin.
/same/ Mein vorläufiger Eindruck ist: Sie beschreiben Symptome, die auf eine depressive Episode hindeuten könnten. Erschöpfung, Antriebslosigkeit, das Gefühl von Leere, der Verlust von Freude. Das sollte abgeklärt werden – erst hausärztlich, um körperliche Ursachen auszuschließen, dann hier, in einer sorgfältigen diagnostischen Phase.
/same/ Wenn Sie möchten, können wir mit sogenannten probatorischen Sitzungen beginnen. Das sind bis zu vier Sitzungen, in denen wir tiefer schauen, bevor wir entscheiden, ob und welche Form von Psychotherapie indiziert ist. Die werden von der Krankenkasse bezahlt.
Lisa Berger (Protagonistin): Von der Krankenkasse?
Dr. Weber (Psychotherapeut): Ja. Ich bin kassenzugelassen. Sie brauchen nur Ihre Versichertenkarte. Keine 5.300 Euro.
/note/ Lisa muss fast lachen. Es ist ein bitteres Lachen, aber auch ein erleichtertes.
Lisa Berger (Protagonistin): Ich würde das gerne machen. Die probatorischen Sitzungen.
Dr. Weber (Psychotherapeut): Gut. Dann sehen wir uns nächste Woche. Frau Müller am Empfang gibt Ihnen einen Termin.
/note/ Er steht auf, schüttelt ihr die Hand. Sein Händedruck ist fest, aber nicht übertrieben. Kein intensiver Blickkontakt, keine Umarmung, keine Aussage wie „Ich sehe dich“ oder „Du bist mutig“.
/note/ Lisa geht hinaus in den Abend. Es regnet leicht. Sie steht auf der Straße und atmet die feuchte Luft ein.
/note/ Sie fühlt sich nicht transformiert. Sie fühlt sich nicht geheilt. Sie fühlt sich nicht „wie neugeboren“ oder „erwacht“ oder „in ihrer Kraft“.
/note/ Sie fühlt sich einfach nur ein bisschen klarer. Ein bisschen nüchterner. Ein bisschen mehr bei sich.
/note/ Und das ist genug. Für jetzt ist das genug.
/note/ XII. Der Ausstieg
/note/ Am Abend nach dem Erstgespräch setzt Lisa sich an ihren Laptop und schreibt eine E-Mail an Marie. Sie schreibt sie dreimal um, löscht ganze Absätze, formuliert neu. Schließlich schickt sie ab:
Lisa Berger (Protagonistin, per E-Mail): Liebe Marie, ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Soul Shift vorzeitig beenden möchte. Ich bin dir dankbar für die Erfahrungen der letzten Wochen, aber ich habe festgestellt, dass das Programm nicht das Richtige für mich ist. Ich werde professionelle psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
/same/ Da ich drei der zwölf Wochen noch nicht in Anspruch genommen habe, bitte ich um anteilige Rückerstattung der Programmgebühren.
/same/ Mit freundlichen Grüßen, Lisa Berger
/note/ Die Antwort kommt am nächsten Morgen. Sie ist länger als erwartet.
Marie Sommer (Coachin, per E-Mail): Liebe Lisa, danke für deine Nachricht. Ich spüre, dass da gerade viel bei dir passiert, und ich möchte dir erstmal sagen: Ich halte dich, auch jetzt, auch in diesem Moment.
/same/ Ich bin nicht überrascht, dass du gerade zweifeln. Woche neun ist für viele Frauen der schwierigste Punkt der Reise. Das System wehrt sich am heftigsten, kurz bevor der Durchbruch kommt. Das ist keine Schwäche – das ist normal. Das ist menschlich.
/same/ Ich möchte dich einladen, nicht aus der Angst heraus zu entscheiden. Lass uns telefonieren, bevor du etwas Endgültiges tust. Gib mir die Chance, dich zu halten. Dafür bin ich da.
/same/ Was die Rückerstattung betrifft: Soul Shift ist eine Transformationsreise, kein Kurs, den man nach Belieben absagen kann. Du hast dich verbindlich für 12 Wochen entschieden. Du hast Zugang zu allen Inhalten, zur Community, zu mir. Dass du wählst, diesen Zugang nicht mehr zu nutzen, ändert nichts an der Vereinbarung.
/same/ Aber das Wichtigste ist: Ich mache mir Sorgen um dich. Diese plötzliche Entscheidung, das Programm zu verlassen und stattdessen „professionelle Hilfe“ zu suchen – das klingt für mich nach deinem Ego, das einen Ausweg sucht. Das ist nicht du, Lisa. Das ist dein Schutzprogramm, das einen Weg gefunden hat, die Transformation zu sabotieren.
/same/ Bitte ruf mich an. Heute noch. Lass uns reden.
/same/ In Liebe, Marie
/note/ Lisa liest die E-Mail und spürt etwas, das sie überrascht: nichts. Keine Schuld, keine Angst, keinen Wunsch, sich zu rechtfertigen. Die Worte, die vor zwei Wochen noch Macht über sie gehabt hätten – „Ich spüre, dass…“, „Dein Ego…“, „In Liebe“ –, gleiten an ihr ab wie Regen an einer Fensterscheibe.
/note/ Sie antwortet:
Lisa Berger (Protagonistin, per E-Mail): Liebe Marie, danke für deine Nachricht. Meine Entscheidung steht fest. Ich möchte nicht telefonieren.
/same/ Zur Rückerstattung: Ich habe die AGB noch einmal gelesen. Dort steht, dass eine vorzeitige Kündigung „in begründeten Ausnahmefällen“ möglich ist. Ich betrachte meinen Fall als begründet. Falls du anderer Meinung bist, würde ich das Gespräch gerne über die Verbraucherzentrale führen.
/same/ Ich wünsche dir und der Gruppe alles Gute.
/same/ Lisa
/note/ Die nächsten Tage passiert nichts. Keine Antwort von Marie. Keine Nachrichten in der Gruppe – Lisa hat die WhatsApp-Gruppe stumm geschaltet, aber noch nicht verlassen.
/note/ Dann, am dritten Tag, kommt eine E-Mail. Nicht von Marie, sondern von einer „Julia“ mit der E-Mail-Adresse team@mariesommer.de.
Julia (Team Marie Sommer, per E-Mail): Sehr geehrte Frau Berger, wir haben Ihre Kündigung erhalten. Nach Prüfung der Sachlage können wir Ihnen mitteilen, dass eine Rückerstattung leider nicht möglich ist. Sie haben die Dienstleistung in Anspruch genommen und Zugang zu allen Inhalten des Programms erhalten. Eine vorzeitige Beendigung Ihrerseits ändert nichts an den vereinbarten Konditionen.
/same/ Mit freundlichen Grüßen, Team Marie Sommer Mentoring
/note/ Lisa liest die E-Mail und fühlt Wut aufsteigen. Kalte, klare Wut. Sie googelt „Verbraucherzentrale München“, ruft an, bekommt einen Termin für die folgende Woche.
/note/ Der Berater, ein Mann Ende vierzig mit müdem Gesicht, hört sich ihre Geschichte an. Er macht Notizen, stellt Fragen, nickt gelegentlich.
Berater Verbraucherzentrale: Das ist leider ein Muster, das wir häufig sehen. Hochpreisige Online-Coaching-Programme, emotionale Verkaufsgespräche, Verträge, die so formuliert sind, dass ein Ausstieg schwierig ist.
/same/ Die gute Nachricht: Solche Programme fallen oft unter das Fernunterrichtsschutzgesetz. Das bedeutet, dass sie eigentlich eine Zulassung der ZFU – der Staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht – bräuchten. Wenn die fehlt, ist der Vertrag möglicherweise nichtig.
Lisa Berger (Protagonistin): Nichtig?
Berater Verbraucherzentrale: Das heißt, Sie könnten Ihr Geld zurückbekommen. Nicht anteilig – komplett.
/note/ Er erklärt ihr die rechtliche Lage. Das Fernunterrichtsschutzgesetz, die ZFU, die vier Merkmale, die ein Programm zum zulassungspflichtigen Fernunterricht machen. Lisa hört zu, macht Notizen, stellt Fragen.
Berater Verbraucherzentrale: Ich würde Ihnen empfehlen, zunächst bei der ZFU anzufragen, ob für dieses Programm eine Zulassung vorliegt. Wenn nicht, schreiben Sie der Anbieterin einen Brief, in dem Sie die Nichtigkeit des Vertrags geltend machen und Ihr Geld zurückfordern. Ich kann Ihnen ein Musterschreiben geben.
Lisa Berger (Protagonistin): Und wenn sie nicht zahlt?
Berater Verbraucherzentrale: Dann ist der nächste Schritt ein Anwalt. Oder Sie melden sich bei uns wieder. In solchen Fällen versuchen wir manchmal, öffentlich Druck zu machen. Aber das ist Ihre Entscheidung.
/note/ Lisa verlässt die Verbraucherzentrale mit einem Stapel Unterlagen. Sie fühlt sich seltsam energetisiert. Nicht euphorisch, nicht „transformiert“ – aber handlungsfähig. Als könnte sie etwas tun, statt nur zu fühlen.
/note/ Eine Woche später hat sie die Bestätigung der ZFU: Für „Soul Shift“ liegt keine Zulassung vor.
/note/ Sie schickt den Brief. Per Einschreiben, wie der Berater empfohlen hat. Sie fordert die vollständige Rückzahlung der 5.300 Euro.
/note/ Die Antwort kommt nach zehn Tagen. Ein Brief vom Anwalt der „Marie Sommer Mentoring UG (haftungsbeschränkt)“. Der Ton ist anders als Maries E-Mails – keine Herzen, keine „In Liebe“, keine Aussagen darüber, was er „spürt“. Nur Juristendeutsch.
/note/ Aber der Inhalt ist klar: Sie zahlen. Ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, wie es heißt. Aber sie zahlen.
/note/ Zwei Wochen später ist das Geld auf Lisas Konto. 5.300 Euro.
/note/ Sie sitzt an ihrem Küchentisch, schaut auf den Kontoauszug und weiß nicht, was sie fühlen soll. Erleichterung? Triumph? Trauer über die verlorene Zeit, die verlorene Hoffnung, die verlorene Illusion?
/note/ Vielleicht alles davon. Vielleicht nichts.
/note/ Sie macht sich einen Tee. Sie schaut aus dem Fenster. Es regnet wieder.
/note/ Morgen hat sie ihren dritten Termin bei Dr. Weber. Sie werden über ihre Kindheit sprechen, hat er gesagt. Über die Muster, die sich da vielleicht gebildet haben. Langsam, sorgfältig, ohne Durchbrüche zu versprechen.
/note/ Es wird dauern. Monate, vielleicht Jahre. Es wird keine Transformation in zwölf Wochen geben.
/note/ Aber vielleicht, denkt Lisa, ist genau das der Punkt. Vielleicht ist echte Veränderung kein Event, sondern ein Prozess. Kein Verkaufsgespräch, sondern eine Beziehung. Kein Versprechen, sondern eine Möglichkeit.
/note/ Sie trinkt ihren Tee. Der Regen wird stärker.
/note/ Und zum ersten Mal seit langem fühlt sie sich nicht wie unter einer Glasglocke. Sie fühlt sich wie jemand, der gerade angefangen hat, aufzuwachen. Langsam. Vorsichtig. Ohne Fanfare.
/note/ Das reicht. Für jetzt reicht das.
/end/
/topic/ Der Therapieschattenmarkt – Ein Streitgespräch
/scene/ Podiumsdiskussion in einem Veranstaltungssaal. Acht Personen sitzen im Halbkreis, vor ihnen ein Publikum von etwa hundert Menschen. Die Stimmung ist angespannt. Lisa Berger, die Protagonistin der zuvor präsentierten Fallgeschichte, sitzt neben Stefanie Kern, einer Frau, die dasselbe Programm besucht und verteidigt. Ihnen gegenüber Marie Sommer, die Coachin aus der Geschichte, flankiert von Fachleuten aus Therapie, Beratung, Verbraucherschutz und Philosophie. Die Moderatorin Dr. Nora Leitner eröffnet.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Guten Abend und willkommen zu dieser Diskussion. Wir haben gerade eine Fallgeschichte gehört – die Geschichte von Lisa Berger, die hier neben mir sitzt, und ihre Erfahrungen mit einem hochpreisigen Online-Coaching-Programm. Frau Berger, Sie haben Ihr Geld zurückbekommen, Sie sind jetzt in Psychotherapie. Wenn Sie zurückblicken auf diese Monate – was ist Ihr Fazit?
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Mein Fazit ist kompliziert. Ich will nicht sagen, dass alles schlecht war. Die Gemeinschaft in der Gruppe, das Gefühl, gesehen zu werden, die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann – das war real. Das hat sich gut angefühlt, zumindest am Anfang. Aber im Rückblick sehe ich, dass ich in einem System war, das meine Verletzlichkeit genutzt hat. Nicht um mir zu helfen, sondern um mich zu binden. Jede Frage, die ich hatte, wurde umgedeutet in ein Zeichen dafür, dass ich noch mehr Arbeit brauche. Jeder Zweifel wurde zu meinem Defizit erklärt. Und als Frauen in der Gruppe echte Krisen hatten – Selbstverletzung, Dissoziation –, wurde das als „Prozess“ gerahmt. Das war der Moment, in dem ich aufgewacht bin. Als ich gemerkt habe: Hier geht es nicht um Heilung. Hier geht es um ein Geschäftsmodell, das so tut, als wäre es Heilung.
/same/ Was mich am meisten beschäftigt, ist nicht das Geld. Die 5.300 Euro habe ich zurückbekommen. Was mich beschäftigt, ist die Zeit. Die Monate, in denen ich geglaubt habe, dass ich auf dem richtigen Weg bin, während ich eigentlich nur tiefer in etwas hineingeraten bin, das mir nicht gutgetan hat. Und ich frage mich: Wie viele Frauen sind noch in solchen Programmen? Wie viele haben nicht das Glück, dass sie aufwachen? Wie viele zahlen gerade 5.000, 10.000, 20.000 Euro für etwas, das ihnen schadet?
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Frau Sommer, Sie sind die Gründerin des Programms, um das es hier geht. Sie hören schwere Vorwürfe. Was sagen Sie dazu?
Marie Sommer (Life-Coachin): Zunächst einmal: Ich bin froh, dass Lisa hier ist und dass wir dieses Gespräch führen. Ich habe immer gesagt, dass Kommunikation der Schlüssel ist. Und ich möchte Lisa direkt sagen: Ich höre dich. Ich sehe, dass du verletzt bist. Und es tut mir leid, dass deine Erfahrung so war.
/same/ Aber ich muss auch etwas richtigstellen. Was Lisa beschreibt, ist ihre Wahrnehmung. Und Wahrnehmungen sind subjektiv. In meinem Programm sind über die Jahre Hunderte von Frauen gewesen. Die allermeisten berichten von tiefgreifenden positiven Veränderungen. Ich bekomme Nachrichten von Frauen, die sagen, dass Soul Shift ihr Leben gerettet hat. Die endlich gelernt haben, für sich einzustehen. Die aus toxischen Beziehungen rausgekommen sind, die Jobs gekündigt haben, die sie krank gemacht haben, die angefangen haben, ihr eigenes Leben zu leben.
/same/ Dass es Frauen gibt, für die das Programm nicht passt – ja, das gibt es. Ich habe nie behauptet, dass ich für alle die Richtige bin. Ich sage in jedem Kennenlerngespräch: Wenn du schwere psychische Erkrankungen hast, bist du bei mir falsch. Dann brauchst du eine Therapeutin. Aber die Frauen, die zu mir kommen, sind meistens nicht krank im klinischen Sinn. Sie sind erschöpft, sie sind unglücklich, sie haben den Kontakt zu sich selbst verloren. Und dafür braucht man nicht immer eine Therapeutin. Manchmal braucht man jemanden, der einen an die Hand nimmt und sagt: Du kannst mehr. Du darfst mehr. Du bist mehr.
/same/ Zu den Vorfällen, die Lisa beschreibt – die Dissoziation, die Selbstverletzung –: Das sind ernste Dinge, und ich nehme sie ernst. Aber ich muss auch sagen: Ich bin keine Therapeutin. Ich habe nie behauptet, eine zu sein. Ich biete Begleitung an, keine Behandlung. Wenn jemand in meinem Programm eine Krise hat, dann empfehle ich professionelle Hilfe. Das habe ich immer getan.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Frau Kern, Sie sind aktuell Teilnehmerin bei Soul Shift. Wie erleben Sie das Programm?
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Ich bin so dankbar, dass ich hier sprechen darf, weil ich finde, dass das, was Lisa sagt, ein total verzerrtes Bild ist. Ich bin seit acht Wochen bei Soul Shift, und es ist das Beste, was mir je passiert ist. Ich war vorher in Therapie – jahrelang. Ich habe auf der Couch gesessen und über meine Kindheit geredet, immer und immer wieder. Und weißt du, was sich verändert hat? Nichts. Ich habe verstanden, warum ich so bin, wie ich bin. Aber ich war immer noch so.
/same/ Bei Marie ist das anders. Da geht es nicht nur ums Verstehen. Da geht es ums Fühlen, ums Erleben, ums Verändern. Ich habe in acht Wochen mehr über mich gelernt als in fünf Jahren Therapie. Ich habe angefangen, Grenzen zu setzen. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich nicht mehr jedes Wochenende zu ihr komme, nur weil sie das erwartet. Ich habe in der Arbeit um eine Gehaltserhöhung gebeten – und sie bekommen. Das sind echte Veränderungen. Das ist nicht „Geschäftsmodell“. Das ist mein Leben, das besser wird.
/same/ Und diese Sache mit den Kosten – ja, 5.000 Euro ist viel Geld. Aber weißt du, was ich vorher für Geld ausgegeben habe? Für Klamotten, die ich nicht gebraucht habe. Für Urlaube, nach denen ich genauso erschöpft war wie vorher. Für Alkohol, um den Abend zu überstehen. Das war okay, das hat niemand hinterfragt. Aber wenn ich Geld in mich selbst investiere, in meine Entwicklung, in meine Transformation – dann ist es plötzlich „problematisch“? Das finde ich heuchlerisch, ehrlich gesagt.
/same/ Und Lisa – es tut mir leid, dass es bei dir nicht geklappt hat. Wirklich. Aber vielleicht warst du einfach noch nicht bereit. Vielleicht war dein Widerstand stärker als dein Wille zur Veränderung. Das ist kein Vorwurf. Das ist einfach, wie es manchmal ist. Nicht jeder ist bereit, sein altes Leben loszulassen. Das braucht Mut. Und manchmal fehlt der Mut. Das ist menschlich.
/note/ Lisa Berger schüttelt leicht den Kopf, sagt aber nichts. Im Publikum ist Unruhe spürbar.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Frau Dr. Hofer, Sie sind systemische Beraterin und Supervisorin. Sie bilden selbst Coaches aus. Wie ordnen Sie ein, was wir hier hören?
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Ich möchte zunächst etwas Grundsätzliches sagen, bevor wir in die Einzelheiten gehen. Coaching ist nicht per se problematisch. Es gibt hervorragende Coaches, die wichtige Arbeit leisten – in Unternehmen, in der Führungskräfteentwicklung, in der beruflichen Orientierung. Ich bilde selbst solche Menschen aus, und ich sehe, welchen Unterschied gute Begleitung machen kann.
/same/ Aber – und das ist ein großes Aber – Coaching hat Grenzen. Und diese Grenzen sind nicht willkürlich. Sie ergeben sich aus dem, was Coaching ist und was es nicht ist. Coaching ist eine Beratungsform, die davon ausgeht, dass der Klient grundsätzlich handlungsfähig ist. Dass er Ressourcen hat, die aktiviert werden können. Dass er Lösungen finden kann, wenn man ihm den richtigen Rahmen gibt. Das funktioniert wunderbar bei beruflichen Fragen, bei Entscheidungsprozessen, bei Kommunikationsproblemen.
/same/ Was Coaching nicht ist – und hier wird es heikel –: Coaching ist keine Psychotherapie. Es ist nicht dafür gemacht, Traumata zu bearbeiten. Es ist nicht dafür gemacht, psychische Erkrankungen zu behandeln. Es ist nicht dafür gemacht, Menschen in akuten Krisen aufzufangen. Wenn jemand mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, mit schweren Depressionen, mit komplexer Traumatisierung in ein Coaching-Programm kommt, dann ist das so, als würde man mit einem gebrochenen Bein zum Fitnesstrainer gehen. Es ist nicht nur nutzlos – es ist gefährlich.
/same/ Was mich an dem, was ich hier höre, beunruhigt, ist nicht die Existenz von Coaching-Programmen. Es ist die Vermischung. Es ist die Sprache von „Transformation“ und „Heilung“ und „Nervensystem“ und „Trauma“, kombiniert mit einem Setting, das dafür nicht geeignet ist. Wenn Frau Sommer sagt, sie sei keine Therapeutin – gut. Aber dann sollte sie auch keine Innere-Kind-Arbeit anbieten, keine Übungen, die explizit darauf ausgelegt sind, traumatische Erinnerungen zu aktivieren. Das ist kein Coaching mehr. Das ist Wilderei auf therapeutischem Terrain, ohne die Ausbildung, ohne die Erfahrung, ohne den Schutzrahmen, den solche Arbeit braucht.
Marie Sommer (Life-Coachin): Darf ich darauf reagieren? Weil das ist genau die Arroganz, die ich meine. Diese Idee, dass nur Menschen mit bestimmten Titeln, mit bestimmten Ausbildungen, mit bestimmten Zulassungen das Recht haben, anderen Menschen zu helfen. Ich habe keine Approbation, das stimmt. Aber ich habe etwas, das viele Therapeuten nicht haben: Ich habe es selbst durchlebt. Ich war da, wo meine Klientinnen sind. Ich weiß, wie sich Burnout anfühlt, wie sich Depression anfühlt, wie sich diese Leere anfühlt, von innen. Nicht aus einem Lehrbuch. Aus meinem eigenen Körper.
/same/ Und diese Innere-Kind-Arbeit, die Sie gerade kritisieren – die habe ich nicht erfunden. Die gibt es seit Jahrzehnten. Die wird in Therapien verwendet, in Seminaren, in Retreats. Ich habe sie selbst in meiner eigenen Heilungsreise kennengelernt, und sie hat mir mehr geholfen als jede Gesprächstherapie. Warum sollte ich dieses Werkzeug nicht weitergeben dürfen? Warum sollten nur Menschen mit einem bestimmten Stempel das Recht haben, anderen zu helfen?
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Weil Werkzeuge gefährlich sein können, wenn man nicht weiß, wie man sie benutzt. Ein Skalpell ist ein wunderbares Instrument in den Händen eines Chirurgen. In den Händen von jemandem, der mal ein YouTube-Video über Operationen gesehen hat, ist es eine Waffe.
/same/ Innere-Kind-Arbeit ist keine harmlose Entspannungsübung. Sie kann massive Reaktionen auslösen – Dissoziation, Flashbacks, Dekompensation. In einem therapeutischen Setting gibt es Protokolle dafür. Es gibt Möglichkeiten, jemanden aufzufangen, zu stabilisieren, notfalls eine Sitzung abzubrechen und professionelle Hilfe hinzuzuziehen. In einem Zoom-Call mit achtzehn Teilnehmerinnen, von denen die Hälfte ihre Kamera ausgeschaltet hat, gibt es das nicht. Da gibt es nur Herz-Emojis und den Ratschlag, eine Atemübung zu machen.
Marie Sommer (Life-Coachin): Das ist unfair. Das ist eine Karikatur von dem, was ich tue.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Ist es das? Lisa hat uns gerade erzählt, dass eine Frau in Ihrem Programm dissoziiert hat – live, auf Zoom. Dass eine andere Frau sich geritzt hat, zum ersten Mal seit Jahren, nach einer Ihrer Übungen. Und dass Ihre Antwort war: Das ist der Prozess. Das ist Heilung. Das ist keine Karikatur, Frau Sommer. Das sind Ihre eigenen Worte.
/note/ Marie Sommer will antworten, aber Dr. Martin Schreiber hebt die Hand.
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Wenn ich kurz einhaken darf – ich finde, wir verlieren uns gerade in einer Konfrontation, die nicht weiterhilft. Es geht hier nicht um die Frage, ob Frau Sommer eine böse Person ist. Ich nehme ihr ab, dass sie helfen will. Ich nehme ihr ab, dass sie glaubt, etwas Gutes zu tun. Das Problem ist nicht die Intention. Das Problem ist die Struktur.
/same/ Ich bin Psychotherapeut. Ich bin auch Coach – zertifizierter Business-Coach, mit einer Ausbildung, die zwei Jahre gedauert hat. Ich kenne beide Welten. Und ich sage Ihnen: Der Unterschied ist nicht, dass die eine Welt gut ist und die andere böse. Der Unterschied ist, dass die eine Welt Strukturen hat, die Schaden begrenzen, und die andere nicht.
/same/ Wenn ich als Psychotherapeut arbeite, habe ich eine Approbation. Die kann mir entzogen werden, wenn ich Mist baue. Ich habe eine Schweigepflicht, die gesetzlich geregelt ist. Ich habe eine Haftpflichtversicherung. Ich habe Supervision – jemanden, mit dem ich schwierige Fälle bespreche, der mich korrigiert, wenn ich auf dem Holzweg bin. Ich habe eine Kammer, an die sich Patienten wenden können, wenn sie sich schlecht behandelt fühlen. Das sind keine bürokratischen Hürden. Das sind Schutzstrukturen. Für die Klienten und für mich.
/same/ Wenn Frau Sommer als Coach arbeitet, hat sie nichts davon. Keine Approbation, die man entziehen könnte. Keine gesetzliche Schweigepflicht. Keine Pflicht zur Supervision. Keine Kammer, keine Beschwerdestelle. Wenn etwas schiefgeht – und Dinge gehen schief, das ist unvermeidlich, auch bei den besten Absichten –, dann gibt es keine Struktur, die eingreift. Es gibt nur eine Frau, die alleine entscheidet, was richtig und was falsch ist. Und das ist das Problem. Nicht die Person. Die Struktur.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Herr Brenner, Sie sind von der Verbraucherzentrale. Sie sehen solche Fälle regelmäßig. Wie ordnen Sie das ein?
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Ich möchte die Perspektive etwas verschieben, weg von der Frage „Ist Coaching gut oder schlecht?“ hin zu der Frage „Wie werden Menschen in solche Verträge hineingezogen, und wie kommen sie wieder heraus?“
/same/ Was wir bei der Verbraucherzentrale sehen, ist ein Muster. Es betrifft nicht nur Coaching – es betrifft auch Fitnessprogramme, Ernährungsberatung, Online-Kurse aller Art. Aber im Coaching-Bereich ist es besonders ausgeprägt, weil die Preise so hoch sind und weil die emotionale Komponente so stark ist.
/same/ Das Muster sieht so aus: Jemand ist in einer vulnerablen Situation. Erschöpfung, Trennung, Jobverlust, Sinnkrise – irgendetwas, das verunsichert. Diese Person stößt auf ein Angebot, das genau diese Verunsicherung anspricht. Kostenlose Inhalte, ein Webinar, ein Kennenlerngespräch. Die Sprache ist warm, einladend, verständnisvoll. Es wird eine Beziehung aufgebaut, bevor über Geld gesprochen wird.
/same/ Dann kommt der Moment der Entscheidung. Und hier wird es interessant. Die Preise werden oft nicht vorab kommuniziert. Sie werden am Ende eines emotionalen Gesprächs genannt, wenn die Person bereits investiert ist – emotional, zeitlich, hoffnungsmäßig. Und dann kommt Zeitdruck: „Das Angebot gilt nur heute.“ „Es sind nur noch drei Plätze frei.“ „Wenn du jetzt nicht entscheidest, entscheidet dein Ego für dich.“ Das sind Verkaufstechniken. Hochmanipulative Verkaufstechniken.
/same/ Wenn die Person dann unterschrieben hat und Zweifel aufkommen, wird etwas Interessantes gemacht: Die Zweifel werden zum Teil des Problems erklärt. „Das ist dein Schutzprogramm.“ „Das ist dein Ego.“ „Das zeigt, dass du noch mehr Arbeit brauchst.“ Das ist keine Begleitung. Das ist ein geschlossenes System, aus dem man kaum herauskommt, ohne sich als Versager zu fühlen.
/same/ Rechtlich bewegen sich viele dieser Programme in einer Grauzone. Wir haben in Deutschland das Fernunterrichtsschutzgesetz, das eigentlich genau solche Angebote regulieren sollte. Aber viele Anbieter kennen das Gesetz nicht oder ignorieren es, weil sie denken, es gelte nicht für sie. In Lisas Fall hat es gegolten – deshalb hat sie ihr Geld zurückbekommen. Aber wie viele Menschen wissen das? Wie viele haben die Energie, sich zu wehren? Meine Schätzung: ein Bruchteil.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Das ist so manipulativ, was Sie da machen. Sie nehmen alles, was Marie tut, und drehen es ins Negative. Das Kennenlerngespräch – ja, es ist emotional. Weil es um emotionale Themen geht. Was soll sie denn machen, ein Excel-Sheet präsentieren? Und der Zeitdruck – ja, den gibt es. Weil Entscheidungen Mut brauchen. Weil die meisten Menschen ihr Leben lang aufschieben und nie etwas ändern. Manchmal braucht man einen Anstoß. Das ist keine Manipulation. Das ist Unterstützung.
/same/ Und diese Sache mit dem „geschlossenen System“ – das ist doch absurd. Ich kann jederzeit aussteigen. Niemand hält mich fest. Niemand zwingt mich, dabeizubleiben. Ich bin da, weil ich da sein will. Weil es mir hilft. Weil mein Leben besser wird. Warum können Sie das nicht einfach akzeptieren?
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Frau Kern, ich stelle nicht in Frage, dass Sie positive Erfahrungen machen. Ich stelle in Frage, ob die Strukturen, in denen diese Erfahrungen stattfinden, fair und transparent sind. Das sind zwei verschiedene Dinge. Man kann in einem problematischen System positive Erfahrungen machen. Das macht das System nicht weniger problematisch.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Wenn ich hier einhaken darf – ich glaube, wir müssen einen Schritt zurücktreten und fragen, warum dieses Gespräch überhaupt so schwierig ist. Warum sich die Positionen so unversöhnlich gegenüberstehen.
/same/ Was wir hier beobachten, ist nicht einfach ein Konflikt zwischen „seriös“ und „unseriös“ oder zwischen „Therapie“ und „Coaching“. Was wir beobachten, ist ein Symptom von etwas Größerem. Etwas, das mit der Art zu tun hat, wie unsere Gesellschaft mit Leid umgeht. Oder besser: nicht umgeht.
/same/ Wir leben in einer Kultur, die Leid privatisiert. Wenn Sie erschöpft sind, wenn Sie unglücklich sind, wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Leben keinen Sinn hat – dann ist das Ihr Problem. Nicht das Problem der Arbeitsbedingungen, die Sie erschöpfen. Nicht das Problem einer Gesellschaft, die Ihnen sagt, dass Sie nur etwas wert sind, wenn Sie produktiv sind. Nicht das Problem von Strukturen, die Vereinzelung fördern und Gemeinschaft erschweren. Nein, es ist Ihr individuelles Defizit. Ihr Mindset. Ihre Blockaden. Ihr Nervensystem, das nicht richtig reguliert ist.
/same/ In dieser Logik ist es völlig folgerichtig, dass Menschen wie Lisa – erschöpft, auf der Suche nach Sinn – nicht in eine politische Bewegung gehen oder eine Gewerkschaft gründen, sondern ein Coaching-Programm kaufen. Die Antwort auf gesellschaftliches Leid wird zum individuellen Konsum. Und Frau Sommer – ich sage das ohne Vorwurf – ist Teil dieser Maschinerie. Sie verkauft eine Lösung für ein Problem, das sie nicht verursacht hat, aber auch nicht lösen kann. Weil das Problem nicht in Lisa liegt. Das Problem liegt in einer Gesellschaft, die Menschen systematisch ausbrennt und ihnen dann sagt: Investiere in dich selbst.
Marie Sommer (Life-Coachin): Mit Verlaub, Frau Professor, aber das ist doch Elfenbeinturm-Denken. Die Frauen, die zu mir kommen, haben echte Probleme. Jetzt. Heute. Die können nicht warten, bis die Gesellschaft sich verändert. Die brauchen Hilfe. Konkrete, praktische Hilfe. Und wenn ich ihnen die geben kann – was ist daran falsch?
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Nichts ist falsch daran, Menschen helfen zu wollen. Die Frage ist, ob das, was Sie anbieten, tatsächlich hilft – oder ob es das Problem nur verschiebt. Ob Sie Symptome behandeln und dabei die Ursachen verschleiern. Ob Sie Menschen beibringen, sich besser an eine Welt anzupassen, die sie krank macht, anstatt ihnen zu helfen, diese Welt in Frage zu stellen.
/same/ Und da ist noch etwas anderes, etwas Subtileres. Die Sprache, die Sie verwenden – „Transformation“, „Potenzial entfalten“, „die beste Version deiner selbst werden“ –, das ist nicht neutral. Das ist die Sprache des Neoliberalismus. Die Sprache einer Kultur, die den Menschen sagt: Du bist ein Projekt. Du musst dich optimieren. Wenn du nicht glücklich bist, hast du nicht genug an dir gearbeitet. Das ist keine Befreiung. Das ist eine neue Form von Disziplinierung. Statt dass der Chef dich antreibt, treibst du dich selbst an. Die Peitsche wurde internalisiert.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Das ist doch lächerlich. Ich optimiere mich nicht. Ich lerne, auf mich zu hören. Ich lerne, Grenzen zu setzen. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie beschreiben.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Ist es das? Oder haben Sie gelernt, „Grenzen setzen“ als Ihre eigene Idee zu betrachten, während es in Wahrheit das neueste Produkt einer Selbstoptimierungsindustrie ist, die ständig neue Trends braucht, um sich zu verkaufen? Gestern war es Achtsamkeit, heute ist es Grenzen setzen, morgen ist es Nervensystem-Regulation. Die Inhalte wechseln, aber die Struktur bleibt: Sie als Individuum sind das Problem – und Sie als Individuum müssen die Lösung kaufen.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Lisa, Sie haben lange zugehört. Was geht Ihnen durch den Kopf?
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Ich höre beiden Seiten zu, und ich verstehe beide. Ich verstehe Stefanie, weil ich vor ein paar Monaten genau wie sie argumentiert hätte. Das Gefühl, endlich etwas gefunden zu haben, das hilft. Das Gefühl, dass die Kritiker einfach nicht verstehen, worum es geht. Dieses Gefühl ist real. Es ist nicht eingebildet. Es ist nur… es ist nicht die ganze Wahrheit.
/same/ Und ich verstehe auch Frau Voss, auch wenn mir ihre Analyse manchmal zu abstrakt ist. Sie hat recht, dass da etwas Größeres am Werk ist. Dass wir in einer Gesellschaft leben, die Leid individualisiert und Lösungen zur Ware macht. Aber gleichzeitig – ich war erschöpft. Ich war unglücklich. Ich konnte nicht warten, bis die Gesellschaft sich verändert. Ich brauchte etwas. Jetzt.
/same/ Was mich am meisten erschüttert, wenn ich zurückblicke, ist nicht, dass ich Geld ausgegeben habe. Es ist, dass ich aufgehört habe, meinen eigenen Zweifeln zu trauen. Dass ich gelernt habe, jeden kritischen Gedanken als „Ego“ abzutun, als „Schutzprogramm“, als Sabotage. Das ist das Gefährlichste an solchen Systemen: nicht dass sie Geld kosten, sondern dass sie dir beibringen, dir selbst zu misstrauen. Und wenn du dir selbst nicht mehr traust, dann bist du auf jemand anderen angewiesen, der dir sagt, was richtig ist. Das ist Abhängigkeit. Auch wenn es sich anfühlt wie Befreiung.
Marie Sommer (Life-Coachin): Lisa, ich höre dich. Und es tut mir wirklich leid, dass du das so erlebt hast. Aber ich muss auch sagen: Du beschreibst das so, als hätte ich dir das Denken verboten. Als hätte ich dich manipuliert, deine Zweifel abzuschalten. Das ist nicht, was ich tue. Ich lade Menschen ein, ihre Zweifel zu hinterfragen – nicht, sie abzuschalten. Das ist ein Unterschied.
/same/ Wir alle haben innere Stimmen, die uns kleinhalten. Stimmen, die sagen: Das schaffst du nicht. Du bist nicht gut genug. Bleib, wo du bist, da ist es sicher. Diese Stimmen sind real, und sie haben oft die Macht, uns davon abzuhalten, unser Leben zu verändern. Wenn ich sage „Das ist dein Schutzprogramm“, dann meine ich damit nicht: Deine Zweifel sind ungültig, hör nicht auf sie. Ich meine: Schau genauer hin. Frag dich, woher dieser Zweifel kommt. Ist es echte Intuition – oder ist es Angst?
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Aber genau das ist das Problem, Marie. Du entscheidest, was Intuition ist und was Angst. Du entscheidest, welche Zweifel berechtigt sind und welche nicht. Und zufälligerweise sind die Zweifel, die dazu führen würden, dass jemand dein Programm verlässt, immer Angst. Immer Ego. Immer Sabotage. Ist dir das nie aufgefallen?
Marie Sommer (Life-Coachin): Das stimmt nicht. Ich habe Frauen aus dem Programm entlassen, weil ich gesehen habe, dass sie woanders besser aufgehoben sind. Ich habe Frauen an Therapeuten verwiesen. Ich habe –
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Caro. Saskia. Hast du sie an Therapeuten verwiesen?
/note/ Stille. Marie Sommer zögert.
Marie Sommer (Life-Coachin): Das sind vertrauliche Gespräche, die ich hier nicht –
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Caro hat sich geritzt. In der Gruppe. Sie hat es öffentlich gepostet, um Mitternacht. Und deine Antwort war eine Sprachnachricht am nächsten Morgen, in der du gesagt hast, das sei „alte Energie, die rauswill“. Dass sie sich ausruhen soll. Dass ihr morgen telefoniert. Hast du ihr gesagt, sie soll in eine psychiatrische Notaufnahme gehen? Hast du sie an einen Krisendienst verwiesen?
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich habe mit ihr telefoniert. Am nächsten Tag. Wir haben –
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Das war nicht meine Frage.
/note/ Längere Stille. Im Publikum ist Unruhe zu spüren.
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Ich möchte hier etwas einwerfen, das mir wichtig erscheint. Wir reden die ganze Zeit über Frau Sommer, als wäre sie das Problem. Aber Frau Sommer ist ein Symptom. Es gibt Tausende Frau Sommers da draußen. Menschen, die in guter Absicht – ich unterstelle das jetzt mal – Dinge tun, für die sie nicht ausgebildet sind.
/same/ Die Frage ist nicht: Ist Frau Sommer eine böse Person? Die Frage ist: Warum ist es möglich, dass jemand ohne jede psychologische Ausbildung Innere-Kind-Arbeit anbietet? Warum ist es möglich, dass jemand mit traumatisierten Menschen arbeitet, ohne je eine Supervision gehabt zu haben? Warum gibt es keine Mindeststandards, keine Zulassungspflicht, keine Kontrolle?
/same/ Die Antwort ist: Weil der Gesetzgeber versagt hat. Weil „Coaching“ kein geschützter Begriff ist. Weil jeder morgen aufwachen und sich Coach nennen kann. Weil es eine massive Regulierungslücke gibt, die von Menschen ausgenutzt wird – nicht unbedingt böswillig, aber oft fahrlässig.
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Da möchte ich ergänzen. Es gibt durchaus gesetzliche Regelungen, die greifen könnten. Das Fernunterrichtsschutzgesetz, das ich vorhin erwähnt habe, ist eine davon. Es verlangt, dass Bildungsangebote, die über einen längeren Zeitraum gehen und eine Erfolgskontrolle beinhalten, von der ZFU zugelassen werden. Viele Coaching-Programme fallen darunter – wissen es aber nicht oder tun so, als wüssten sie es nicht.
Verstanden. Ich setze dort an und korrigiere:
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Da möchte ich ergänzen. Es gibt durchaus gesetzliche Regelungen, die greifen könnten. Das Fernunterrichtsschutzgesetz, das ich vorhin erwähnt habe, ist eine davon. Es verlangt, dass Bildungsangebote, die über einen längeren Zeitraum gehen und eine Erfolgskontrolle beinhalten, von der ZFU zugelassen werden. Viele Coaching-Programme fallen darunter – wissen es aber nicht oder tun so, als wüssten sie es nicht.
/same/ Dann gibt es die Frage der Heilkunde. Wenn jemand psychische Störungen behandelt – und das Wort „behandeln“ ist hier wichtig –, dann braucht man in Deutschland eine Erlaubnis. Eine Approbation als psychologischer Psychotherapeut, als ärztlicher Psychotherapeut, als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Das sind geschützte Berufsbezeichnungen, verbunden mit jahrelangen Ausbildungen, staatlichen Prüfungen, Kammerzugehörigkeit, berufsrechtlicher Kontrolle.
/same/ Und ja, es gibt auch die Möglichkeit, über das Heilpraktikergesetz eine Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie zu erwerben – den sogenannten „Heilpraktiker für Psychotherapie“. Aber das ist ein eigenes Problem. Da wird in einer Multiple-Choice-Prüfung beim Gesundheitsamt geprüft, ob jemand keine Gefahr für die Volksgesundheit darstellt. Ob die Methoden, die jemand anwendet, wirksam sind, wird nicht geprüft. Das ist eine weitere Grauzone, in der sich allerhand Fragwürdiges tummelt – aber das nur am Rande.
/same/ Der Punkt ist: Wenn jemand sagt „Ich bin kein Therapeut, ich bin Coach“, dann kann das ein ehrlicher Hinweis auf Bescheidenheit sein. Es kann aber auch ein Trick sein, um Regulierung zu umgehen. Die Grenze verläuft nicht entlang der Begriffe, sondern entlang der Realität. Wenn jemand mit Trauma arbeitet, Innere-Kind-Arbeit macht, über „Heilung“ und „Transformation“ spricht – dann ist das, was da passiert, de facto psychotherapeutische Arbeit. Ob man es „Coaching“ nennt oder nicht.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Ich möchte noch einen anderen Aspekt einbringen. Wir haben viel über die Klienten gesprochen – über Lisa, über die anderen Frauen im Programm. Aber was ist mit Frau Sommer selbst? Was ist mit den Coaches, die solche Programme anbieten?
/same/ Ich sage das nicht, um Frau Sommer in Schutz zu nehmen. Ich sage es, weil ich glaube, dass wir das System verstehen müssen, um es zu ändern. Und zu diesem System gehört auch, wie Coaches ausgebildet werden – oder eben nicht ausgebildet werden.
/same/ Viele dieser Life-Coaches sind selbst Produkte von Coaching-Programmen. Sie haben ein Programm durchlaufen, das sie „transformiert“ hat. Und am Ende dieses Programms stand ein Angebot: Werde selbst Coach. Mach eine Ausbildung – bei uns. Verdiene Geld mit dem, was du gelernt hast. Das klingt attraktiv, besonders für Menschen, die gerade eine intensive Erfahrung gemacht haben und diese weitergeben wollen.
/same/ Aber was für eine Ausbildung ist das? Oft ein paar Wochen, manchmal ein paar Monate. Keine Theorie, nur Praxis – oder das, was man dort Praxis nennt. Keine Diagnostik, nur Intuition. Keine Supervision durch unabhängige Fachleute, nur Feedback von anderen Teilnehmern, die genauso wenig wissen. Und am Ende bekommt man ein Zertifikat, das rechtlich nichts wert ist, aber professionell genug aussieht, um es auf Instagram zu posten.
/same/ Frau Sommer, darf ich fragen: Was für eine Ausbildung haben Sie gemacht? Bei wem? Wie lange?
/note/ Marie Sommer richtet sich auf. Ihr Gesichtsausdruck ist angespannt.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich habe eine Coaching-Ausbildung gemacht, ja. Und verschiedene Weiterbildungen. Körperarbeit, Nervensystem-Arbeit, Innere-Kind-Arbeit. Ich bilde mich ständig weiter. Ich investiere jedes Jahr Tausende Euro in meine eigene Entwicklung.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Bei wem? Mit welcher Anerkennung?
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich verstehe nicht, warum das relevant ist. Ich helfe Menschen. Meine Klientinnen sind zufrieden. Das ist doch das, was zählt, oder nicht?
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Es ist relevant, weil Ausbildung nicht Schikane ist. Ausbildung ist der Ort, an dem man lernt, was man nicht weiß. Wo man konfrontiert wird mit Fällen, die schiefgegangen sind. Wo man lernt, Grenzen zu erkennen – die eigenen und die der Methoden, die man anwendet. Wo man Fehler machen darf, weil jemand aufpasst und korrigiert. Wo man nicht nur bestätigt wird, sondern herausgefordert.
/same/ Wenn Sie sagen, Sie bilden sich „ständig weiter“ – bei wem? Bei Menschen, die Ihnen sagen, was Sie hören wollen? Oder bei Menschen, die Ihnen widersprechen, die Sie konfrontieren, die Ihre blinden Flecken aufdecken? Haben Sie Supervision? Regelmäßig, mit jemandem, der nicht Teil Ihres Systems ist?
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich habe eine Mentorin. Wir sprechen regelmäßig.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Ist das eine ausgebildete Supervisorin mit entsprechender Qualifikation? Oder ist das jemand aus derselben Szene, der dieselben Annahmen teilt wie Sie?
/note/ Marie Sommer antwortet nicht sofort. Stefanie Kern meldet sich zu Wort.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Ich finde das unfair. Wir sitzen hier und verhören Marie, als wäre sie eine Verbrecherin. Sie hilft Menschen. Sie hat mir geholfen. Warum reicht das nicht?
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Weil „Hilfe“ kein selbsterklärender Begriff ist, Frau Kern. Die Frage ist nicht nur, ob Sie sich besser fühlen. Die Frage ist auch: Besser im Vergleich wozu? Und besser für wie lange? Und zu welchem Preis – nicht nur finanziell, sondern auch in Bezug auf das, was Sie dabei lernen und verlernen?
/same/ Es gibt eine philosophische Tradition, die sich mit genau dieser Frage beschäftigt. Schon Platon unterschied zwischen dem, was uns angenehm erscheint, und dem, was uns tatsächlich gut tut. Manchmal fühlt sich etwas wie Hilfe an, das uns in Wahrheit abhängig macht. Manchmal fühlt sich etwas wie Widerstand an, das uns in Wahrheit befreit.
/same/ Ich sage nicht, dass Ihre Erfahrung nicht zählt. Ich sage, dass Erfahrung allein nicht ausreicht, um zu urteilen. Wir brauchen auch Reflexion. Distanz. Die Fähigkeit, uns selbst zu hinterfragen. Und ein System, das diese Fähigkeit systematisch untergräbt – das jeden Zweifel zum Symptom erklärt, das Kritik als Angriff deutet, das Zustimmung belohnt und Widerspruch pathologisiert –, ein solches System macht Reflexion unmöglich. Es schließt den Raum, in dem kritisches Denken stattfinden könnte.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Sie reden, als wäre ich in einer Sekte. Das ist absurd. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich kann jederzeit gehen. Niemand zwingt mich, dabeizubleiben.
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Stefanie – ich dachte das auch. Genau das. Ich dachte, ich bin frei, ich kann jederzeit aufhören. Aber wenn du aufhörst, was passiert dann? Dann bist du die, die aufgegeben hat. Die, die nicht mutig genug war. Die, deren Ego gewonnen hat. Das haben wir alle internalisiert. Nicht weil Marie es uns eingetrichtert hat – obwohl, auch das –, sondern weil das System so gebaut ist. Der Ausstieg ist technisch möglich, aber psychologisch extrem teuer.
/same/ Ich erinnere mich an den Moment, als ich das erste Mal gedacht habe: Das hier ist nicht richtig. Es war nach dem Vorfall mit Saskia, die live im Zoom dissoziiert ist. Und weißt du, was mein erster Gedanke war? Nicht: Ich sollte gehen. Sondern: Was stimmt mit mir nicht, dass ich so negativ denke? Das ist es, was ich meine. Ich hatte gelernt, meine eigene Wahrnehmung anzuzweifeln. Meine eigenen Augen, meine eigenen Ohren, mein eigenes Urteil. Das ist keine Freiheit, Stefanie. Das ist das Gegenteil von Freiheit.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Aber vielleicht – und ich sage das mit Respekt, Lisa – vielleicht warst du einfach nicht die Richtige für das Programm. Vielleicht hattest du tiefere Themen, die Marie nicht bedienen konnte. Das heißt nicht, dass das Programm schlecht ist. Es heißt nur, dass es nicht für dich war. Das ist doch okay.
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Und genau das ist der Punkt. Hörst du, was du gerade sagst? Wenn es funktioniert, ist es Maries Verdienst. Wenn es nicht funktioniert, ist es mein Defizit. Das Programm kann per Definition nie versagen – nur die Menschen im Programm. Das ist nicht fair. Das ist nicht ehrlich. Das ist ein Spiel, bei dem nur eine Seite gewinnen kann.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Frau Sommer, ich möchte Ihnen eine direkte Frage stellen. Nicht als Anklage, sondern als ehrliche Frage. Wenn Sie zurückblicken auf die Fälle, die wir heute gehört haben – Saskia, Caro, Lisa –, gibt es irgendetwas, das Sie anders machen würden?
/note/ Marie Sommer schweigt einen Moment. Sie reibt sich die Schläfe, schaut auf ihre Hände.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich… ich denke darüber nach. Ehrlich. Öfter als Sie glauben.
/same/ Ich bin in dieses Feld gegangen, weil ich selbst gelitten habe. Weil ich wusste, wie es sich anfühlt, in einem System gefangen zu sein – im Hamsterrad, in der Erschöpfung, in der Frage „Ist das alles?“ Und als ich meinen Weg rausgefunden habe, wollte ich anderen helfen, denselben Weg zu finden.
/same/ Vielleicht… vielleicht habe ich unterschätzt, wie unterschiedlich Menschen sind. Wie unterschiedlich ihre Geschichten, ihre Wunden, ihre Bedürfnisse. Ich habe gedacht: Was mir geholfen hat, hilft auch anderen. Aber vielleicht stimmt das nicht immer. Vielleicht brauchen manche Menschen etwas anderes. Etwas, das ich nicht geben kann.
/same/ Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
/note/ Zum ersten Mal wirkt Marie Sommer nicht souverän. Nicht charmant, nicht verteidigend, nicht im Modus des Reframings. Sie wirkt müde. Unsicher. Fast verloren.
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Frau Sommer, das ist vielleicht der wichtigste Satz, den Sie heute Abend gesagt haben. „Ich weiß nicht.“ Das ist der Anfang von Reflexion. Das ist der Anfang von Lernen. Und das ist das, was in Ihrem Feld so oft fehlt: die Bereitschaft, nicht zu wissen. Die Demut, Grenzen anzuerkennen. Die Fähigkeit zu sagen: Das kann ich – und das kann ich nicht.
/same/ Niemand hier sagt, dass Sie keine Daseinsberechtigung haben. Niemand sagt, dass Coaching an sich verwerflich ist. Was wir sagen, ist: Es braucht Grenzen. Es braucht Ehrlichkeit über die eigenen Kompetenzen. Es braucht die Bereitschaft, Menschen weiterzuverweisen, wenn man an seine Grenzen stößt. Und es braucht Strukturen, die das absichern – nicht nur individuellen guten Willen.
/same/ Sie können das Richtige tun wollen und trotzdem das Falsche tun. Nicht weil Sie böse sind, sondern weil Sie überfordert sind. Weil Sie in einem Markt operieren, der keine Leitplanken hat. Das ist keine persönliche Schwäche. Das ist die Realität jedes Menschen, der mit anderen Menschen arbeitet – ohne Ausbildung, ohne Supervision, ohne institutionelle Einbettung.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Ich möchte diesen Moment nicht unkommentiert lassen. Frau Sommer sagt „Ich weiß nicht“ – und sofort wird das als Zeichen von Reflexion gefeiert. Als Durchbruch. Als Anfang von Lernen. Aber ich bin skeptisch. Ich habe zu viele solcher Momente gesehen, in Debatten, in öffentlichen Auseinandersetzungen. Der Moment der scheinbaren Einsicht, der strategisch genau dann kommt, wenn der Druck zu groß wird. Und der am nächsten Tag vergessen ist.
/same/ Die Frage ist nicht, ob Frau Sommer gerade einen authentischen Moment hat. Die Frage ist, ob dieser Moment irgendetwas ändert. Ob sie morgen ihre Instagram-Stories anders macht. Ob sie ihr Programm umbaut. Ob sie aufhört, mit Trauma zu arbeiten, ohne dafür ausgebildet zu sein. Oder ob sie in einer Woche wieder Reels postet, in denen sie sagt: „Diese leise Stimme in dir – die hat recht.“
Marie Sommer (Life-Coachin): Das ist unfair. Sie kennen mich nicht. Sie wissen nicht, was ich durchmache, wenn ich solche Geschichten höre wie die von Lisa. Sie sitzen in Ihrem Elfenbeinturm und urteilen über Menschen, die tatsächlich anderen helfen, während Sie Bücher schreiben, die niemand liest.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Da ist sie wieder. Die Verteidigung. Die Gegenaggression. Vor dreißig Sekunden waren Sie nachdenklich. Jetzt bin ich die Feindin aus dem Elfenbeinturm.
Marie Sommer (Life-Coachin): Weil Sie mich angreifen! Sie alle hier – Sie sitzen da mit Ihren Titeln und Ihren Approbationen und Ihren Zulassungen und schauen auf Menschen wie mich herab. Aber wissen Sie, wer zu mir kommt? Frauen, die jahrelang in Therapie waren und denen es nicht besser ging. Frauen, die monatelang auf einen Therapieplatz gewartet haben und dann abgewiesen wurden, weil sie „nicht krank genug“ waren. Frauen, die vom System im Stich gelassen wurden. Ich bin da, wo das System versagt. Ich fülle eine Lücke.
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Und genau das ist das Problem. Sie füllen eine Lücke, die Sie nicht füllen können. Ja, das psychotherapeutische Versorgungssystem in Deutschland hat massive Probleme. Ja, es gibt zu wenige Kassensitze, zu lange Wartezeiten, zu viele Menschen, die durchs Raster fallen. Das ist ein Skandal, über den wir reden müssen. Aber die Antwort auf ein kaputtes System ist nicht, dass unqualifizierte Menschen in diese Lücke springen und so tun, als könnten sie dasselbe leisten. Das ist, als würde man sagen: Es gibt zu wenige Ärzte, also sollen Heilpraktiker jetzt Operationen durchführen.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich operiere niemanden. Ich führe Gespräche. Ich begleite Menschen. Ich –
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Du führst Innere-Kind-Arbeit mit traumatisierten Frauen durch, Marie. Über Zoom. Mit achtzehn Teilnehmerinnen gleichzeitig. Ohne zu wissen, wer von ihnen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hat, wer dissoziiert, wer sich selbst verletzt. Das ist keine „Begleitung“. Das ist Russisch Roulette.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich frage vorher ab, ob jemand in psychiatrischer Behandlung ist. Ich sage klar, dass –
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Du fragst in einem Online-Formular, ob jemand „aktuell in psychiatrischer Behandlung“ ist. Das ist deine ganze Absicherung. Und wenn jemand „nein“ ankreuzt, weil sie nicht in Behandlung ist – weil sie keinen Platz bekommt, weil sie sich schämt, weil sie nicht weiß, dass sie Hilfe braucht –, dann ist sie drin. In einem Programm, das explizit darauf ausgelegt ist, „tiefe emotionale Arbeit“ zu machen. Das ist keine Sorgfalt. Das ist ein Feigenblatt.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Lisa, du redest, als wäre Marie eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Das ist so übertrieben. Es ist ein Coaching-Programm. Es ist keine Gehirnwäsche.
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Caro hat sich geritzt, Stefanie. Zum ersten Mal seit Jahren. Nach einer Übung, die Marie angeleitet hat.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Das ist nicht Maries Schuld! Caro hatte offensichtlich tiefere Probleme. Das hatte nichts mit dem Programm zu tun.
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Genau. Es ist nie die Schuld des Programms. Wenn es funktioniert, ist es die Kraft des Programms. Wenn es nicht funktioniert, hatte die Person „tiefere Probleme“. Das ist perfekt, oder? Ein System, das per Definition nie versagen kann. Das nennt man Immunisierung. Das nennt man –
Marie Sommer (Life-Coachin): Jetzt hör mir mal zu, Lisa. Ich habe dir zugehört. Die ganze Zeit. Ich habe deine Vorwürfe angehört, ich habe mich hinterfragt, ich habe sogar zugegeben, dass ich nicht alles weiß. Aber irgendwann ist auch mal gut. Du bist hier rausgegangen mit deinem Geld. Du bist jetzt in Therapie. Gut für dich. Aber das gibt dir nicht das Recht, alles, was ich tue, in den Dreck zu ziehen. Hunderte von Frauen haben positive Erfahrungen in meinem Programm gemacht. Hunderte. Und du nimmst zwei, drei Fälle, die problematisch waren – ja, ich gebe zu, sie waren problematisch –, und tust so, als wäre das die ganze Wahrheit.
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Zwei, drei Fälle, von denen ich weiß. Wie viele gibt es, von denen du nichts weißt? Wie viele Frauen sind ausgestiegen und haben sich einfach geschämt, irgendetwas zu sagen? Wie viele haben gedacht, es liegt an ihnen, weil du ihnen genau das beigebracht hast?
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich habe niemandem beigebracht, sich zu schämen.
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Du hast uns beigebracht, dass Zweifel Sabotage sind. Dass Kritik Widerstand ist. Dass unser Ego uns vom Glück abhält. Was, glaubst du, passiert mit einer Frau, die das verinnerlicht hat und dann merkt, dass das Programm ihr nicht hilft? Sie denkt: Mein Ego sabotiert mich. Ich bin noch nicht bereit. Ich habe versagt. Nicht das Programm – ich.
/same/ Das ist keine Nebenwirkung, Marie. Das ist das Design. Dein System ist so gebaut, dass Kritik unmöglich wird. Nicht durch offene Zensur, sondern durch etwas viel Eleganteres: durch die Pathologisierung von Dissens. Wer zweifelt, ist krank. Wer geht, ist feige. Wer kritisiert, ist vom Ego gesteuert. Das ist nicht Begleitung. Das ist Manipulation.
Marie Sommer (Life-Coachin): Du sagst Manipulation, ich sage Konfrontation mit unbequemen Wahrheiten. Manchmal stehen uns unsere Muster im Weg. Manchmal sabotieren wir uns selbst. Das zu benennen ist keine Manipulation. Das ist Ehrlichkeit.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Das ist exakt die Struktur, die Bateson als „Double Bind“ beschrieben hat. Eine kommunikative Falle, aus der es kein Entkommen gibt. Wenn die Klientin zustimmt, bestätigt sie Ihre Autorität. Wenn sie widerspricht, beweist sie damit, dass sie „im Widerstand“ ist – was wiederum Ihre Autorität bestätigt. Es gibt keine Position, von der aus man Sie in Frage stellen kann, ohne automatisch als defizitär zu gelten. Das ist keine Begleitung, Frau Sommer. Das ist eine Machtstruktur, die sich als Fürsorge verkleidet.
Marie Sommer (Life-Coachin): Das ist doch absurd. Sie drehen mir jedes Wort im Mund um. Wenn ich sage „Schau auf deine Muster“, dann ist das eine Einladung zur Selbstreflexion. Keine Machtstruktur.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Frau Sommer, darf ich Sie etwas fragen? Rein hypothetisch. Angenommen, eine Klientin kommt zu Ihnen nach dem Programm und sagt: „Das hat mir nicht geholfen. Ich fühle mich schlechter als vorher.“ Was sagen Sie?
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich würde fragen, was passiert ist. Ich würde zuhören. Ich würde versuchen zu verstehen.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Und wenn sie sagt: „Das Programm war falsch für mich. Die Methoden haben mir geschadet.“ Was dann?
/note/ Marie Sommer zögert.
Marie Sommer (Life-Coachin): Dann würde ich… ich würde schauen, ob es vielleicht Themen gab, die tiefer liegen. Ob sie vielleicht doch eine Therapeutin braucht. Ob –
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Hören Sie sich selbst zu? Die Frau sagt: „Ihr Programm hat mir geschadet.“ Und Ihre erste Reaktion ist: Sie hat tiefere Themen. Sie braucht etwas anderes. Das Problem liegt bei ihr. Nicht bei Ihnen. Nicht bei Ihrem Programm. Bei ihr.
/same/ Das ist genau die Immunisierung, von der Lisa spricht. Es gibt keinen Feedback-Kanal, durch den Kritik zu Ihnen durchdringen kann. Alles wird absorbiert, umgedeutet, externalisiert. Und das ist gefährlich. Nicht weil Sie böse sind, sondern weil Sie blind sind. Blind für die Möglichkeit, dass Sie falsch liegen könnten.
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Ich möchte hier noch einen strukturellen Punkt einbringen, der bisher zu kurz gekommen ist. Wir reden die ganze Zeit über die psychologische Dynamik – das ist wichtig. Aber es gibt auch eine ökonomische Dynamik, die wir nicht ignorieren dürfen.
/same/ Frau Sommer, wie viel verdienen Sie mit Soul Shift? Pro Durchgang?
Marie Sommer (Life-Coachin): Das ist privat.
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Lisa hat 5.300 Euro bezahlt. Sie sagten, es waren achtzehn Teilnehmerinnen. Das sind knapp 100.000 Euro pro Durchgang. Wie viele Durchgänge machen Sie pro Jahr?
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich muss das hier nicht –
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Sie müssen gar nichts. Aber das Publikum darf sich fragen: Wer profitiert hier? Wenn jemand „Transformation“ verkauft für 5.000 Euro pro Person, dann ist das ein Geschäft. Ein sehr lukratives Geschäft. Und Geschäfte haben eine eigene Logik. Sie tendieren dazu, zu wachsen, zu skalieren, mehr Kunden zu gewinnen. Die Frage ist: Passt diese Logik zur Arbeit mit vulnerablen Menschen?
/same/ Ich sage nicht, dass Geld verdienen böse ist. Ich sage, dass finanzielle Anreize Verhalten formen. Wenn Ihr Einkommen davon abhängt, dass Menschen Ihr Programm kaufen und dabeibleiben, dann haben Sie einen Anreiz, Menschen zum Kauf zu überreden und vom Ausstieg abzuhalten. Das ist keine Verschwörungstheorie. Das ist Ökonomie.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich überrede niemanden. Die Menschen kommen zu mir, weil sie Hilfe suchen. Ich biete etwas an. Sie entscheiden frei.
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Frei? Nach einem emotionalen Verkaufsgespräch, in dem Sie sagen: „Wenn du jetzt nicht Ja sagst, sagt dein Ego Nein“? Nach einem Webinar, das darauf ausgelegt ist, emotionale Resonanz zu erzeugen? Mit einem Zeitdruck von „nur noch drei Plätze“ und einem Rabatt, der „nur heute“ gilt?
/same/ Das sind Verkaufstechniken, Frau Sommer. Hochmanipulative Verkaufstechniken, die seit Jahrzehnten erforscht sind. Commitment und Konsistenz. Künstliche Verknappung. Reziprozität. Das steht in jedem Marketing-Lehrbuch. Und Sie setzen es ein bei Menschen, die erschöpft sind, verzweifelt, auf der Suche nach Halt. Das ist nicht „freie Entscheidung“. Das ist Ausnutzung von Vulnerabilität.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Das ist so zynisch. Sie tun so, als wären wir alle dumme Opfer, die nicht wissen, was sie tun. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich habe mich bewusst entschieden. Niemand hat mich gezwungen.
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Frau Kern, ich bezweifle nicht Ihre Intelligenz. Aber Intelligenz schützt nicht vor Manipulation. Studien zeigen, dass gebildete Menschen sogar anfälliger sind für bestimmte Formen von Überzeugung – weil sie glauben, sie könnten nicht manipuliert werden. Das nennt man den „Bias Blind Spot“. Und es gibt Forschung zu sogenanntem „Pseudo-Profound Bullshit“ – Sätze, die tief klingen, aber bei genauerem Hinsehen nichts bedeuten. Gebildete Menschen fallen darauf nicht seltener rein als andere. Manchmal häufiger, weil sie besser darin sind, Bedeutung hineinzulesen, wo keine ist.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Sie nennen das, was Marie tut, Bullshit?
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Ich nenne die Struktur, in der es verkauft wird, problematisch. Ob der Inhalt Bullshit ist, können Sie besser beurteilen als ich. Aber ich kann beurteilen, ob die Verkaufsmethoden fair sind. Und sie sind es nicht.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Ich möchte noch etwas Grundsätzlicheres ansprechen. Wir reden hier die ganze Zeit über Frau Sommer, über ihr Programm, über ihre Methoden. Aber Frau Sommer ist nicht der eigentliche Gegenstand. Sie ist ein Symptom von etwas Größerem. Von dem, was Mark Fisher „kapitalistischen Realismus“ genannt hat – der Unfähigkeit, sich eine Alternative zum bestehenden System vorzustellen.
/same/ Wir leben in einer Gesellschaft, die systematisch Menschen erschöpft – durch Arbeitsbedingungen, durch soziale Isolation, durch den Zwang zur permanenten Selbstoptimierung. Und wenn diese Menschen dann zusammenbrechen, wenn sie fragen „Ist das alles?“, dann bieten wir ihnen keine strukturelle Antwort. Keine besseren Arbeitsbedingungen, keine stärkeren Gemeinschaften, kein anderes Wirtschaftssystem. Wir bieten ihnen Coaching. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten. An ihrem Mindset. An ihrer Resilienz. An ihrer Fähigkeit, das Unerträgliche zu ertragen.
/same/ Das ist die eigentliche Funktion dieser Industrie: nicht Heilung, sondern Anpassung. Nicht Befreiung, sondern optimierte Unterwerfung. Die Frauen in Frau Sommers Programm lernen nicht, die Welt zu verändern. Sie lernen, sich selbst zu verändern, damit sie besser in eine Welt passen, die sie krank macht. Das ist keine Transformation. Das ist Domestizierung.
Marie Sommer (Life-Coachin): Das ist so arrogant. Sie sitzen hier und erklären mir und meinen Klientinnen, dass wir alle verblendet sind. Dass wir nicht wissen, was gut für uns ist. Dass unsere Erfahrungen nicht zählen, weil sie nicht in Ihre Theorie passen.
/same/ Ich habe Frauen gesehen, die aus toxischen Beziehungen rausgekommen sind. Die Jobs gekündigt haben, die sie krank gemacht haben. Die angefangen haben, für sich einzustehen. Ist das „Domestizierung“? Ist das „optimierte Unterwerfung“?
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Ob es das ist, hängt davon ab, was danach kommt. Wenn eine Frau einen toxischen Job kündigt und dann einen anderen Job annimmt, der genauso toxisch ist, aber jetzt „mit besserem Mindset“ – ist das Befreiung? Wenn sie lernt, Grenzen zu setzen, aber diese Grenzen nur dazu dienen, ihre Ausbeutbarkeit zu regulieren, nicht zu beenden – ist das Ermächtigung?
/same/ Ich sage nicht, dass nichts Gutes passiert in Ihren Programmen. Ich sage, dass das Gute begrenzt ist. Dass es individuell bleibt, während die Strukturen unangetastet bleiben. Dass es vielleicht sogar dazu dient, diese Strukturen zu stabilisieren, indem es den Druck von ihnen nimmt.
Marie Sommer (Life-Coachin): Und was ist Ihre Alternative? Sollen die Frauen warten, bis die Revolution kommt? Sollen sie leiden, während Sie Bücher schreiben über das System?
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Nein. Sie sollen Hilfe bekommen. Echte Hilfe. Von Menschen, die dafür ausgebildet sind. In Strukturen, die sie schützen. Und ja – sie sollen auch verstehen, dass ihr Leiden nicht nur ihr individuelles Problem ist. Dass es Ursachen hat, die größer sind als ihr Mindset. Dass Erschöpfung in einer erschöpfenden Gesellschaft keine Krankheit ist, sondern eine angemessene Reaktion.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Das hilft mir aber nicht. Hier. Jetzt. Ich kann nicht warten, bis die Gesellschaft sich ändert.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Nein, das können Sie nicht. Und genau deshalb gibt es Psychotherapie. Eine regulierte Profession, mit ausgebildeten Fachleuten, mit Qualitätskontrolle, mit Beschwerdemöglichkeiten. Nicht perfekt, nicht überall verfügbar, oft überlastet – aber zumindest mit dem Anspruch, Schaden zu vermeiden. Das ist mehr, als die Coaching-Industrie bieten kann.
Marie Sommer (Life-Coachin): Die Psychotherapie, auf die man Monate wartet? Die einen abweist, wenn man „nicht krank genug“ ist? Die einen jahrelang über die Kindheit reden lässt, ohne dass sich etwas ändert?
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Frau Sommer, ich bin Psychotherapeut. Ich höre, was Sie sagen, und ich verstehe die Frustration. Das System hat Probleme, echte Probleme. Aber was Sie beschreiben – die jahrelange Therapie, in der nichts passiert – das ist ein Zerrbild. Oder vielleicht war es eine schlechte Therapie. Die gibt es auch. Aber die Antwort auf schlechte Therapie ist nicht keine Therapie. Die Antwort ist bessere Therapie.
/same/ Und ich muss etwas sagen, das mir schon länger auf der Zunge liegt. Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie selbst eine „dunkle Nacht der Seele“ durchgemacht haben. Einen Burnout. Depression. Sie haben gesagt, Therapie habe Ihnen nicht geholfen. Aber – und ich sage das mit Respekt – vielleicht sind Sie nicht so geheilt, wie Sie denken.
/note/ Marie Sommer erstarrt.
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Ich sehe jemanden, der eine schwere Zeit durchgemacht hat und dann angefangen hat, anderen zu helfen – vielleicht bevor sie selbst wirklich stabil war. Ich sehe jemanden, der in der Helferrolle etwas findet, das sie selbst braucht – Bestätigung, Bedeutung, das Gefühl, gebraucht zu werden. Das ist nicht ungewöhnlich. Viele Menschen gehen in helfende Berufe aus genau diesen Gründen. Aber normalerweise lernt man in der Ausbildung, das zu reflektieren. Man lernt, die eigenen Bedürfnisse von denen der Klienten zu unterscheiden. Man lernt, sich nicht zu verstricken.
/same/ Ich frage mich, Frau Sommer: Wer hält Sie? Wenn Sie abends nach Hause kommen, nachdem Sie den ganzen Tag die Geschichten traumatisierter Frauen gehört haben – wer fängt Sie auf? Wer schaut auf Ihre blinden Flecken? Wer sagt Ihnen, wenn Sie zu weit gehen?
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich habe ein gutes Netzwerk. Ich habe meine Mentorin. Ich habe –
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Ein Netzwerk aus Menschen, die dasselbe tun wie Sie. Eine Mentorin, die wahrscheinlich dasselbe glaubt wie Sie. Das ist keine Supervision. Das ist eine Echokammer.
Marie Sommer (Life-Coachin): Sie psychologisieren mich. Das ist billig.
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Nein. Ich sage Ihnen, was ich sehe. Jemand, der anderen Reflexion predigt und selbst nicht reflektiert. Jemand, der von Heilung spricht und selbst möglicherweise noch mitten im Prozess ist. Jemand, der – ich sage es direkt – vielleicht eine Therapeutin braucht, nicht Klienten.
/note/ Lange Stille. Maries Gesicht ist verschlossen.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich glaube, wir sind hier fertig.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Frau Sommer –
Marie Sommer (Life-Coachin): Nein. Ich habe zugehört. Stundenlang. Ich habe mich hinterfragen lassen, beleidigen lassen, analysieren lassen. Aber das reicht jetzt. Sie haben alle ihre Meinung. Ich habe meine. Ich weiß, was ich tue. Ich weiß, wem ich helfe. Und ich werde nicht hier sitzen und mir von Menschen, die mich nicht kennen, erklären lassen, dass ich ein Problem bin.
/same/ Lisa – es tut mir leid, dass deine Erfahrung so war. Ehrlich. Aber deine Erfahrung ist nicht die Wahrheit. Sie ist deine Wahrheit. Und meine Wahrheit ist eine andere. Und die Wahrheit von Stefanie ist wieder eine andere. Vielleicht gibt es keine objektive Wahrheit hier. Vielleicht gibt es nur verschiedene Perspektiven. Und ich weigere mich, meine als falsch abzustempeln, nur weil sie nicht in eure Schubladen passt.
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Marie, das ist genau das, was du im Programm auch gemacht hast. Wenn jemand kritisiert, reframst du. Wenn jemand Fakten bringt, machst du daraus „Perspektiven“. Wenn jemand sagt „Das hat mir geschadet“, sagst du „Das ist deine Wahrheit“. Aber manche Dinge sind nicht Perspektive. Caro hat sich geritzt. Saskia hat dissoziiert. Das sind keine Interpretationsfragen. Das ist passiert.
Marie Sommer (Life-Coachin): Und ich habe gesagt, dass mir das leidtut! Was willst du noch? Soll ich auf die Knie gehen? Soll ich mein Programm schließen? Soll ich verschwinden?
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Ich will, dass du verstehst. Dass du wirklich verstehst, nicht nur so tust. Ich will, dass du aufhörst, mit Dingen zu arbeiten, für die du nicht ausgebildet bist. Ich will, dass du aufhörst, Zweifel als Ego abzutun. Ich will, dass du lernst, „Ich weiß nicht“ zu sagen – und es auch zu meinen. Nicht als rhetorische Figur, sondern als echte Demut.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich habe Demut. Ich habe mehr Demut als ihr alle hier zusammen. Ich sitze jeden Tag mit Frauen, die leiden, und ich versuche, ihnen zu helfen. Was tut ihr? Ihr analysiert. Ihr kritisiert. Ihr schreibt Bücher und Artikel und macht Podiumsdiskussionen. Aber wer ist da, wenn jemand nachts nicht schlafen kann? Wer ist da, wenn jemand nicht weiß, wie es weitergehen soll? Ihr nicht. Ich.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Frau Sommer, das ist ein rhetorischer Trick, und ich werde ihn nicht durchgehen lassen. Kritik an Ihren Methoden ist nicht gleichbedeutend mit Gleichgültigkeit gegenüber leidenden Menschen. Wir können uns gleichzeitig um Menschen sorgen und die Frage stellen, ob das, was Sie tun, ihnen hilft oder schadet. Diese beiden Dinge schließen sich nicht aus.
/same/ Und ich muss noch etwas sagen: „Da sein“ reicht nicht. Präsenz ist wichtig, aber Präsenz ohne Kompetenz kann schaden. Ein Chirurg, der mit dem Skalpell wedelt, „ist auch da“ für seinen Patienten. Die Frage ist, ob er weiß, was er tut.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich bin kein Chirurg. Ich mache keine Operationen.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Sie arbeiten mit der Psyche von Menschen. Mit ihren Wunden, ihren Traumata, ihren tiefsten Verletzlichkeiten. Das ist mindestens so heikel wie eine Operation. Vielleicht heikler, weil die Schäden nicht auf dem Röntgenbild sichtbar sind.
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Ich möchte zum Schluss noch etwas Praktisches sagen. Für alle, die zuhören und sich vielleicht in einer ähnlichen Situation befinden wie Lisa damals.
/same/ Wenn Sie in einem hochpreisigen Coaching-Programm sind und sich unwohl fühlen – Sie haben Rechte. Das Fernunterrichtsschutzgesetz schützt Sie. Wenn das Programm keine ZFU-Zulassung hat, ist der Vertrag möglicherweise nichtig. Sie können Ihr Geld zurückfordern. Die Verbraucherzentralen helfen dabei.
/same/ Und wenn Sie überlegen, ein solches Programm zu buchen: Fragen Sie nach der Qualifikation. Fragen Sie nach der ZFU-Zulassung. Fragen Sie, was passiert, wenn es Ihnen schlechter geht. Nehmen Sie sich Bedenkzeit – echte Bedenkzeit, nicht „Ich halte den Platz bis morgen Mittag“. Wenn jemand Druck macht, ist das ein Warnsignal. Wenn jemand sagt, Ihre Zweifel seien Ihr Ego – ist das ein Warnsignal. Wenn jemand verspricht, Ihr Leben zu transformieren – ist das ein Warnsignal.
/same/ Hilfe, die diesen Namen verdient, greift nicht nach Ihrem Geld. Sie greift nach Ihrer Autonomie. Und sie stärkt diese Autonomie, anstatt sie zu untergraben.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Ich fürchte, unsere Zeit ist fast um. Ich möchte jedem Podiumsteilnehmer die Möglichkeit geben, einen letzten Satz zu sagen. Frau Berger?
Lisa Berger (ehemalige Teilnehmerin): Mein letzter Satz ist nicht für Marie. Er ist für alle Lisas da draußen, die gerade auf dem Sofa sitzen und scrollen und sich fragen, ob das alles ist. Es ist nicht alles. Aber die Antwort ist nicht im nächsten Reel. Sie ist nicht im nächsten Webinar. Sie ist vielleicht in einer Therapie, vielleicht in einer Gemeinschaft, vielleicht in einer Veränderung, die Sie noch nicht sehen können. Aber nehmen Sie sich Zeit. Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen. Ihre Zweifel sind kein Defekt – sie sind Ihr Verstand, der seine Arbeit tut.
Stefanie Kern (aktuelle Teilnehmerin): Und ich sage: Hört nicht nur auf die Kritiker. Macht eure eigenen Erfahrungen. Nicht alles, was teuer ist, ist schlecht. Nicht alles, was professionell ist, ist gut. Ich habe in Soul Shift mehr über mich gelernt als in Jahren von Selbsthilfe. Das ist meine Wahrheit. Und sie zählt auch.
Marie Sommer (Life-Coachin): Ich sage nichts mehr. Ich habe genug gesagt. Ihr habt entschieden, was ihr über mich denkt. Ich werde weitermachen. Nicht weil ich nicht zuhöre, sondern weil ich weiß, dass das, was ich tue, Frauen hilft. Und keine Podiumsdiskussion der Welt wird das ändern.
Dr. Katharina Hofer (systemische Beraterin, Supervisorin): Ich sage: Coaching kann wertvoll sein. Aber es braucht Grenzen, Ausbildung, Supervision. Und vor allem: Demut. Die Demut zu wissen, was man kann – und was nicht.
Dr. Martin Schreiber (Psychotherapeut und Business-Coach): Ich sage: Gute Absichten reichen nicht. Strukturen schützen. Regulierung schützt. Und wer mit der Psyche von Menschen arbeitet, trägt Verantwortung – ob er sich Therapeut nennt oder nicht.
Thomas Brenner (Jurist, Verbraucherzentrale): Ich sage: Informieren Sie sich über Ihre Rechte. Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen. Und wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein – ist es das wahrscheinlich.
Prof. Dr. Helena Voss (Philosophin, kritische Theorie): Ich sage: Das Unbehagen, das so viele Menschen empfinden – diese Erschöpfung, diese Leere, diese Frage „Ist das alles?“ – das ist real. Aber die Antwort ist nicht, sich selbst zu optimieren. Die Antwort ist, zu fragen, warum unsere Welt so viele Menschen erschöpft. Und dann diese Welt zu verändern.
Dr. Nora Leitner (Moderatorin): Und ich sage: Diese Diskussion wird hier nicht enden. Sie geht weiter – in Redaktionen, in Gerichtssälen, in Therapiezimmern, in WhatsApp-Gruppen. Ich danke allen Teilnehmenden für ihre Offenheit und ihre Leidenschaft. Dem Publikum danke ich für die Aufmerksamkeit.
/same/ Und wenn Sie nach Hause gehen und das hier sacken lassen: Fragen Sie sich nicht nur, wer recht hat. Fragen Sie sich, in welcher Struktur Ihr eigener Wunsch nach Halt organisiert wird. Wer daran verdient. Und ob die Hilfe, die Ihnen angeboten wird, Ihre Autonomie stärkt – oder untergräbt.
/same/ Hilfe ohne Verantwortung ist keine Hilfe. Sie ist ein Angebot. Und jedes Angebot, das Ihre Autonomie angreift, verdient Ihre Bedenkzeit.
/note/ Die Podiumsteilnehmer erheben sich. Einige schütteln sich die Hände, andere nicht. Marie Sommer verlässt die Bühne, ohne sich umzudrehen. Stefanie Kern folgt ihr mit schnellen Schritten. Lisa Berger bleibt noch einen Moment sitzen, schaut in den Saal, wo das Publikum langsam aufbricht. Dann steht auch sie auf und geht. Allein. Aber aufrecht.
/end/
Anhang
Anhang A1: Methodischer Hinweis – Deep‑Research‑Dossiers als Forschungsapparat und empirische Belegbasis
A1.1 Warum Deep‑Research‑Dossiers in einem Essay überhaupt zulässig sind
Dieser Essay ist weder eine reine Literaturübersicht noch eine klassische empirische Studie im Sinn eines standardisierten Designs mit Stichprobenplan, Messinstrumenten und inferenzstatistischen Schlussfolgerungen. Er ist ein wissenschaftlich fundierter, essayistischer Text, der zwei Evidenzschichten bewusst miteinander verschränkt: Erstens eine Literatur- und Dokumentenschicht (Fachartikel, Bücher, Verbandsdokumente, rechtliche Texte und Rechtsprechung). Zweitens eine materialgestützte Feldanalyse der öffentlichen Oberfläche jener Coaching‑Ökosysteme, die im Essay als „Therapieschattenmarkt“ kritisiert werden: Selbstdarstellungen, Angebotslogiken, Funnel‑Architekturen, Sprachmuster und die soziale Grammatik von Bindung und Kritikabwehr.
Die Deep‑Research‑Dossiers sind dabei kein Ersatz für wissenschaftliche Primärquellen; sie fungieren als Arbeitsapparat, der (a) Literatur systematisch bündelt und in eine argumentationsfähige Ordnung bringt, (b) Begriffe definiert und Abgrenzungen transparent macht, (c) wiederkehrende Muster aus öffentlich zugänglichem Material typologisiert und (d) exemplarische Belegstellen und Fallvignetten bereitstellt, mit denen sich abstrakte Thesen im Text anschaulich und nachvollziehbar machen lassen. In einem Essay ist ein solcher Apparat zulässig, sofern die Geltungsansprüche sauber markiert werden: nicht „repräsentativ“, sondern musterorientiert; nicht „abschließend“, sondern triangulierend; nicht „forensisch über Einzelpersonen“, sondern strukturanalytisch.
A1.2 Was in den Dossiers tatsächlich gemacht wurde
Die Dossiers wurden als thematisch eigenständige Recherche‑ und Syntheseeinheiten konzipiert. Jedes Dossier folgt einer wiederkehrenden Arbeitslogik: Zunächst wird die zentrale Fragestellung präzisiert und begrifflich gerahmt. Darauf folgt eine strukturierte Literaturarbeit (Schlüsseltexte, Reviews/Übersichten, theoretische Grundlinien), die nicht nur sammelt, sondern die Frage beantwortet: Was gilt als gut belegt, was ist umstritten, wo sind Lücken? Anschließend wird – dort, wo es für den Essay zentral ist – eine Feldschicht aufgebaut: öffentlich zugängliche Artefakte aus Online‑Kontexten werden nicht als „Beweis“ im statistischen Sinn, sondern als Material für eine qualitative Musteranalyse ausgewertet. Diese Feldschicht liefert typische Sequenzen (z. B. DM→Call→Close), wiederkehrende Formeln (z. B. Zweifel als „Muster“), und Konstellationen, in denen sich Therapie‑Semantik und Verkaufslogik verschränken.
Wichtig ist dabei: Die Dossiers behaupten nicht, „den Markt“ vollständig zu erfassen. Sie zeigen, dass bestimmte Mechaniken existieren, wie sie typischerweise aussehen, und warum sie strukturell plausibel sind – gestützt durch Literatur, dokumentierte Muster und exemplarische Belege.
A1.3 Status der Einzelfälle und warum sie empirisch relevant sind
Die Dossiers enthalten neben theoretischen Synthesen ausdrücklich auch Belegstellen und Fallvignetten: kurze Ausschnitte oder eng paraphrasierte Passagen aus öffentlich zugänglichen Materialien (z. B. Call‑to‑Action‑Formeln, Objection‑Handling‑Sätze, „not therapy“-Disclaimers im Kontrast zur Heilungsrhetorik, Immunisierungsformeln wie „Hater/Neid/low vibe“). Diese Einzelfälle dienen nicht der moralischen Bewertung einzelner Anbieter, sondern der Illustration einer Funktionslogik: Sie machen sichtbar, wo und wie sich Struktur in Sprache und Design materialisiert.
In einem Feld, das wesentlich über Persona, Ton, Stil, Sequenzen und Konversionsarchitektur arbeitet, sind solche Belegstellen nicht dekorativ, sondern empirisch aufschlussreich. Sie sind qualitative Evidenz: nicht „Beweis“ im Sinn der Repräsentativität, aber Anschauungsbeleg dafür, dass und in welcher Gestalt die beschriebenen Muster auftreten.
A1.4 Umfang und Themenarchitektur der Dossiers
Insgesamt wurden 13 Dossiers erstellt. Zehn Dossiers sind thematisch-analytisch ausgerichtet (u. a. Nebenwirkungen, Grenzziehung Coaching/Therapie, Professions- und Vertrauenslogik, Incentives/Interessenkonflikte, Verbraucherpsychologie, sprachliche Manipulation, epistemische Arroganz/Overconfidence, „Bullshit“/Truth‑Indifference, Rechtsrahmen FernUSG/ZFU/BGH). Drei Dossiers sind feldnah und phänomenologisch (Selbstinszenierung in sozialen Medien; Funnel‑Forensik und Angebotsarchitektur; Immunisierung/Kritikabwehr).
Diese Architektur dient einer Triangulation: Literatur liefert Begriffe und Wirkmechanismen; die Feldschicht zeigt deren konkrete Gestalt in der Branche; der Rechtsstrang setzt einen gesellschaftlichen Realitätsschnitt, der das Phänomen strukturell rahmt.
A1.5 Validitätslogik: Was beansprucht wird – und was nicht
Der Essay beansprucht auf Basis dieser Dossiers drei Dinge.
Erstens begriffliche Validität: Die verwendeten Konzepte (z. B. Boundary Work, Dark Patterns, parasoziale Intimität, Overconfidence) werden nicht frei erfunden, sondern aus belastbaren Diskursen abgeleitet und auf den Gegenstand bezogen.
Zweitens strukturelle Plausibilität: Die zentrale These – dass der Therapieschattenmarkt durch die Kombination aus therapienaher Semantik, Vertriebsarchitektur und Deregulierung charakterisiert ist – wird nicht nur behauptet, sondern über mehrere Evidenzschichten gestützt.
Drittens empirische Anschaulichkeit: Die Mechaniken werden nicht nur erklärt, sondern anhand dokumentierter Muster und Vignetten greifbar gemacht.
Der Essay beansprucht ausdrücklich nicht, repräsentative Aussagen über „den gesamten Coachingmarkt“ zu treffen; kausale Wirkbeweise einzelner Funnel‑Elemente auf individuelle Entscheidungen zu liefern; oder forensische Einzelfallurteile über konkrete Anbieter zu fällen.
A1.6 Umgang mit Online‑Material: Dokumentationsstandard und Grenzen
Das verwendete Online‑Material stammt aus öffentlich zugänglichen Quellen (Websites, öffentlich erreichbare Social‑Media‑Inhalte, öffentlich sichtbare Sales‑Artefakte wie Landingpages, FAQs, Call‑to‑Action‑Formeln sowie öffentlich diskutierte oder zitierte Skriptfragmente). Dieses Material ist volatil: Inhalte können gelöscht, verändert oder nachträglich „bereinigt“ werden. Der Essay arbeitet deshalb überwiegend typologisierend und nutzt konkrete Online‑Belege selektiv dort, wo sie argumentativ nötig sind.
Wo der Essay wörtliche Zitate oder eng geführte Paraphrasen aus Online‑Material verwendet, gilt der Grundsatz: Es wird so zitiert, dass der Nachweis grundsätzlich möglich ist (Quelle, Datum, Kontext). Für eine Veröffentlichung empfiehlt sich zudem, solche Belege vorab über stabile Nachweisformen zu sichern (z. B. Permalinks, Archivlink, PDF‑Export), ohne daraus einen Vollständigkeitsanspruch abzuleiten.
A1.7 Ethische Leitlinien der Darstellung
Die Dossiers und der Essay folgen einer klaren Darstellungsethik: Analyse von Strukturen statt Pranger einzelner Personen; Anonymisierung und Typisierung, wo Nennung nicht notwendig ist; Konzentration auf öffentliche Kommunikation, keine Intervention im Feld; Anerkennung seriöser Coaching‑ und Beratungsformate – bei gleichzeitiger präziser Kritik jener entgrenzten, therapienahen Vertriebsform, die als „Therapieschattenmarkt“ bezeichnet wird.
Anhang A2: Dossiers als Arbeitsmaterial
Die folgenden Deep‑Research‑Dossiers bildeten den Recherche‑ und Syntheseapparat dieses Essays (interne Arbeitsberichte):
/appendix#anhang/ Zur Entstehung dieses Textes: Eine Reflexion im Lichte des Leitfadens zur KI-Ko-Produktion | Entstehungsprozess & KI-Ko-Produktion +
/lead/ In diesem Anhang lege ich den Entstehungsprozess des vorliegenden Textes offen und ordne die KI-Nutzung entlang der vier Phasen und neun Schritte des Leitfadens kritisch ein.
/section#phase-1/ Phase I – Vorbereitung | Raum, Intention & Material +
Schritt 1: Die Intention formulieren – Das Primat des menschlichen Begehrens
Ich begann mit einer klaren publizistischen Intention: eine Fundamentalkritik des „Therapieschattenmarkts“, nicht eine pauschale Abrechnung gegen Coaching. Ich habe Titel, Gliederung und Ton wiederholt nachgeschärft, bis der Kern präzise getroffen war und zugleich seriöse Coachingformen als Kontrast sichtbar blieben.
Schritt 2: Die Materialsammlung – Die bewusste Konfrontation mit dem Realen
Ich brachte zwei Evidenzschichten zusammen: zitierfähige Literatur (peer-reviewed, Standards, Rechtstexte) und feldnahes Material aus meinen Deep-Research-Dossiers. Dabei galt von Anfang an meine Regel: Ich zitiere nicht die Dossiers als solche, sondern nach deren Studium die darin gebündelten Quellen; Feldmuster werden als aggregiert kenntlich gemacht.
Schritt 3: Die strategische Rollendefinition – Den Pakt mit dem Automaten bewusst gestalten
Ich habe die KI ausdrücklich als Werkzeug für Entwurf, Strukturierung, stilistische Varianten und Verdichtung eingesetzt – nicht als Autorinstanz, die „fertige Wahrheit“ liefern soll. Ich habe zugleich klare Grenzen gesetzt. Damit blieb Regie über These, Ethos und Ton bei mir, während die KI Material lieferte, das ich selektiv umbaute.
/section#phase-2/ Phase II – Interaktion | Dialektisches Prompten & Montage +
Schritt 4: Das dialektische Prompten – Die bewusste Erzeugung von Negativität und Komplexität
Ich arbeitete in einer iterativen Schleife: KI-Entwurf, dann meine Gegenrede, bis die Konzepte aus dem Argument heraus entwickelt waren. Wo die KI zu glatt, zu pauschal oder zu moralisch wurde, drängte ich auf Differenzierung.
Schritt 5: Die Montage – Die Dekonstruktion der maschinellen Oberfläche
Ich nutzte die KI wie einen Steinbruch und montierte daraus ein polyphones Argument: Professionssoziologie, Sozialpsychologie der Einflussnahme, Medienlogik, Psychoanalyse, Rechtsrahmen. Montage zeigte sich praktisch in Umstellungen und Neuschreiben einzelner Passagen
/section#phase-3/ Phase III – Autorisierung | Inkubation & „Menschlichung“ +
Schritt 6: Die Inkubationsphase – Die Wiederherstellung der kritischen Distanz durch den Rhythmus der Verlangsamung
Im Chat entstand Inkubation immer dort, wo ich bewusst stoppte, um Belegbarkeit und Behauptungsstärke zu korrigieren. Für die Publikation liegt die eigentliche Inkubation deshalb nachgelagert: ruhen lassen, laut lesen, gegen Literatur und Primärquellen prüfen, bevor es öffentlich wird.
Schritt 7: Die Arbeit der „Menschlichung“ – Die Besetzung des Textes mit subjektiver Wahrheit
Ich habe die „Menschlichung“ aktiv erzwungen, indem ich selbst schrieb und immer wieder Korrekturen verlangte. Wo die KI zur Übertreibung oder zur unklaren Empirie tendierte, holte ich die Verantwortung zurück.
/section#phase-4/ Phase IV – Publikation | Transparenz & Zweckbestimmung +
Schritt 8: Die radikale Transparenz – Ein Akt der Diskurs-Ethik und der De-Mystifizierung
Ich lege mit diesem Anhang offen, dass die KI als Entwurfs- und Strukturhilfe fungierte, während Autorisierung und Verantwortung bei mir liegen.
Schritt 9: Die Zweckbestimmung – Die Etablierung des „Autonomiefonds“
Ich will den Zeitgewinn durch KI nicht in mehr Output investieren, sondern in mehr Publikationssicherheit: Quellen- und Rechtscheck, Belegarchivierung, redaktionelle Glättung, externe kritische Lektüre. Das entspricht der Ethik des Essays, der nicht nur kritisiert, sondern Urteilskraft stärken soll. Praktisch heißt das: Ich nutze Beschleunigung, um Verantwortung zu erhöhen – nicht um sie zu delegieren.
/end/


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